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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Altlutheraner. Lichtfreunde.
die Herrschaft über seine Herde verloren hatte, legte sein Amt nieder und
zog sich, ein gebeugter Mann, nach Potsdam zurück, wo ihn des Königs
Gnade doch nicht über den tiefen Fall zu trösten vermochte. Seitdem
schwoll das Selbstgefühl der Rationalisten mächtig an, und wie einst Alten-
stein's harte Unionspolitik den Sektengeist der Altlutheraner gestachelt
hatte, so wurde jetzt der Radicalismus aufgereizt durch die streng kirchliche
Haltung Eichhorn's und des neuen Magdeburgischen Consistorialpräsi-
denten Göschel. Seit 1841 vereinigte sich eine starke Anzahl von ratio-
nalistischen Geistlichen zu regelmäßigen Versammlungen um die Neugestal-
tung der Kirche im Sinne eines einfachen, vernunftgemäßen evangelischen
Christenthums zu besprechen; sie nannten sich selbst die protestantischen
Freunde, von den Gegnern wurden sie als Lichtfreunde verspottet. Bald
traten auch Laien hinzu, der Zulauf wuchs von Jahr zu Jahr. Die Eisen-
bahnen bewährten sich hier zum ersten male als eine demokratische Macht,
die neuen Bahnlinien zwischen Saale, Elbe und Mulde führten Tausende
herbei; auf dem weiten Köthener Bahnhofe tagten mehrmals große Volks-
versammlungen der Lichtfreunde, die bei Bier und Tabak über die Zukunft
des Christenthums verhandelten.

Die Führer dieser Bewegung zeichneten sich durch ehrliche Recht-
schaffenheit und religiösen Ernst sehr vortheilhaft aus vor den windigen
Helden des Deutschkatholicismus. Leberecht Uhlich hatte einst als Köthe-
ner Landprediger seine protestantische Gesinnung, dem katholischen Hofe
gegenüber, freimüthig behauptet und dann in einem Magdeburgischen
Dorfe sein Pfarramt mit solchem Eifer verwaltet, daß er eine Zeit lang
gar in den Ruf des Pietismus gerieth, weil die meisten anderen Rationa-
listen sich um die Pflichten der Seelsorge wenig zu bekümmern pflegten.
Als er jetzt eine Predigerstelle in der Stadt Magdeburg erhielt, strömten
ihm die kleinen Bürger freudig zu. Sie glaubten ihm, denn er redete
ihre Sprache und lebte mit ihnen, wie er auch seine Söhne zu schlichten
Handwerkern erzog; die lärmenden Volksversammlungen schwiegen sofort,
wenn der derbe grobknochige Mann mit den ernsten treuherzigen Augen
seine starke Stimme erhob. Daß er selber noch fest auf dem Boden seiner
geliebten evangelischen Kirche stände, war dem ehrlichen Rationalisten ganz
unzweifelhaft; er predigte ja noch immer dieselben Grundsätze, die er einst
bei Wegscheider auf der königlichen Universität gelernt hatte, und konnte
gar nicht begreifen, warum ihm das jetzt zum Vorwurfe gereichen sollte.
Ebenso grundehrlich war der Hallenser Pfarrer Wislicenus, ein hart-
verständiger Kopf, der sich mit den Kämpfen der neuen Theologie doch
etwas ernstlicher als Uhlich beschäftigt und darum auch einige Gedanken
der Junghegelianer aufgenommen hatte.

Diesen beiden Führern folgten viele hilflose, einfältig fromme Menschen,
denen das Herz schwer ward, weil sich der Widerspruch zwischen der christ-
lichen Offenbarung und den landläufigen Lehrsätzen moderner Natur-

Altlutheraner. Lichtfreunde.
die Herrſchaft über ſeine Herde verloren hatte, legte ſein Amt nieder und
zog ſich, ein gebeugter Mann, nach Potsdam zurück, wo ihn des Königs
Gnade doch nicht über den tiefen Fall zu tröſten vermochte. Seitdem
ſchwoll das Selbſtgefühl der Rationaliſten mächtig an, und wie einſt Alten-
ſtein’s harte Unionspolitik den Sektengeiſt der Altlutheraner geſtachelt
hatte, ſo wurde jetzt der Radicalismus aufgereizt durch die ſtreng kirchliche
Haltung Eichhorn’s und des neuen Magdeburgiſchen Conſiſtorialpräſi-
denten Göſchel. Seit 1841 vereinigte ſich eine ſtarke Anzahl von ratio-
naliſtiſchen Geiſtlichen zu regelmäßigen Verſammlungen um die Neugeſtal-
tung der Kirche im Sinne eines einfachen, vernunftgemäßen evangeliſchen
Chriſtenthums zu beſprechen; ſie nannten ſich ſelbſt die proteſtantiſchen
Freunde, von den Gegnern wurden ſie als Lichtfreunde verſpottet. Bald
traten auch Laien hinzu, der Zulauf wuchs von Jahr zu Jahr. Die Eiſen-
bahnen bewährten ſich hier zum erſten male als eine demokratiſche Macht,
die neuen Bahnlinien zwiſchen Saale, Elbe und Mulde führten Tauſende
herbei; auf dem weiten Köthener Bahnhofe tagten mehrmals große Volks-
verſammlungen der Lichtfreunde, die bei Bier und Tabak über die Zukunft
des Chriſtenthums verhandelten.

