Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

Bild:
<< vorherige Seite

Liebig's Agriculturchemie.
Drange nach allseitiger Bildung, der das alte Jahrhundert beseelt hatte,
und von den Gefühlen einer milden Humanität, deren liebenswürdigen
Selbsttäuschungen die neue Zeit schon zu entwachsen begann. Die hand-
festen jungen Historiker konnten dem freundlichen Greise doch unmöglich
beistimmen, wenn er die Rousseau'sche Behauptung aufstellte: "die Natur
ist das Reich der Freiheit" -- oder wenn er aus der scharfsinnig erwie-
senen Einheit des Menschengeschlechts sanft den Schluß zog: "es giebt
bildsamere, höher gebildete, durch geistige Cultur veredelte, aber keine
edleren Volksstämme; alle sind gleichmäßig zur Freiheit bestimmt." Und
doch war dies Buch, das so lebhaft an die Zeiten Herder's und Goethe's
gemahnte, zugleich ein ganz modernes Werk, eine tief durchdachte, um-
fassende Encyclopädie Alles dessen, was die empirische Naturerkenntniß bis-
her erforscht hatte. Begeisterte Verehrer nannten den Kosmos das hohe Lied
der neuen Wissenschaft und sprachen kurzab von dem Zeitalter Alexander
Humboldt's. Die vereinzelten Stimmen besorgter Theologen, die vor dem
unheiligen Geiste des Buches warnten, beirrten selbst den frommen König
nicht und verstummten bald vor der allgemeinen Bewunderung. Das
gesammte Europa fühlte, daß ein solches Buch nur einmal, und nur von
einem Manne gewagt werden konnte.

Doch derweil Humboldt schrieb, verwandelte sich die Welt bereits
wieder, und das so lange geplante Werk stand, als es endlich erschien,
schon nicht mehr ganz im Einklange mit dem Geiste der Zeit. Die jungen
Naturforscher raunten einander schon oft abschätzige, ungerechte Urtheile über
den Kosmos zu, zumal die Mathematiker, die dem Alten nicht verziehen,
daß er für ihre Wissenschaft so wenig Sinn zeigte. Diese jugendlichen
Stürmer und Dränger fragten nichts nach Beschreibungen noch nach
historischen Rückblicken; sie verlangten Thaten, Entdeckungen, Fünde, immer
neue Fünde. Und wahrlich an großen Fünden war die Zeit nicht arm.
Im Jahre 1840 ging aus dem kleinen Gießener Laboratorium eine Ent-
deckung hervor, welche die Landwirthschaft aller Culturvölker umgestalten
sollte, und ihr Urheber war niemals hinter einem Pfluge dahergegangen.
Liebig begründete die Lehre vom organischen Stoffwechsel und wendete sie
an auf den Ackerbau; er wies nach, welche Stoffe die wachsende Pflanze
der Luft entnimmt, welche dem Boden, und zeigte, daß es möglich sein
müsse, durch natürlichen oder künstlichen Dünger dem Boden die entzogenen
Stoffe vollständig zurückzugeben. Wie furchtbar hatte einst der Raubbau
der alten Völker die schönsten Länder der Erde verwüstet; jetzt eröffnete
sich die tröstliche Aussicht, daß die Bodenkraft der modernen Culturländer
bei rationellem Ackerbau allzeit unerschöpflich bleiben würde. Nach lang-
jährigen heißen Kämpfen errang die Lehre vom Kreislauf des Lebens einen
vollständigen Sieg. Stöckhardt's chemische Feldpredigten und andere popu-
läre Schriften verbreiteten sie in weiten Kreisen; der künstliche Dünger,
den noch der alte Thaer mit Mißtrauen betrachtet hatte, wurde den deut-

Liebig’s Agriculturchemie.
