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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthschaft.
sorgsam zu prüfen, und sobald er einsah, daß sie dem Wohle des Landes
nicht mehr entsprachen, dann trat er stets mit hoher sittlicher Kühnheit
für die erkannte neue Wahrheit ein, unbekümmert um den Widerspruch
alter Freunde, unbekümmert um das engherzige Parteiherkommen, das sich
Ethics of party nannte. Selten hat ein Staatsmann seine Meinung
über große politische Fragen so oft verändert, ohne doch je sich selber un-
treu zu werden. Schon als junger Mann wagte Peel im Parlamente,
"der Autorität, der er immer gefolgt war", seinem eigenen Vater zu
widersprechen, die Wiederaufnahme der Baarzahlungen von der Bank
von England zu verlangen. Dann erkannte er, wie Wellington, die Noth-
wendigkeit der bisher von allen Torys bekämpften Emancipation der
Katholiken und vertheidigte diese Reform, die für alle demokratischen
Neuerungen der nächsten Jahrzehnte den Weg öffnete. Der Reformbill
selbst widersetzte er sich gleichwohl hartnäckig, bis zum Ende; als aber die
Entscheidung gefallen, die Mittelklasse in das Unterhaus eingezogen war,
da konnte er sich nicht mehr verhehlen, daß der Schwerpunkt des alten
aristokratischen Staatsbaues sich verschoben hatte. Jetzt als Minister ent-
schloß er sich, der unaufhaltsamen Freihandelsbewegung nachzugeben und
also die Politik der Reformbill weiterzuführen.

Die Mehrzahl seiner Toryfreunde versagte sich ihm. Im Bunde mit
den alten Gegnern, mit den Whigs und den Radicalen schritt er vorwärts,
umbraust von den jubelnden Zurufen der Mittelklassen, ein Staatsmann,
der die Zeit nicht mit schöpferischen Gedanken beherrschte, sondern ge-
wissenhaft von ihr lernte, auch als Redner nicht glänzend, aber stark durch
Rechtschaffenheit, Offenheit und durch den Muth, das Nothwendige zu wollen.
Die stolzen Herren vom alten Tory-Adel verwünschten den Baumwollspinner,
der trotz seines fürstlichen Reichthums doch immer ein Plebejer bliebe und
seine Partei ehrlos verriethe,*) und der junge Heißsporn der Torys Benja-
min Disraeli sagte: eine solche conservative Regierung ist nur eine große
Heuchelei. Aber schon begannen die Arbeiter sich den socialistischen Ge-
danken des Chartismus zuzuwenden, Riesenpetitionen um Erweiterung der
Volksrechte bestürmten das Parlament. Der dumpfe Groll der Massen
und der Nothstand der Gewerbe im Nordwesten zwangen die Regierung
zur That.

Im Jahre 1842 wurden fast zwei Drittel aller Zollsätze des alten
Tarifs aufgehoben oder herabgesetzt. Andere Zollermäßigungen folgten
bald. Dann brachte (1845) eine schwere Mißernte unsägliches Elend über
das Inselreich, zumal über Irland. Jedermann sah, Großbritannien war
zu einem Industrielande geworden, der heimische Ackerbau reichte nicht
mehr aus um die mächtig angewachsene städtische Bevölkerung zu er-
nähren. Nach solchen Erfahrungen wagte Peel den entscheidenden Schritt;

*) Bunsen's Bericht, 30. Jan. 1846.

V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
ſorgſam zu prüfen, und ſobald er einſah, daß ſie dem Wohle des Landes
nicht mehr entſprachen, dann trat er ſtets mit hoher ſittlicher Kühnheit
für die erkannte neue Wahrheit ein, unbekümmert um den Widerſpruch
alter Freunde, unbekümmert um das engherzige Parteiherkommen, das ſich
Ethics of party nannte. Selten hat ein Staatsmann ſeine Meinung
über große politiſche Fragen ſo oft verändert, ohne doch je ſich ſelber un-
treu zu werden. Schon als junger Mann wagte Peel im Parlamente,
„der Autorität, der er immer gefolgt war“, ſeinem eigenen Vater zu
widerſprechen, die Wiederaufnahme der Baarzahlungen von der Bank
von England zu verlangen. Dann erkannte er, wie Wellington, die Noth-
wendigkeit der bisher von allen Torys bekämpften Emancipation der
Katholiken und vertheidigte dieſe Reform, die für alle demokratiſchen
Neuerungen der nächſten Jahrzehnte den Weg öffnete. Der Reformbill
ſelbſt widerſetzte er ſich gleichwohl hartnäckig, bis zum Ende; als aber die
Entſcheidung gefallen, die Mittelklaſſe in das Unterhaus eingezogen war,
da konnte er ſich nicht mehr verhehlen, daß der Schwerpunkt des alten
ariſtokratiſchen Staatsbaues ſich verſchoben hatte. Jetzt als Miniſter ent-
ſchloß er ſich, der unaufhaltſamen Freihandelsbewegung nachzugeben und
alſo die Politik der Reformbill weiterzuführen.

