V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthschaft.
vereins, die gleiche Vertheilung der Einnahmen nach der Kopfzahl. Um dieses Grundsatzes willen hatte die preußische Regierung erst vor drei Jahren den unglücklichen Plan, für sich selber ein mäßiges Präcipuum zu beanspruchen, schleunig wieder aufgegeben. Wie durfte sie jetzt von ihren Zollverbündeten eine noch weit größere Vergünstigung für Hannover ver- langen, nachdem Braunschweig soeben, ohne ein Präcipuum zu fordern, eingetreten war?
Den süddeutschen Höfen, die sich so eifrig bemühten ihrer jungen Industrie verstärkten Zollschutz zu schaffen, mußten die hannoverschen Denkschriften wie Stimmen aus der verkehrten Welt klingen. Die Welfen- krone suchte den Nerv der Volkswirthschaft in der üppigen Consumtion, sie rühmte stolz: der Anschluß des Steuervereins bringt dem Zollverein zwei Millionen so starker Consumenten und so wenig bedeutender Fabri- kanten zu, wie sie bis jetzt im Zollvereine nicht vorhanden sind. Daß diese zwei Millionen durch den Zollverein erst freien Verkehr und die Möglich- keit einer eigenen Industrie erhalten sollten, kam daneben nicht in Be- tracht. Wohl mochte die Consumtion von Kolonialwaaren mindestens in den eigentlichen Küstenlanden Hannovers etwas höher stehen als in man- chen Theilen des Zollvereins; doch über die Geldfrage des Präcipuums ließ sich noch gar nicht verhandeln, so lange die volkswirthschaftlichen An- sichten hüben und drüben so weit aus einander gingen. Zudem bewies die Welfenkrone überall ihren bösen Willen durch gehässige Anmaßung. Im Sommer 1843 überbrachte der hannoversche Finanzrath Witte Vor- schläge seines Hofes nach Berlin; er stellte dem preußischen Ministerium ohne Weiteres die Wahl, anzunehmen oder abzulehnen, er behauptete ungescheut, der Zollverein wolle im Harz- und Weserkreise "ein Schmuggel- depot" gegen Hannover einrichten und drohte mit empfindlichen Repressalien. Eine solche Sprache war in den stürmischen deutschen Zollverhandlungen doch nicht mehr gehört worden seit jenen fernen Tagen, da der Herzog von Koethen einst einen streitbaren Lieutenant mit seinem Ultimatum nach Berlin geschickt hatte. Bülow erwiderte kurz, Witte's Zuschrift ge- statte ihm keine Antwort, und stellte dem Hannoveraner anheim sofort abzureisen.
Währenddem erhitzte sich auch der braunschweigische Hof mehr und mehr, der alte Haß der beiden Welfenlinien brach wieder durch. Der Landtag stand dem Herzog treu zur Seite; die Mehrzahl der Abgeordneten hatte doch endlich die nationale Bedeutung des Zollvereins begriffen, ihr wackerer Führer K. Steinacker sagte in seiner Streitschrift wider die Han- noveraner hoffnungsvoll: "Vaterland! der Name war lange ein leeres Wort für uns. Jetzt aber wissen wir, daß wir ein Vaterland haben, ein Vaterland, welches im kräftigsten gesundesten Verjüngungsprocesse sich befindet." Wie würdig nahmen sich solche Worte aus neben den wüsten Schimpfreden des Gothaers Zimmermann, der einst schon den hannover-
V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
vereins, die gleiche Vertheilung der Einnahmen nach der Kopfzahl. Um dieſes Grundſatzes willen hatte die preußiſche Regierung erſt vor drei Jahren den unglücklichen Plan, für ſich ſelber ein mäßiges Präcipuum zu beanſpruchen, ſchleunig wieder aufgegeben. Wie durfte ſie jetzt von ihren Zollverbündeten eine noch weit größere Vergünſtigung für Hannover ver- langen, nachdem Braunſchweig ſoeben, ohne ein Präcipuum zu fordern, eingetreten war?
Den ſüddeutſchen Höfen, die ſich ſo eifrig bemühten ihrer jungen Induſtrie verſtärkten Zollſchutz zu ſchaffen, mußten die hannoverſchen Denkſchriften wie Stimmen aus der verkehrten Welt klingen. Die Welfen- krone ſuchte den Nerv der Volkswirthſchaft in der üppigen Conſumtion, ſie rühmte ſtolz: der Anſchluß des Steuervereins bringt dem Zollverein zwei Millionen ſo ſtarker Conſumenten und ſo wenig bedeutender Fabri- kanten zu, wie ſie bis jetzt im Zollvereine nicht vorhanden ſind. Daß dieſe zwei Millionen durch den Zollverein erſt freien Verkehr und die Möglich- keit einer eigenen Induſtrie erhalten ſollten, kam daneben nicht in Be- tracht. Wohl mochte die Conſumtion von Kolonialwaaren mindeſtens in den eigentlichen Küſtenlanden Hannovers etwas höher ſtehen als in man- chen Theilen des Zollvereins; doch über die Geldfrage des Präcipuums ließ ſich noch gar nicht verhandeln, ſo lange die volkswirthſchaftlichen An- ſichten hüben und drüben ſo weit aus einander gingen. Zudem bewies die Welfenkrone überall ihren böſen Willen durch gehäſſige Anmaßung. Im Sommer 1843 überbrachte der hannoverſche Finanzrath Witte Vor- ſchläge ſeines Hofes nach Berlin; er ſtellte dem preußiſchen Miniſterium ohne Weiteres die Wahl, anzunehmen oder abzulehnen, er behauptete ungeſcheut, der Zollverein wolle im Harz- und Weſerkreiſe „ein Schmuggel- depot“ gegen Hannover einrichten und drohte mit empfindlichen Repreſſalien. Eine ſolche Sprache war in den ſtürmiſchen deutſchen Zollverhandlungen doch nicht mehr gehört worden ſeit jenen fernen Tagen, da der Herzog von Koethen einſt einen ſtreitbaren Lieutenant mit ſeinem Ultimatum nach Berlin geſchickt hatte. Bülow erwiderte kurz, Witte’s Zuſchrift ge- ſtatte ihm keine Antwort, und ſtellte dem Hannoveraner anheim ſofort abzureiſen.