Drange nach allſeitiger Bildung, der das alte Jahrhundert beſeelt hatte,
und von den Gefühlen einer milden Humanität, deren liebenswürdigen
Selbſttäuſchungen die neue Zeit ſchon zu entwachſen begann. Die hand-
feſten jungen Hiſtoriker konnten dem freundlichen Greiſe doch unmöglich
beiſtimmen, wenn er die Rouſſeau’ſche Behauptung aufſtellte: „die Natur
iſt das Reich der Freiheit“ — oder wenn er aus der ſcharfſinnig erwie-
ſenen Einheit des Menſchengeſchlechts ſanft den Schluß zog: „es giebt
bildſamere, höher gebildete, durch geiſtige Cultur veredelte, aber keine
edleren Volksſtämme; alle ſind gleichmäßig zur Freiheit beſtimmt.“ Und
doch war dies Buch, das ſo lebhaft an die Zeiten Herder’s und Goethe’s
gemahnte, zugleich ein ganz modernes Werk, eine tief durchdachte, um-
faſſende Encyclopädie Alles deſſen, was die empiriſche Naturerkenntniß bis-
her erforſcht hatte. Begeiſterte Verehrer nannten den Kosmos das hohe Lied
der neuen Wiſſenſchaft und ſprachen kurzab von dem Zeitalter Alexander
Humboldt’s. Die vereinzelten Stimmen beſorgter Theologen, die vor dem
unheiligen Geiſte des Buches warnten, beirrten ſelbſt den frommen König
nicht und verſtummten bald vor der allgemeinen Bewunderung. Das
geſammte Europa fühlte, daß ein ſolches Buch nur einmal, und nur von
einem Manne gewagt werden konnte.

Doch derweil Humboldt ſchrieb, verwandelte ſich die Welt bereits
wieder, und das ſo lange geplante Werk ſtand, als es endlich erſchien,
ſchon nicht mehr ganz im Einklange mit dem Geiſte der Zeit. Die jungen
Naturforſcher raunten einander ſchon oft abſchätzige, ungerechte Urtheile über
den Kosmos zu, zumal die Mathematiker, die dem Alten nicht verziehen,
daß er für ihre Wiſſenſchaft ſo wenig Sinn zeigte. Dieſe jugendlichen
Stürmer und Dränger fragten nichts nach Beſchreibungen noch nach
hiſtoriſchen Rückblicken; ſie verlangten Thaten, Entdeckungen, Fünde, immer
neue Fünde. Und wahrlich an großen Fünden war die Zeit nicht arm.
Im Jahre 1840 ging aus dem kleinen Gießener Laboratorium eine Ent-
deckung hervor, welche die Landwirthſchaft aller Culturvölker umgeſtalten
ſollte, und ihr Urheber war niemals hinter einem Pfluge dahergegangen.
Liebig begründete die Lehre vom organiſchen Stoffwechſel und wendete ſie
an auf den Ackerbau; er wies nach, welche Stoffe die wachſende Pflanze
der Luft entnimmt, welche dem Boden, und zeigte, daß es möglich ſein
müſſe, durch natürlichen oder künſtlichen Dünger dem Boden die entzogenen
Stoffe vollſtändig zurückzugeben. Wie furchtbar hatte einſt der Raubbau
der alten Völker die ſchönſten Länder der Erde verwüſtet; jetzt eröffnete
ſich die tröſtliche Ausſicht, daß die Bodenkraft der modernen Culturländer
bei rationellem Ackerbau allzeit unerſchöpflich bleiben würde. Nach lang-
jährigen heißen Kämpfen errang die Lehre vom Kreislauf des Lebens einen
vollſtändigen Sieg. Stöckhardt’s chemiſche Feldpredigten und andere popu-
läre Schriften verbreiteten ſie in weiten Kreiſen; der künſtliche Dünger,
den noch der alte Thaer mit Mißtrauen betrachtet hatte, wurde den deut-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0443" n="429"/><fw place="top" type="header">Liebig&#x2019;s Agriculturchemie.</fw><lb/>
Drange nach all&#x017F;eitiger Bildung, der das alte Jahrhundert be&#x017F;eelt hatte,<lb/>
und von den Gefühlen einer milden Humanität, deren liebenswürdigen<lb/>
Selb&#x017F;ttäu&#x017F;chungen die neue Zeit &#x017F;chon zu entwach&#x017F;en begann. Die hand-<lb/>
fe&#x017F;ten jungen Hi&#x017F;toriker konnten dem freundlichen Grei&#x017F;e doch unmöglich<lb/>
