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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Ludwig Richter.
noch fortlebte; Niemand hätte errathen, daß Richter katholisch erzogen war
und erst als Mann, dann freilich mit andächtigem Entzücken, die unver-
fälschte Bibel kennen gelernt hatte. Die drolligen Philister seiner Heimath
gelangen ihm immer, auch die Weiber und Kinder, die Engel und die
Gnomen, seltener die kräftigen Männer, nun gar an die Heldengestalten
unserer erhabenen Dichtung durfte er sich nicht heranwagen; das Kostüm
beachtete er wenig, aber gern stellte er seine unschuldigen Menschen mitten
hinein in eine anmuthige Landschaft oder ließ den Rauch aus dem Schorn-
stein des befriedeten Hauses sich hell abheben vom dunklen Tannenwalde
dahinter. Der Beifall wuchs; in den fünfziger Jahren lagen Richter's Holz-
schnitte fast auf jedem deutschen Familientische, strenge Kunstgelehrte schrieben
Abhandlungen über seine Entwicklung, die Sammler drängten sich um
jedes Blatt, das er irgend einmal für ein Commersbuch, einen Volks-
kalender, eine Märchensammlung gezeichnet hatte. So lebte er von Haß
und Neid ganz unberührt, ein geliebter Hausfreund seines Volks, und
noch im hohen Alter schritt er täglich, froh bewegt, seines Gottes voll,
hinauf nach dem Waldrande über seinem Loschwitzer Weinbergshäuschen,
um sich der lieblichen Landschaft zu erfreuen. Er bemerkte nicht mehr,
daß noch bei seinen Lebzeiten der Kunstgeschmack dieses rastlosen Jahr-
hunderts sich schon wieder veränderte. Das Geschlecht, das sich an Richter's
frommer Einfalt erbaute, war reich an literarischen und politischen Ge-
danken, doch in seinen Lebensgewohnheiten noch sehr bescheiden; nachher
wuchsen mit dem Wohlstande die Genußsucht, die Ansprüche an das Leben,
der Drang nach sinnlicher Fülle des Daseins, und die verwandelte Zeit
begann den unschuldig gemüthlichen Idealismus langweilig und leer zu
finden. Die Freude an Richter's Holzschnitten verschwand zusehends --
für lange, vielleicht für immer; denn in dem launischen Geschmackswechsel
eines übersättigten Zeitalters können wohl elegante Kunstwerke, wie die
so lange mißachteten Gemälde Watteau's wieder zu Ehren kommen; die
genügsamen Menschen aber, die sich an den Kinderbildern des Dresdener
Zeichners ergötzten, kehren so leicht nicht wieder.

Ueber die idealistischen Anfänge unserer neuen Malerei sagte Schnorr
einst: Wir hatten damals vollauf zu thun um nach den Grundanschau-
ungen der alten großen Meister des fünfzehnten Jahrhunderts wieder ar-
beiten zu lernen; "es war uns unmöglich Alles auf einmal zu leisten,
und wir glaubten die Weiterführung, namentlich die Ausbildung der Tech-
nik in demselben Geiste, den Nachkommenden überlassen zu können." Aber
alle Kunst ist Können, sie darf die Technik nicht als ein Beiwerk ansehen,
das auch wegbleiben kann. Unsere Malerei bedurfte eines Künstlers, der,
kräftiger als die Düsseldorfer, mit unerbittlichem Ernst, mit der Hand
und dem Herzen zugleich die Wahrheit, nichts als die Wahrheit suchte
und doch durch poetische Erfindsamkeit so hoch stand, daß ihn Niemand
wie einen Handwerker geringschätzen durfte. So, als ein Bahnbrecher

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Ludwig Richter.
noch fortlebte; Niemand hätte errathen, daß Richter katholiſch erzogen war
und erſt als Mann, dann freilich mit andächtigem Entzücken, die unver-
fälſchte Bibel kennen gelernt hatte. Die drolligen Philiſter ſeiner Heimath
gelangen ihm immer, auch die Weiber und Kinder, die Engel und die
Gnomen, ſeltener die kräftigen Männer, nun gar an die Heldengeſtalten
unſerer erhabenen Dichtung durfte er ſich nicht heranwagen; das Koſtüm
beachtete er wenig, aber gern ſtellte er ſeine unſchuldigen Menſchen mitten
hinein in eine anmuthige Landſchaft oder ließ den Rauch aus dem Schorn-
ſtein des befriedeten Hauſes ſich hell abheben vom dunklen Tannenwalde
dahinter. Der Beifall wuchs; in den fünfziger Jahren lagen Richter’s Holz-
ſchnitte faſt auf jedem deutſchen Familientiſche, ſtrenge Kunſtgelehrte ſchrieben
Abhandlungen über ſeine Entwicklung, die Sammler drängten ſich um
jedes Blatt, das er irgend einmal für ein Commersbuch, einen Volks-
kalender, eine Märchenſammlung gezeichnet hatte. So lebte er von Haß
und Neid ganz unberührt, ein geliebter Hausfreund ſeines Volks, und
noch im hohen Alter ſchritt er täglich, froh bewegt, ſeines Gottes voll,
hinauf nach dem Waldrande über ſeinem Loſchwitzer Weinbergshäuschen,
um ſich der lieblichen Landſchaft zu erfreuen. Er bemerkte nicht mehr,
daß noch bei ſeinen Lebzeiten der Kunſtgeſchmack dieſes raſtloſen Jahr-
hunderts ſich ſchon wieder veränderte. Das Geſchlecht, das ſich an Richter’s
frommer Einfalt erbaute, war reich an literariſchen und politiſchen Ge-
danken, doch in ſeinen Lebensgewohnheiten noch ſehr beſcheiden; nachher
wuchſen mit dem Wohlſtande die Genußſucht, die Anſprüche an das Leben,
der Drang nach ſinnlicher Fülle des Daſeins, und die verwandelte Zeit
begann den unſchuldig gemüthlichen Idealismus langweilig und leer zu
finden. Die Freude an Richter’s Holzſchnitten verſchwand zuſehends —
für lange, vielleicht für immer; denn in dem launiſchen Geſchmackswechſel
eines überſättigten Zeitalters können wohl elegante Kunſtwerke, wie die
ſo lange mißachteten Gemälde Watteau’s wieder zu Ehren kommen; die
genügſamen Menſchen aber, die ſich an den Kinderbildern des Dresdener
Zeichners ergötzten, kehren ſo leicht nicht wieder.

