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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Kolonien. Auswanderung.

Auf solche Thorheiten verfielen deutsche Diplomaten, weil sie ohne
Flotte überseeische Politik treiben wollten; die Warnungen des Prinzen
Adalbert bestätigten sich nur zu sehr. Auch der Hamburger Sieveking
konnte gegen Englands Widerspruch nichts ausrichten, als er die neusee-
ländischen Chatham-Inseln für Deutschland zu erwerben suchte. Zudem
hatte sich das öffentliche Urtheil über die Bedeutung kolonialen Besitzes
noch keineswegs geklärt. Sehr tüchtige deutsche Männer hielten das Zeit-
alter der Kolonialpolitik für überwunden und abgethan, derweil England
fortfuhr, Jahr für Jahr neue zukunftsreiche Pflanzungsländer in allen
Welttheilen zu erwerben; sie machten aus der Noth eine Tugend und priesen
Deutschland glücklich wegen der binnenländischen Beschränktheit seines po-
litischen Lebens. Selbst der beredte Vertheidiger der nationalen Handels-
politik Heinrich v. Arnim behauptete: der Zollverein könne eben deswegen
günstige Handelsverträge schließen, weil er glücklicherweise keine Kolonien
besitze. Seit dem Abfall der Union und des spanischen Amerikas galt
es im Lager der radicalen Freihändler für ausgemacht, daß jede zur Reife
gelangte Kolonie fich unfehlbar von dem Mutterlande losreißen müsse.
Man bemerkte nicht, daß jene beiden großen Revolutionen durch ganz eigen-
artige historische Verhältnisse bedingt waren und sich nicht nothwendig
überall wiederholen mußten; man bemerkte noch weniger, wie Großes Eng-
land und Spanien, trotz des politischen Abfalls ihrer Kolonien, durch die
weite Verbreitung ihrer Nationalität, ihrer Sprache und Sitte in der Welt
gewonnen hatten. Der Erdkreis war jetzt aufgedeckt, eine neue barbarische
Völkerwanderung nicht mehr zu befürchten; die Massenaristokratie der Euro-
päer begann sich in die Herrschaft der überseeischen Welt zu theilen, und
an diesem ungeheueren Kampfe, welcher die zweite Hälfte des Jahrhunderts
füllte, nahmen die Deutschen nur einen sehr bescheidenen Antheil.

Die Auswanderung, die ihren Weg noch immer fast ausschließlich nach
Nordamerika nahm, verdreifachte sich in kurzer Zeit, sie wuchs in den Jahren
1840--47 von 34,000 auf 110,000 Köpfe. Auch Preußen, das sich bisher
durch seine freie sociale Gesetzgebung leidlich geschützt hatte, blieb von der
Bewegung nicht mehr unberührt; im Jahre 1846 wanderten mehr denn
16,000 Preußen aus, die Mehrzahl aus den winzigen Landgütern des
dichtbevölkerten Regierungsbezirks Trier. Da die Demagogenverfolgung
vorläufig aufgehört hatte, so befanden sich jetzt unter den Ausziehenden nur
wenige gebildete Männer; alle Anderen überragte der Thüringer J. A. Röb-
ling, ein genialer Ingenieur, der durch seine Drahtseilbahnen und Hänge-
brücken bekannt, nachher durch die Ueberbrückung des Niagara und des
East River weltberühmt wurde. Die kleinen Leute aus den süddeutschen
Dörfern, die den Stamm der Auswanderer bildeten, mußten schon auf
der Ueberfahrt viel leiden, weil die elenden Segelschiffe in den Hanse-
städten keiner strengen Aufsicht unterlagen. Drüben verschwanden sie
meist sehr schnell in dem übermächtigen fremden Volksthum; die Turn-

Kolonien. Auswanderung.