bei&#x017F;timmen, wenn er die Rou&#x017F;&#x017F;eau&#x2019;&#x017F;che Behauptung auf&#x017F;tellte: &#x201E;die Natur<lb/>
i&#x017F;t das Reich der Freiheit&#x201C; &#x2014; oder wenn er aus der &#x017F;charf&#x017F;innig erwie-<lb/>
&#x017F;enen Einheit des Men&#x017F;chenge&#x017F;chlechts &#x017F;anft den Schluß zog: &#x201E;es giebt<lb/>
bild&#x017F;amere, höher gebildete, durch gei&#x017F;tige Cultur veredelte, aber keine<lb/>
edleren Volks&#x017F;tämme; alle &#x017F;ind gleichmäßig zur Freiheit be&#x017F;timmt.&#x201C; Und<lb/>
doch war dies Buch, das &#x017F;o lebhaft an die Zeiten Herder&#x2019;s und Goethe&#x2019;s<lb/>
gemahnte, zugleich ein ganz modernes Werk, eine tief durchdachte, um-<lb/>
fa&#x017F;&#x017F;ende Encyclopädie Alles de&#x017F;&#x017F;en, was die empiri&#x017F;che Naturerkenntniß bis-<lb/>
her erfor&#x017F;cht hatte. Begei&#x017F;terte Verehrer nannten den Kosmos das hohe Lied<lb/>
der neuen Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft und &#x017F;prachen kurzab von dem Zeitalter Alexander<lb/>
Humboldt&#x2019;s. Die vereinzelten Stimmen be&#x017F;orgter Theologen, die vor dem<lb/>
unheiligen Gei&#x017F;te des Buches warnten, beirrten &#x017F;elb&#x017F;t den frommen König<lb/>
nicht und ver&#x017F;tummten bald vor der allgemeinen Bewunderung. Das<lb/>
ge&#x017F;ammte Europa fühlte, daß ein &#x017F;olches Buch nur einmal, und nur von<lb/>
einem Manne gewagt werden konnte.</p><lb/>
          <p>Doch derweil Humboldt &#x017F;chrieb, verwandelte &#x017F;ich die Welt bereits<lb/>
wieder, und das &#x017F;o lange geplante Werk &#x017F;tand, als es endlich er&#x017F;chien,<lb/>
&#x017F;chon nicht mehr ganz im Einklange mit dem Gei&#x017F;te der Zeit. Die jungen<lb/>
Naturfor&#x017F;cher raunten einander &#x017F;chon oft ab&#x017F;chätzige, ungerechte Urtheile über<lb/>
den Kosmos zu, zumal die Mathematiker, die dem Alten nicht verziehen,<lb/>
daß er für ihre Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft &#x017F;o wenig Sinn zeigte. Die&#x017F;e jugendlichen<lb/>
Stürmer und Dränger fragten nichts nach Be&#x017F;chreibungen noch nach<lb/>
hi&#x017F;tori&#x017F;chen Rückblicken; &#x017F;ie verlangten Thaten, Entdeckungen, Fünde, immer<lb/>
neue Fünde. Und wahrlich an großen Fünden war die Zeit nicht arm.<lb/>
Im Jahre 1840 ging aus dem kleinen Gießener Laboratorium eine Ent-<lb/>
deckung hervor, welche die Landwirth&#x017F;chaft aller Culturvölker umge&#x017F;talten<lb/>
&#x017F;ollte, und ihr Urheber war niemals hinter einem Pfluge dahergegangen.<lb/>
Liebig begründete die Lehre vom organi&#x017F;chen Stoffwech&#x017F;el und wendete &#x017F;ie<lb/>
an auf den Ackerbau; er wies nach, welche Stoffe die wach&#x017F;ende Pflanze<lb/>
der Luft entnimmt, welche dem Boden, und zeigte, daß es möglich &#x017F;ein<lb/>&#x017F;&#x017F;e, durch natürlichen oder kün&#x017F;tlichen Dünger dem Boden die entzogenen<lb/>
Stoffe voll&#x017F;tändig zurückzugeben. Wie furchtbar hatte ein&#x017F;t der Raubbau<lb/>
der alten Völker die &#x017F;chön&#x017F;ten Länder der Erde verwü&#x017F;tet; jetzt eröffnete<lb/>
&#x017F;ich die trö&#x017F;tliche Aus&#x017F;icht, daß die Bodenkraft der modernen Culturländer<lb/>
bei rationellem Ackerbau allzeit uner&#x017F;chöpflich bleiben würde. Nach lang-<lb/>
jährigen heißen Kämpfen errang die Lehre vom Kreislauf des Lebens einen<lb/>
voll&#x017F;tändigen Sieg. Stöckhardt&#x2019;s chemi&#x017F;che Feldpredigten und andere popu-<lb/>
