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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthschaft.
selber einigermaßen behaupten konnte. Er begann, da der Grundbesitz
nicht mehr genug abwarf, an Eisenbahnen, Banken, industriellen Unter-
nehmungen aller Art theilzunehmen, und nicht lange, so betrieb der Sohn
des Herzogs von Argyll, ohne Aergerniß zu erregen, eine einträgliche
Weinhandlung. Die alten Ehrbegriffe und Vorurtheile des Standes zer-
stoben vor der Uebermacht des Geldes, derweil der deutsche Adel arm aber
ritterlich blieb. Kaufmännische Luft durchwehte das gesammte Leben der
Nation. Das unentbehrliche letzte Nothmittel gegen die Verwilderung
der Gesellschaft, das Duell kam außer Brauch und verschwand bald gänz-
lich; die Reitpeitsche verdrängte Degen und Pistole, und dieser Sieg der
Roheit ward als ein Triumph der Aufklärung gefeiert. Bei aristokratischen
Hochzeiten zählten die Zeitungen in einem genauen Conto sorgfältig auf,
wie viel jeder Hochzeitsgast an Geschenken oder baarem Gelde gespendet
hatte; selbst die Jugend betrieb ihren Sport als Geschäft und kämpfte
um werthvolle Preise, während die deutschen Studenten sich um der wirk-
lichen oder vermeintlichen Ehre willen ihre Gesichter zerfetzten. Die Kluft
zwischen den deutschen und den britischen Sitten erweiterte sich mehr und
mehr. Was die Puritaner von Shakespeare's fröhlichem altem England
noch übrig gelassen hatten, ging nunmehr völlig unter in der Prosa des
Geschäftslebens. Demgemäß wurde fortan auch die Haltung des Insel-
reichs in der Staatengesellschaft noch mehr als bisher durch die Berech-
nungen der Handelspolitik bestimmt.

Der Umschwung in England erfüllte die Freihändler aller Länder
mit Siegeszuversicht, ihre Lehren behaupteten während der nächsten zwei
Jahrzehnte fast überall in der gesitteten Welt die Oberhand. Alle die
neuen Erfindungen, deren das Jahrhundert sich rühmte, wirkten als völker-
verbindende Mächte; sie durch Zollschranken zu hemmen schien fast un-
vernünftig. Es begann eine lange Zeit wechselseitiger Handelserleichte-
rungen und sie förderte den Wohlstand. Nachher zeigte sich doch wieder,
wie viel mehr der innere Markt bedeutet als der Weltverkehr; die Völker
des Continents erfuhren, daß der freie Wettbewerb die Uebermacht des
Starken nicht ausgleicht, sondern erhöht, und die halbverschollenen Ideen
List's gewannen neues Ansehen. Zunächst folgte Nordamerika dem Bei-
spiel Englands und erniedrigte einen Theil seiner Zölle.

Deutschland hatte einst, als unsere Industrie noch in den Windeln lag,
aus den britischen Kornzöllen Vortheil gezogen, denn sie verhinderten uns
damals mit dem übermächtigen Inselreiche gefährliche Verträge zu schließen;
jetzt lasteten sie längst schon schwer auf dem deutschen Ackerbau und Getreide-
handel. Ihre Aufhebung wurde also überall in Norddeutschland freudig
begrüßt. Die Berliner Finanzpartei vernahm mit begreiflicher Genug-
thuung, daß England endlich nachholte, was Preußen schon vor achtundzwan-
zig Jahren gewagt hatte. Und wie liebenswerth erschien den Deutschen
Peel's bürgerlich ehrenfestes Wesen; grade seine stolze Selbständigkeit, die

V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
ſelber einigermaßen behaupten konnte. Er begann, da der Grundbeſitz
nicht mehr genug abwarf, an Eiſenbahnen, Banken, induſtriellen Unter-
nehmungen aller Art theilzunehmen, und nicht lange, ſo betrieb der Sohn
des Herzogs von Argyll, ohne Aergerniß zu erregen, eine einträgliche
Weinhandlung. Die alten Ehrbegriffe und Vorurtheile des Standes zer-
ſtoben vor der Uebermacht des Geldes, derweil der deutſche Adel arm aber
ritterlich blieb. Kaufmänniſche Luft durchwehte das geſammte Leben der
Nation. Das unentbehrliche letzte Nothmittel gegen die Verwilderung
der Geſellſchaft, das Duell kam außer Brauch und verſchwand bald gänz-
lich; die Reitpeitſche verdrängte Degen und Piſtole, und dieſer Sieg der
Roheit ward als ein Triumph der Aufklärung gefeiert. Bei ariſtokratiſchen
Hochzeiten zählten die Zeitungen in einem genauen Conto ſorgfältig auf,
wie viel jeder Hochzeitsgaſt an Geſchenken oder baarem Gelde geſpendet
hatte; ſelbſt die Jugend betrieb ihren Sport als Geſchäft und kämpfte
um werthvolle Preiſe, während die deutſchen Studenten ſich um der wirk-
lichen oder vermeintlichen Ehre willen ihre Geſichter zerfetzten. Die Kluft
zwiſchen den deutſchen und den britiſchen Sitten erweiterte ſich mehr und
mehr. Was die Puritaner von Shakeſpeare’s fröhlichem altem England
noch übrig gelaſſen hatten, ging nunmehr völlig unter in der Proſa des
Geſchäftslebens. Demgemäß wurde fortan auch die Haltung des Inſel-
reichs in der Staatengeſellſchaft noch mehr als bisher durch die Berech-
nungen der Handelspolitik beſtimmt.