Die Mehrzahl ſeiner Toryfreunde verſagte ſich ihm. Im Bunde mit
den alten Gegnern, mit den Whigs und den Radicalen ſchritt er vorwärts,
umbrauſt von den jubelnden Zurufen der Mittelklaſſen, ein Staatsmann,
der die Zeit nicht mit ſchöpferiſchen Gedanken beherrſchte, ſondern ge-
wiſſenhaft von ihr lernte, auch als Redner nicht glänzend, aber ſtark durch
Rechtſchaffenheit, Offenheit und durch den Muth, das Nothwendige zu wollen.
Die ſtolzen Herren vom alten Tory-Adel verwünſchten den Baumwollſpinner,
der trotz ſeines fürſtlichen Reichthums doch immer ein Plebejer bliebe und
ſeine Partei ehrlos verriethe,*) und der junge Heißſporn der Torys Benja-
min Disraeli ſagte: eine ſolche conſervative Regierung iſt nur eine große
Heuchelei. Aber ſchon begannen die Arbeiter ſich den ſocialiſtiſchen Ge-
danken des Chartismus zuzuwenden, Rieſenpetitionen um Erweiterung der
Volksrechte beſtürmten das Parlament. Der dumpfe Groll der Maſſen
und der Nothſtand der Gewerbe im Nordweſten zwangen die Regierung
zur That.

Im Jahre 1842 wurden faſt zwei Drittel aller Zollſätze des alten
Tarifs aufgehoben oder herabgeſetzt. Andere Zollermäßigungen folgten
bald. Dann brachte (1845) eine ſchwere Mißernte unſägliches Elend über
das Inſelreich, zumal über Irland. Jedermann ſah, Großbritannien war
zu einem Induſtrielande geworden, der heimiſche Ackerbau reichte nicht
mehr aus um die mächtig angewachſene ſtädtiſche Bevölkerung zu er-
nähren. Nach ſolchen Erfahrungen wagte Peel den entſcheidenden Schritt;

*) Bunſen’s Bericht, 30. Jan. 1846.
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[478/0492] V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft. ſorgſam zu prüfen, und ſobald er einſah, daß ſie dem Wohle des Landes nicht mehr entſprachen, dann trat er ſtets mit hoher ſittlicher Kühnheit für die erkannte neue Wahrheit ein, unbekümmert um den Widerſpruch alter Freunde, unbekümmert um das engherzige Parteiherkommen, das ſich Ethics of party nannte. Selten hat ein Staatsmann ſeine Meinung über große politiſche Fragen ſo oft verändert, ohne doch je ſich ſelber un- treu zu werden. Schon als junger Mann wagte Peel im Parlamente, „der Autorität, der er immer gefolgt war“, ſeinem eigenen Vater zu widerſprechen, die Wiederaufnahme der Baarzahlungen von der Bank von England zu verlangen. Dann erkannte er, wie Wellington, die Noth- wendigkeit der bisher von allen Torys bekämpften Emancipation der Katholiken und vertheidigte dieſe Reform, die für alle demokratiſchen Neuerungen der nächſten Jahrzehnte den Weg öffnete. Der Reformbill ſelbſt widerſetzte er ſich gleichwohl hartnäckig, bis zum Ende; als aber die Entſcheidung gefallen, die Mittelklaſſe in das Unterhaus eingezogen war, da konnte er ſich nicht mehr verhehlen, daß der Schwerpunkt des alten ariſtokratiſchen Staatsbaues ſich verſchoben hatte. Jetzt als Miniſter ent- ſchloß er ſich, der unaufhaltſamen Freihandelsbewegung nachzugeben und alſo die Politik der Reformbill weiterzuführen. Die Mehrzahl ſeiner Toryfreunde verſagte ſich ihm. Im Bunde mit den alten Gegnern, mit den Whigs und den Radicalen ſchritt er vorwärts, umbrauſt von den jubelnden Zurufen der Mittelklaſſen, ein Staatsmann, der die Zeit nicht mit ſchöpferiſchen Gedanken beherrſchte, ſondern ge- wiſſenhaft von ihr lernte, auch als Redner nicht glänzend, aber ſtark durch Rechtſchaffenheit, Offenheit und durch den Muth, das Nothwendige zu wollen. Die ſtolzen Herren vom alten Tory-Adel verwünſchten den Baumwollſpinner, der trotz ſeines fürſtlichen Reichthums doch immer ein Plebejer bliebe und ſeine Partei ehrlos verriethe, *) und der junge Heißſporn der Torys Benja- min Disraeli ſagte: eine ſolche conſervative Regierung iſt nur eine große Heuchelei. Aber ſchon begannen die Arbeiter ſich den ſocialiſtiſchen Ge- danken des Chartismus zuzuwenden, Rieſenpetitionen um Erweiterung der Volksrechte beſtürmten das Parlament. Der dumpfe Groll der Maſſen und der Nothſtand der Gewerbe im Nordweſten zwangen die Regierung zur That. Im Jahre 1842 wurden faſt zwei Drittel aller Zollſätze des alten Tarifs aufgehoben oder herabgeſetzt. Andere Zollermäßigungen folgten bald. Dann brachte (1845) eine ſchwere Mißernte unſägliches Elend über das Inſelreich, zumal über Irland. Jedermann ſah, Großbritannien war zu einem Induſtrielande geworden, der heimiſche Ackerbau reichte nicht mehr aus um die mächtig angewachſene ſtädtiſche Bevölkerung zu er- nähren. Nach ſolchen Erfahrungen wagte Peel den entſcheidenden Schritt; *) Bunſen’s Bericht, 30. Jan. 1846.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 478. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/492>, abgerufen am 22.11.2024.