nachher wider die Unzucht der Revolution wurde der gemäßigte Mann, der in der Polemik auch gehässige Feinde stets würdig behandelte, mehr und mehr in das Lager der Reaktion hinübergedrängt und gelangte schließ- lich so weit, daß ihm der Gegensatz von Legitimität und Revolution, von Glauben und Unglauben als der einzige Inhalt der wandelreichen Menschen- geschichte erschien -- eine unlebendige Abstraktion, die er in solcher Härte früherhin nie ausgesprochen hatte.
Wie durch eines Himmels Weite getrennt stand diesem Denker G. G. Gervinus gegenüber, der jüngste der Göttinger Sieben, dessen Schriften die liberale Welt fast noch stärker ergriffen als Dahlmann's Zwei Revolutionen. Gervinus hatte seine Jugend als Kaufmann zu Darmstadt verlebt und sich nachher in Heidelberg, mächtig angeregt durch Schlosser's moralisirende Geschichtsbehandlung, mit eisernem Fleiße zum Gelehrten herangebildet -- ein reicher, vielseitiger, aber unharmonischer Geist, voll sittlichen Ernstes und doch lieblos, launenhaft, rechthaberisch; sprudelnd von Einfällen und doch ohne speculativen Tiefsinn, voll künstlerischer Neigungen und doch ohne jedes Stilgefühl; voll patriotischer Leidenschaft und doch ohne poli- tisches Talent. Frei von Eigennutz und kleiner gesellschaftlicher Eitelkeit behandelte er weiche, anschmiegende junge Männer mit väterlichem Wohl- wollen; stärkere Naturen, die schon eigene Gedanken hegten, fühlten sich oft niedergedrückt in seiner Nähe. Er selbst erkannte die seltsamen Widersprüche seiner Begabung niemals; denn sein von Haus aus unbändiges Selbstge- fühl wurde noch verstärkt durch zwei Empfindungen, die einander gemeinhin auszuschließen pflegen: durch den Stolz des Autodidakten und den Zunft- dünkel des Professors. Als er sich dann durch sein tapferes Verhalten unter den Göttinger Sieben frühen Ruhm erworben hatte und nachher jahrelang fast ohne amtliche Thätigkeit dahinlebte, ohne Kinder, vergöttert von einer liebevollen Frau, verwöhnt durch die Freundschaft weit älterer und grö- ßerer Männer, Dahlmann's und der Brüder Grimm, da spann er sich immer tiefer ein in sein erhabenes sittliches Ich und gelangte zu einer doktrinären Unfehlbarkeit, die in einer Zeit weltverwandelnder Geschicke zuletzt noth- wendig durch eine tragische Demüthigung gezüchtigt werden mußte.
Von früh auf hegte er den Ehrgeiz, durch wissenschaftliche Werke praktische Zwecke zu erreichen, die Nation zum sittlich-politischen Handeln anzuregen, und als er zuerst den Plan eines größeren Werkes faßte, da ließ er dem Verleger die Wahl zwischen einer Geschichte der neuesten Zeit, einer Politik und einer Literaturgeschichte. Der Buchhändler wählte das Letzte, und so entstand das beste von Gervinus' Werken, die Geschichte der deutschen Dichtung, ein Buch von bleibendem Werthe, das die Wissenschaft der deutschen Literaturgeschichte im Grunde erst geschaffen hat. Bisher hatte nur Goethe in Wahrheit und Dichtung von den Anfängen unserer classischen Literatur ein wahrhaft historisches Bild gegeben. Sonst war die Geschichte deutscher Dichtung nur ästhetisch oder in lexicographischer
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. V. 27
Gervinus.
nachher wider die Unzucht der Revolution wurde der gemäßigte Mann, der in der Polemik auch gehäſſige Feinde ſtets würdig behandelte, mehr und mehr in das Lager der Reaktion hinübergedrängt und gelangte ſchließ- lich ſo weit, daß ihm der Gegenſatz von Legitimität und Revolution, von Glauben und Unglauben als der einzige Inhalt der wandelreichen Menſchen- geſchichte erſchien — eine unlebendige Abſtraktion, die er in ſolcher Härte früherhin nie ausgeſprochen hatte.