Der Umſchwung in England erfüllte die Freihändler aller Länder
mit Siegeszuverſicht, ihre Lehren behaupteten während der nächſten zwei
Jahrzehnte faſt überall in der geſitteten Welt die Oberhand. Alle die
neuen Erfindungen, deren das Jahrhundert ſich rühmte, wirkten als völker-
verbindende Mächte; ſie durch Zollſchranken zu hemmen ſchien faſt un-
vernünftig. Es begann eine lange Zeit wechſelſeitiger Handelserleichte-
rungen und ſie förderte den Wohlſtand. Nachher zeigte ſich doch wieder,
wie viel mehr der innere Markt bedeutet als der Weltverkehr; die Völker
des Continents erfuhren, daß der freie Wettbewerb die Uebermacht des
Starken nicht ausgleicht, ſondern erhöht, und die halbverſchollenen Ideen
Liſt’s gewannen neues Anſehen. Zunächſt folgte Nordamerika dem Bei-
ſpiel Englands und erniedrigte einen Theil ſeiner Zölle.

Deutſchland hatte einſt, als unſere Induſtrie noch in den Windeln lag,
aus den britiſchen Kornzöllen Vortheil gezogen, denn ſie verhinderten uns
damals mit dem übermächtigen Inſelreiche gefährliche Verträge zu ſchließen;
jetzt laſteten ſie längſt ſchon ſchwer auf dem deutſchen Ackerbau und Getreide-
handel. Ihre Aufhebung wurde alſo überall in Norddeutſchland freudig
begrüßt. Die Berliner Finanzpartei vernahm mit begreiflicher Genug-
thuung, daß England endlich nachholte, was Preußen ſchon vor achtundzwan-
zig Jahren gewagt hatte. Und wie liebenswerth erſchien den Deutſchen
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[480/0494] V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft. ſelber einigermaßen behaupten konnte. Er begann, da der Grundbeſitz nicht mehr genug abwarf, an Eiſenbahnen, Banken, induſtriellen Unter- nehmungen aller Art theilzunehmen, und nicht lange, ſo betrieb der Sohn des Herzogs von Argyll, ohne Aergerniß zu erregen, eine einträgliche Weinhandlung. Die alten Ehrbegriffe und Vorurtheile des Standes zer- ſtoben vor der Uebermacht des Geldes, derweil der deutſche Adel arm aber ritterlich blieb. Kaufmänniſche Luft durchwehte das geſammte Leben der Nation. Das unentbehrliche letzte Nothmittel gegen die Verwilderung der Geſellſchaft, das Duell kam außer Brauch und verſchwand bald gänz- lich; die Reitpeitſche verdrängte Degen und Piſtole, und dieſer Sieg der Roheit ward als ein Triumph der Aufklärung gefeiert. Bei ariſtokratiſchen Hochzeiten zählten die Zeitungen in einem genauen Conto ſorgfältig auf, wie viel jeder Hochzeitsgaſt an Geſchenken oder baarem Gelde geſpendet hatte; ſelbſt die Jugend betrieb ihren Sport als Geſchäft und kämpfte um werthvolle Preiſe, während die deutſchen Studenten ſich um der wirk- lichen oder vermeintlichen Ehre willen ihre Geſichter zerfetzten. Die Kluft zwiſchen den deutſchen und den britiſchen Sitten erweiterte ſich mehr und mehr. Was die Puritaner von Shakeſpeare’s fröhlichem altem England noch übrig gelaſſen hatten, ging nunmehr völlig unter in der Proſa des Geſchäftslebens. Demgemäß wurde fortan auch die Haltung des Inſel- reichs in der Staatengeſellſchaft noch mehr als bisher durch die Berech- nungen der Handelspolitik beſtimmt. Der Umſchwung in England erfüllte die Freihändler aller Länder mit Siegeszuverſicht, ihre Lehren behaupteten während der nächſten zwei Jahrzehnte faſt überall in der geſitteten Welt die Oberhand. Alle die neuen Erfindungen, deren das Jahrhundert ſich rühmte, wirkten als völker- verbindende Mächte; ſie durch Zollſchranken zu hemmen ſchien faſt un- vernünftig. Es begann eine lange Zeit wechſelſeitiger Handelserleichte- rungen und ſie förderte den Wohlſtand. Nachher zeigte ſich doch wieder, wie viel mehr der innere Markt bedeutet als der Weltverkehr; die Völker des Continents erfuhren, daß der freie Wettbewerb die Uebermacht des Starken nicht ausgleicht, ſondern erhöht, und die halbverſchollenen Ideen Liſt’s gewannen neues Anſehen. Zunächſt folgte Nordamerika dem Bei- ſpiel Englands und erniedrigte einen Theil ſeiner Zölle. Deutſchland hatte einſt, als unſere Induſtrie noch in den Windeln lag, aus den britiſchen Kornzöllen Vortheil gezogen, denn ſie verhinderten uns damals mit dem übermächtigen Inſelreiche gefährliche Verträge zu ſchließen; jetzt laſteten ſie längſt ſchon ſchwer auf dem deutſchen Ackerbau und Getreide- handel. Ihre Aufhebung wurde alſo überall in Norddeutſchland freudig begrüßt. Die Berliner Finanzpartei vernahm mit begreiflicher Genug- thuung, daß England endlich nachholte, was Preußen ſchon vor achtundzwan- zig Jahren gewagt hatte. Und wie liebenswerth erſchien den Deutſchen Peel’s bürgerlich ehrenfeſtes Weſen; grade ſeine ſtolze Selbſtändigkeit, die

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 480. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/494>, abgerufen am 02.05.2024.