läre Schriften verbreiteten &#x017F;ie in weiten Krei&#x017F;en; der kün&#x017F;tliche Dünger,<lb/>
den noch der alte Thaer mit Mißtrauen betrachtet hatte, wurde den deut-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[429/0443] Liebig’s Agriculturchemie. Drange nach allſeitiger Bildung, der das alte Jahrhundert beſeelt hatte, und von den Gefühlen einer milden Humanität, deren liebenswürdigen Selbſttäuſchungen die neue Zeit ſchon zu entwachſen begann. Die hand- feſten jungen Hiſtoriker konnten dem freundlichen Greiſe doch unmöglich beiſtimmen, wenn er die Rouſſeau’ſche Behauptung aufſtellte: „die Natur iſt das Reich der Freiheit“ — oder wenn er aus der ſcharfſinnig erwie- ſenen Einheit des Menſchengeſchlechts ſanft den Schluß zog: „es giebt bildſamere, höher gebildete, durch geiſtige Cultur veredelte, aber keine edleren Volksſtämme; alle ſind gleichmäßig zur Freiheit beſtimmt.“ Und doch war dies Buch, das ſo lebhaft an die Zeiten Herder’s und Goethe’s gemahnte, zugleich ein ganz modernes Werk, eine tief durchdachte, um- faſſende Encyclopädie Alles deſſen, was die empiriſche Naturerkenntniß bis- her erforſcht hatte. Begeiſterte Verehrer nannten den Kosmos das hohe Lied der neuen Wiſſenſchaft und ſprachen kurzab von dem Zeitalter Alexander Humboldt’s. Die vereinzelten Stimmen beſorgter Theologen, die vor dem unheiligen Geiſte des Buches warnten, beirrten ſelbſt den frommen König nicht und verſtummten bald vor der allgemeinen Bewunderung. Das geſammte Europa fühlte, daß ein ſolches Buch nur einmal, und nur von einem Manne gewagt werden konnte. Doch derweil Humboldt ſchrieb, verwandelte ſich die Welt bereits wieder, und das ſo lange geplante Werk ſtand, als es endlich erſchien, ſchon nicht mehr ganz im Einklange mit dem Geiſte der Zeit. Die jungen Naturforſcher raunten einander ſchon oft abſchätzige, ungerechte Urtheile über den Kosmos zu, zumal die Mathematiker, die dem Alten nicht verziehen, daß er für ihre Wiſſenſchaft ſo wenig Sinn zeigte. Dieſe jugendlichen Stürmer und Dränger fragten nichts nach Beſchreibungen noch nach hiſtoriſchen Rückblicken; ſie verlangten Thaten, Entdeckungen, Fünde, immer neue Fünde. Und wahrlich an großen Fünden war die Zeit nicht arm. Im Jahre 1840 ging aus dem kleinen Gießener Laboratorium eine Ent- deckung hervor, welche die Landwirthſchaft aller Culturvölker umgeſtalten ſollte, und ihr Urheber war niemals hinter einem Pfluge dahergegangen. Liebig begründete die Lehre vom organiſchen Stoffwechſel und wendete ſie an auf den Ackerbau; er wies nach, welche Stoffe die wachſende Pflanze der Luft entnimmt, welche dem Boden, und zeigte, daß es möglich ſein müſſe, durch natürlichen oder künſtlichen Dünger dem Boden die entzogenen Stoffe vollſtändig zurückzugeben. Wie furchtbar hatte einſt der Raubbau der alten Völker die ſchönſten Länder der Erde verwüſtet; jetzt eröffnete ſich die tröſtliche Ausſicht, daß die Bodenkraft der modernen Culturländer bei rationellem Ackerbau allzeit unerſchöpflich bleiben würde. Nach lang- jährigen heißen Kämpfen errang die Lehre vom Kreislauf des Lebens einen vollſtändigen Sieg. Stöckhardt’s chemiſche Feldpredigten und andere popu- läre Schriften verbreiteten ſie in weiten Kreiſen; der künſtliche Dünger, den noch der alte Thaer mit Mißtrauen betrachtet hatte, wurde den deut-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/443
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 429. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/443>, abgerufen am 25.04.2024.