Wie durch eines Himmels Weite getrennt ſtand dieſem Denker G. G. Gervinus gegenüber, der jüngſte der Göttinger Sieben, deſſen Schriften die liberale Welt faſt noch ſtärker ergriffen als Dahlmann’s Zwei Revolutionen. Gervinus hatte ſeine Jugend als Kaufmann zu Darmſtadt verlebt und ſich nachher in Heidelberg, mächtig angeregt durch Schloſſer’s moraliſirende Geſchichtsbehandlung, mit eiſernem Fleiße zum Gelehrten herangebildet — ein reicher, vielſeitiger, aber unharmoniſcher Geiſt, voll ſittlichen Ernſtes und doch lieblos, launenhaft, rechthaberiſch; ſprudelnd von Einfällen und doch ohne ſpeculativen Tiefſinn, voll künſtleriſcher Neigungen und doch ohne jedes Stilgefühl; voll patriotiſcher Leidenſchaft und doch ohne poli- tiſches Talent. Frei von Eigennutz und kleiner geſellſchaftlicher Eitelkeit behandelte er weiche, anſchmiegende junge Männer mit väterlichem Wohl- wollen; ſtärkere Naturen, die ſchon eigene Gedanken hegten, fühlten ſich oft niedergedrückt in ſeiner Nähe. Er ſelbſt erkannte die ſeltſamen Widerſprüche ſeiner Begabung niemals; denn ſein von Haus aus unbändiges Selbſtge- fühl wurde noch verſtärkt durch zwei Empfindungen, die einander gemeinhin auszuſchließen pflegen: durch den Stolz des Autodidakten und den Zunft- dünkel des Profeſſors. Als er ſich dann durch ſein tapferes Verhalten unter den Göttinger Sieben frühen Ruhm erworben hatte und nachher jahrelang faſt ohne amtliche Thätigkeit dahinlebte, ohne Kinder, vergöttert von einer liebevollen Frau, verwöhnt durch die Freundſchaft weit älterer und grö- ßerer Männer, Dahlmann’s und der Brüder Grimm, da ſpann er ſich immer tiefer ein in ſein erhabenes ſittliches Ich und gelangte zu einer doktrinären Unfehlbarkeit, die in einer Zeit weltverwandelnder Geſchicke zuletzt noth- wendig durch eine tragiſche Demüthigung gezüchtigt werden mußte.
Von früh auf hegte er den Ehrgeiz, durch wiſſenſchaftliche Werke praktiſche Zwecke zu erreichen, die Nation zum ſittlich-politiſchen Handeln anzuregen, und als er zuerſt den Plan eines größeren Werkes faßte, da ließ er dem Verleger die Wahl zwiſchen einer Geſchichte der neueſten Zeit, einer Politik und einer Literaturgeſchichte. Der Buchhändler wählte das Letzte, und ſo entſtand das beſte von Gervinus’ Werken, die Geſchichte der deutſchen Dichtung, ein Buch von bleibendem Werthe, das die Wiſſenſchaft der deutſchen Literaturgeſchichte im Grunde erſt geſchaffen hat. Bisher hatte nur Goethe in Wahrheit und Dichtung von den Anfängen unſerer claſſiſchen Literatur ein wahrhaft hiſtoriſches Bild gegeben. Sonſt war die Geſchichte deutſcher Dichtung nur äſthetiſch oder in lexicographiſcher
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 27
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[417/0431]
Gervinus.
nachher wider die Unzucht der Revolution wurde der gemäßigte Mann,
der in der Polemik auch gehäſſige Feinde ſtets würdig behandelte, mehr
und mehr in das Lager der Reaktion hinübergedrängt und gelangte ſchließ-
lich ſo weit, daß ihm der Gegenſatz von Legitimität und Revolution, von
Glauben und Unglauben als der einzige Inhalt der wandelreichen Menſchen-
geſchichte erſchien — eine unlebendige Abſtraktion, die er in ſolcher Härte
früherhin nie ausgeſprochen hatte.