Ueber die idealiſtiſchen Anfänge unſerer neuen Malerei ſagte Schnorr
einſt: Wir hatten damals vollauf zu thun um nach den Grundanſchau-
ungen der alten großen Meiſter des fünfzehnten Jahrhunderts wieder ar-
beiten zu lernen; „es war uns unmöglich Alles auf einmal zu leiſten,
und wir glaubten die Weiterführung, namentlich die Ausbildung der Tech-
nik in demſelben Geiſte, den Nachkommenden überlaſſen zu können.“ Aber
alle Kunſt iſt Können, ſie darf die Technik nicht als ein Beiwerk anſehen,
das auch wegbleiben kann. Unſere Malerei bedurfte eines Künſtlers, der,
kräftiger als die Düſſeldorfer, mit unerbittlichem Ernſt, mit der Hand
und dem Herzen zugleich die Wahrheit, nichts als die Wahrheit ſuchte
und doch durch poetiſche Erfindſamkeit ſo hoch ſtand, daß ihn Niemand
wie einen Handwerker geringſchätzen durfte. So, als ein Bahnbrecher

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[403/0417] Ludwig Richter. noch fortlebte; Niemand hätte errathen, daß Richter katholiſch erzogen war und erſt als Mann, dann freilich mit andächtigem Entzücken, die unver- fälſchte Bibel kennen gelernt hatte. Die drolligen Philiſter ſeiner Heimath gelangen ihm immer, auch die Weiber und Kinder, die Engel und die Gnomen, ſeltener die kräftigen Männer, nun gar an die Heldengeſtalten unſerer erhabenen Dichtung durfte er ſich nicht heranwagen; das Koſtüm beachtete er wenig, aber gern ſtellte er ſeine unſchuldigen Menſchen mitten hinein in eine anmuthige Landſchaft oder ließ den Rauch aus dem Schorn- ſtein des befriedeten Hauſes ſich hell abheben vom dunklen Tannenwalde dahinter. Der Beifall wuchs; in den fünfziger Jahren lagen Richter’s Holz- ſchnitte faſt auf jedem deutſchen Familientiſche, ſtrenge Kunſtgelehrte ſchrieben Abhandlungen über ſeine Entwicklung, die Sammler drängten ſich um jedes Blatt, das er irgend einmal für ein Commersbuch, einen Volks- kalender, eine Märchenſammlung gezeichnet hatte. So lebte er von Haß und Neid ganz unberührt, ein geliebter Hausfreund ſeines Volks, und noch im hohen Alter ſchritt er täglich, froh bewegt, ſeines Gottes voll, hinauf nach dem Waldrande über ſeinem Loſchwitzer Weinbergshäuschen, um ſich der lieblichen Landſchaft zu erfreuen. Er bemerkte nicht mehr, daß noch bei ſeinen Lebzeiten der Kunſtgeſchmack dieſes raſtloſen Jahr- hunderts ſich ſchon wieder veränderte. Das Geſchlecht, das ſich an Richter’s frommer Einfalt erbaute, war reich an literariſchen und politiſchen Ge- danken, doch in ſeinen Lebensgewohnheiten noch ſehr beſcheiden; nachher wuchſen mit dem Wohlſtande die Genußſucht, die Anſprüche an das Leben, der Drang nach ſinnlicher Fülle des Daſeins, und die verwandelte Zeit begann den unſchuldig gemüthlichen Idealismus langweilig und leer zu finden. Die Freude an Richter’s Holzſchnitten verſchwand zuſehends — für lange, vielleicht für immer; denn in dem launiſchen Geſchmackswechſel eines überſättigten Zeitalters können wohl elegante Kunſtwerke, wie die ſo lange mißachteten Gemälde Watteau’s wieder zu Ehren kommen; die genügſamen Menſchen aber, die ſich an den Kinderbildern des Dresdener Zeichners ergötzten, kehren ſo leicht nicht wieder. Ueber die idealiſtiſchen Anfänge unſerer neuen Malerei ſagte Schnorr einſt: Wir hatten damals vollauf zu thun um nach den Grundanſchau- ungen der alten großen Meiſter des fünfzehnten Jahrhunderts wieder ar- beiten zu lernen; „es war uns unmöglich Alles auf einmal zu leiſten, und wir glaubten die Weiterführung, namentlich die Ausbildung der Tech- nik in demſelben Geiſte, den Nachkommenden überlaſſen zu können.“ Aber alle Kunſt iſt Können, ſie darf die Technik nicht als ein Beiwerk anſehen, das auch wegbleiben kann. Unſere Malerei bedurfte eines Künſtlers, der, kräftiger als die Düſſeldorfer, mit unerbittlichem Ernſt, mit der Hand und dem Herzen zugleich die Wahrheit, nichts als die Wahrheit ſuchte und doch durch poetiſche Erfindſamkeit ſo hoch ſtand, daß ihn Niemand wie einen Handwerker geringſchätzen durfte. So, als ein Bahnbrecher 26*

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 403. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/417>, abgerufen am 25.11.2024.