Auf ſolche Thorheiten verfielen deutſche Diplomaten, weil ſie ohne
Flotte überſeeiſche Politik treiben wollten; die Warnungen des Prinzen
Adalbert beſtätigten ſich nur zu ſehr. Auch der Hamburger Sieveking
konnte gegen Englands Widerſpruch nichts ausrichten, als er die neuſee-
ländiſchen Chatham-Inſeln für Deutſchland zu erwerben ſuchte. Zudem
hatte ſich das öffentliche Urtheil über die Bedeutung kolonialen Beſitzes
noch keineswegs geklärt. Sehr tüchtige deutſche Männer hielten das Zeit-
alter der Kolonialpolitik für überwunden und abgethan, derweil England
fortfuhr, Jahr für Jahr neue zukunftsreiche Pflanzungsländer in allen
Welttheilen zu erwerben; ſie machten aus der Noth eine Tugend und prieſen
Deutſchland glücklich wegen der binnenländiſchen Beſchränktheit ſeines po-
litiſchen Lebens. Selbſt der beredte Vertheidiger der nationalen Handels-
politik Heinrich v. Arnim behauptete: der Zollverein könne eben deswegen
günſtige Handelsverträge ſchließen, weil er glücklicherweiſe keine Kolonien
beſitze. Seit dem Abfall der Union und des ſpaniſchen Amerikas galt
es im Lager der radicalen Freihändler für ausgemacht, daß jede zur Reife
gelangte Kolonie fich unfehlbar von dem Mutterlande losreißen müſſe.
Man bemerkte nicht, daß jene beiden großen Revolutionen durch ganz eigen-
artige hiſtoriſche Verhältniſſe bedingt waren und ſich nicht nothwendig
überall wiederholen mußten; man bemerkte noch weniger, wie Großes Eng-
land und Spanien, trotz des politiſchen Abfalls ihrer Kolonien, durch die
weite Verbreitung ihrer Nationalität, ihrer Sprache und Sitte in der Welt
gewonnen hatten. Der Erdkreis war jetzt aufgedeckt, eine neue barbariſche
Völkerwanderung nicht mehr zu befürchten; die Maſſenariſtokratie der Euro-
päer begann ſich in die Herrſchaft der überſeeiſchen Welt zu theilen, und
an dieſem ungeheueren Kampfe, welcher die zweite Hälfte des Jahrhunderts
füllte, nahmen die Deutſchen nur einen ſehr beſcheidenen Antheil.

Die Auswanderung, die ihren Weg noch immer faſt ausſchließlich nach
Nordamerika nahm, verdreifachte ſich in kurzer Zeit, ſie wuchs in den Jahren
1840—47 von 34,000 auf 110,000 Köpfe. Auch Preußen, das ſich bisher
durch ſeine freie ſociale Geſetzgebung leidlich geſchützt hatte, blieb von der
Bewegung nicht mehr unberührt; im Jahre 1846 wanderten mehr denn
16,000 Preußen aus, die Mehrzahl aus den winzigen Landgütern des
dichtbevölkerten Regierungsbezirks Trier. Da die Demagogenverfolgung
vorläufig aufgehört hatte, ſo befanden ſich jetzt unter den Ausziehenden nur
wenige gebildete Männer; alle Anderen überragte der Thüringer J. A. Röb-
ling, ein genialer Ingenieur, der durch ſeine Drahtſeilbahnen und Hänge-
brücken bekannt, nachher durch die Ueberbrückung des Niagara und des
Eaſt River weltberühmt wurde. Die kleinen Leute aus den ſüddeutſchen
Dörfern, die den Stamm der Auswanderer bildeten, mußten ſchon auf
der Ueberfahrt viel leiden, weil die elenden Segelſchiffe in den Hanſe-
ſtädten keiner ſtrengen Aufſicht unterlagen. Drüben verſchwanden ſie
meiſt ſehr ſchnell in dem übermächtigen fremden Volksthum; die Turn-