Wie durch eines Himmels Weite getrennt ſtand dieſem Denker G. G.
Gervinus gegenüber, der jüngſte der Göttinger Sieben, deſſen Schriften die
liberale Welt faſt noch ſtärker ergriffen als Dahlmann’s Zwei Revolutionen.
Gervinus hatte ſeine Jugend als Kaufmann zu Darmſtadt verlebt und ſich
nachher in Heidelberg, mächtig angeregt durch Schloſſer’s moraliſirende
Geſchichtsbehandlung, mit eiſernem Fleiße zum Gelehrten herangebildet —
ein reicher, vielſeitiger, aber unharmoniſcher Geiſt, voll ſittlichen Ernſtes
und doch lieblos, launenhaft, rechthaberiſch; ſprudelnd von Einfällen und
doch ohne ſpeculativen Tiefſinn, voll künſtleriſcher Neigungen und doch
ohne jedes Stilgefühl; voll patriotiſcher Leidenſchaft und doch ohne poli-
tiſches Talent. Frei von Eigennutz und kleiner geſellſchaftlicher Eitelkeit
behandelte er weiche, anſchmiegende junge Männer mit väterlichem Wohl-
wollen; ſtärkere Naturen, die ſchon eigene Gedanken hegten, fühlten ſich oft
niedergedrückt in ſeiner Nähe. Er ſelbſt erkannte die ſeltſamen Widerſprüche
ſeiner Begabung niemals; denn ſein von Haus aus unbändiges Selbſtge-
fühl wurde noch verſtärkt durch zwei Empfindungen, die einander gemeinhin
auszuſchließen pflegen: durch den Stolz des Autodidakten und den Zunft-
dünkel des Profeſſors. Als er ſich dann durch ſein tapferes Verhalten unter
den Göttinger Sieben frühen Ruhm erworben hatte und nachher jahrelang
faſt ohne amtliche Thätigkeit dahinlebte, ohne Kinder, vergöttert von einer
liebevollen Frau, verwöhnt durch die Freundſchaft weit älterer und grö-
ßerer Männer, Dahlmann’s und der Brüder Grimm, da ſpann er ſich immer
tiefer ein in ſein erhabenes ſittliches Ich und gelangte zu einer doktrinären
Unfehlbarkeit, die in einer Zeit weltverwandelnder Geſchicke zuletzt noth-
wendig durch eine tragiſche Demüthigung gezüchtigt werden mußte.
Von früh auf hegte er den Ehrgeiz, durch wiſſenſchaftliche Werke
praktiſche Zwecke zu erreichen, die Nation zum ſittlich-politiſchen Handeln
anzuregen, und als er zuerſt den Plan eines größeren Werkes faßte, da
ließ er dem Verleger die Wahl zwiſchen einer Geſchichte der neueſten Zeit,
einer Politik und einer Literaturgeſchichte. Der Buchhändler wählte das
Letzte, und ſo entſtand das beſte von Gervinus’ Werken, die Geſchichte der
deutſchen Dichtung, ein Buch von bleibendem Werthe, das die Wiſſenſchaft
der deutſchen Literaturgeſchichte im Grunde erſt geſchaffen hat. Bisher
hatte nur Goethe in Wahrheit und Dichtung von den Anfängen unſerer
claſſiſchen Literatur ein wahrhaft hiſtoriſches Bild gegeben. Sonſt war
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v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 27
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 417. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/431>, abgerufen am 25.11.2024.
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