Währenddem erhitzte ſich auch der braunſchweigiſche Hof mehr und mehr, der alte Haß der beiden Welfenlinien brach wieder durch. Der Landtag ſtand dem Herzog treu zur Seite; die Mehrzahl der Abgeordneten hatte doch endlich die nationale Bedeutung des Zollvereins begriffen, ihr wackerer Führer K. Steinacker ſagte in ſeiner Streitſchrift wider die Han- noveraner hoffnungsvoll: „Vaterland! der Name war lange ein leeres Wort für uns. Jetzt aber wiſſen wir, daß wir ein Vaterland haben, ein Vaterland, welches im kräftigſten geſundeſten Verjüngungsproceſſe ſich befindet.“ Wie würdig nahmen ſich ſolche Worte aus neben den wüſten Schimpfreden des Gothaers Zimmermann, der einſt ſchon den hannover-
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V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
vereins, die gleiche Vertheilung der Einnahmen nach der Kopfzahl. Um
dieſes Grundſatzes willen hatte die preußiſche Regierung erſt vor drei
Jahren den unglücklichen Plan, für ſich ſelber ein mäßiges Präcipuum zu
beanſpruchen, ſchleunig wieder aufgegeben. Wie durfte ſie jetzt von ihren
Zollverbündeten eine noch weit größere Vergünſtigung für Hannover ver-
langen, nachdem Braunſchweig ſoeben, ohne ein Präcipuum zu fordern,
eingetreten war?
Den ſüddeutſchen Höfen, die ſich ſo eifrig bemühten ihrer jungen
Induſtrie verſtärkten Zollſchutz zu ſchaffen, mußten die hannoverſchen
Denkſchriften wie Stimmen aus der verkehrten Welt klingen. Die Welfen-
krone ſuchte den Nerv der Volkswirthſchaft in der üppigen Conſumtion,
ſie rühmte ſtolz: der Anſchluß des Steuervereins bringt dem Zollverein
zwei Millionen ſo ſtarker Conſumenten und ſo wenig bedeutender Fabri-
kanten zu, wie ſie bis jetzt im Zollvereine nicht vorhanden ſind. Daß dieſe
zwei Millionen durch den Zollverein erſt freien Verkehr und die Möglich-
keit einer eigenen Induſtrie erhalten ſollten, kam daneben nicht in Be-
tracht. Wohl mochte die Conſumtion von Kolonialwaaren mindeſtens in
den eigentlichen Küſtenlanden Hannovers etwas höher ſtehen als in man-
chen Theilen des Zollvereins; doch über die Geldfrage des Präcipuums
ließ ſich noch gar nicht verhandeln, ſo lange die volkswirthſchaftlichen An-
ſichten hüben und drüben ſo weit aus einander gingen. Zudem bewies
die Welfenkrone überall ihren böſen Willen durch gehäſſige Anmaßung.
Im Sommer 1843 überbrachte der hannoverſche Finanzrath Witte Vor-
ſchläge ſeines Hofes nach Berlin; er ſtellte dem preußiſchen Miniſterium
ohne Weiteres die Wahl, anzunehmen oder abzulehnen, er behauptete
ungeſcheut, der Zollverein wolle im Harz- und Weſerkreiſe „ein Schmuggel-
depot“ gegen Hannover einrichten und drohte mit empfindlichen Repreſſalien.
Eine ſolche Sprache war in den ſtürmiſchen deutſchen Zollverhandlungen
doch nicht mehr gehört worden ſeit jenen fernen Tagen, da der Herzog
von Koethen einſt einen ſtreitbaren Lieutenant mit ſeinem Ultimatum
nach Berlin geſchickt hatte. Bülow erwiderte kurz, Witte’s Zuſchrift ge-
ſtatte ihm keine Antwort, und ſtellte dem Hannoveraner anheim ſofort
abzureiſen.
Währenddem erhitzte ſich auch der braunſchweigiſche Hof mehr und
mehr, der alte Haß der beiden Welfenlinien brach wieder durch. Der
Landtag ſtand dem Herzog treu zur Seite; die Mehrzahl der Abgeordneten
hatte doch endlich die nationale Bedeutung des Zollvereins begriffen, ihr
wackerer Führer K. Steinacker ſagte in ſeiner Streitſchrift wider die Han-
noveraner hoffnungsvoll: „Vaterland! der Name war lange ein leeres
Wort für uns. Jetzt aber wiſſen wir, daß wir ein Vaterland haben,
ein Vaterland, welches im kräftigſten geſundeſten Verjüngungsproceſſe ſich
befindet.“ Wie würdig nahmen ſich ſolche Worte aus neben den wüſten
Schimpfreden des Gothaers Zimmermann, der einſt ſchon den hannover-
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 446. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/460>, abgerufen am 22.11.2024.
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