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[491/0505] Kolonien. Auswanderung. Auf ſolche Thorheiten verfielen deutſche Diplomaten, weil ſie ohne Flotte überſeeiſche Politik treiben wollten; die Warnungen des Prinzen Adalbert beſtätigten ſich nur zu ſehr. Auch der Hamburger Sieveking konnte gegen Englands Widerſpruch nichts ausrichten, als er die neuſee- ländiſchen Chatham-Inſeln für Deutſchland zu erwerben ſuchte. Zudem hatte ſich das öffentliche Urtheil über die Bedeutung kolonialen Beſitzes noch keineswegs geklärt. Sehr tüchtige deutſche Männer hielten das Zeit- alter der Kolonialpolitik für überwunden und abgethan, derweil England fortfuhr, Jahr für Jahr neue zukunftsreiche Pflanzungsländer in allen Welttheilen zu erwerben; ſie machten aus der Noth eine Tugend und prieſen Deutſchland glücklich wegen der binnenländiſchen Beſchränktheit ſeines po- litiſchen Lebens. Selbſt der beredte Vertheidiger der nationalen Handels- politik Heinrich v. Arnim behauptete: der Zollverein könne eben deswegen günſtige Handelsverträge ſchließen, weil er glücklicherweiſe keine Kolonien beſitze. Seit dem Abfall der Union und des ſpaniſchen Amerikas galt es im Lager der radicalen Freihändler für ausgemacht, daß jede zur Reife gelangte Kolonie fich unfehlbar von dem Mutterlande losreißen müſſe. Man bemerkte nicht, daß jene beiden großen Revolutionen durch ganz eigen- artige hiſtoriſche Verhältniſſe bedingt waren und ſich nicht nothwendig überall wiederholen mußten; man bemerkte noch weniger, wie Großes Eng- land und Spanien, trotz des politiſchen Abfalls ihrer Kolonien, durch die weite Verbreitung ihrer Nationalität, ihrer Sprache und Sitte in der Welt gewonnen hatten. Der Erdkreis war jetzt aufgedeckt, eine neue barbariſche Völkerwanderung nicht mehr zu befürchten; die Maſſenariſtokratie der Euro- päer begann ſich in die Herrſchaft der überſeeiſchen Welt zu theilen, und an dieſem ungeheueren Kampfe, welcher die zweite Hälfte des Jahrhunderts füllte, nahmen die Deutſchen nur einen ſehr beſcheidenen Antheil. Die Auswanderung, die ihren Weg noch immer faſt ausſchließlich nach Nordamerika nahm, verdreifachte ſich in kurzer Zeit, ſie wuchs in den Jahren 1840—47 von 34,000 auf 110,000 Köpfe. Auch Preußen, das ſich bisher durch ſeine freie ſociale Geſetzgebung leidlich geſchützt hatte, blieb von der Bewegung nicht mehr unberührt; im Jahre 1846 wanderten mehr denn 16,000 Preußen aus, die Mehrzahl aus den winzigen Landgütern des dichtbevölkerten Regierungsbezirks Trier. Da die Demagogenverfolgung vorläufig aufgehört hatte, ſo befanden ſich jetzt unter den Ausziehenden nur wenige gebildete Männer; alle Anderen überragte der Thüringer J. A. Röb- ling, ein genialer Ingenieur, der durch ſeine Drahtſeilbahnen und Hänge- brücken bekannt, nachher durch die Ueberbrückung des Niagara und des Eaſt River weltberühmt wurde. Die kleinen Leute aus den ſüddeutſchen Dörfern, die den Stamm der Auswanderer bildeten, mußten ſchon auf der Ueberfahrt viel leiden, weil die elenden Segelſchiffe in den Hanſe- ſtädten keiner ſtrengen Aufſicht unterlagen. Drüben verſchwanden ſie meiſt ſehr ſchnell in dem übermächtigen fremden Volksthum; die Turn-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 491. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/505>, abgerufen am 22.11.2024.