Die Führer dieſer Bewegung zeichneten ſich durch ehrliche Recht-
ſchaffenheit und religiöſen Ernſt ſehr vortheilhaft aus vor den windigen
Helden des Deutſchkatholicismus. Leberecht Uhlich hatte einſt als Köthe-
ner Landprediger ſeine proteſtantiſche Geſinnung, dem katholiſchen Hofe
gegenüber, freimüthig behauptet und dann in einem Magdeburgiſchen
Dorfe ſein Pfarramt mit ſolchem Eifer verwaltet, daß er eine Zeit lang
gar in den Ruf des Pietismus gerieth, weil die meiſten anderen Rationa-
liſten ſich um die Pflichten der Seelſorge wenig zu bekümmern pflegten.
Als er jetzt eine Predigerſtelle in der Stadt Magdeburg erhielt, ſtrömten
ihm die kleinen Bürger freudig zu. Sie glaubten ihm, denn er redete
ihre Sprache und lebte mit ihnen, wie er auch ſeine Söhne zu ſchlichten
Handwerkern erzog; die lärmenden Volksverſammlungen ſchwiegen ſofort,
wenn der derbe grobknochige Mann mit den ernſten treuherzigen Augen
ſeine ſtarke Stimme erhob. Daß er ſelber noch feſt auf dem Boden ſeiner
geliebten evangeliſchen Kirche ſtände, war dem ehrlichen Rationaliſten ganz
unzweifelhaft; er predigte ja noch immer dieſelben Grundſätze, die er einſt
bei Wegſcheider auf der königlichen Univerſität gelernt hatte, und konnte
gar nicht begreifen, warum ihm das jetzt zum Vorwurfe gereichen ſollte.
Ebenſo grundehrlich war der Hallenſer Pfarrer Wislicenus, ein hart-
verſtändiger Kopf, der ſich mit den Kämpfen der neuen Theologie doch
etwas ernſtlicher als Uhlich beſchäftigt und darum auch einige Gedanken
der Junghegelianer aufgenommen hatte.

Dieſen beiden Führern folgten viele hilfloſe, einfältig fromme Menſchen,
denen das Herz ſchwer ward, weil ſich der Widerſpruch zwiſchen der chriſt-
lichen Offenbarung und den landläufigen Lehrſätzen moderner Natur-

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[351/0365] Altlutheraner. Lichtfreunde. die Herrſchaft über ſeine Herde verloren hatte, legte ſein Amt nieder und zog ſich, ein gebeugter Mann, nach Potsdam zurück, wo ihn des Königs Gnade doch nicht über den tiefen Fall zu tröſten vermochte. Seitdem ſchwoll das Selbſtgefühl der Rationaliſten mächtig an, und wie einſt Alten- ſtein’s harte Unionspolitik den Sektengeiſt der Altlutheraner geſtachelt hatte, ſo wurde jetzt der Radicalismus aufgereizt durch die ſtreng kirchliche Haltung Eichhorn’s und des neuen Magdeburgiſchen Conſiſtorialpräſi- denten Göſchel. Seit 1841 vereinigte ſich eine ſtarke Anzahl von ratio- naliſtiſchen Geiſtlichen zu regelmäßigen Verſammlungen um die Neugeſtal- tung der Kirche im Sinne eines einfachen, vernunftgemäßen evangeliſchen Chriſtenthums zu beſprechen; ſie nannten ſich ſelbſt die proteſtantiſchen Freunde, von den Gegnern wurden ſie als Lichtfreunde verſpottet. Bald traten auch Laien hinzu, der Zulauf wuchs von Jahr zu Jahr. Die Eiſen- bahnen bewährten ſich hier zum erſten male als eine demokratiſche Macht, die neuen Bahnlinien zwiſchen Saale, Elbe und Mulde führten Tauſende herbei; auf dem weiten Köthener Bahnhofe tagten mehrmals große Volks- verſammlungen der Lichtfreunde, die bei Bier und Tabak über die Zukunft des Chriſtenthums verhandelten. Die Führer dieſer Bewegung zeichneten ſich durch ehrliche Recht- ſchaffenheit und religiöſen Ernſt ſehr vortheilhaft aus vor den windigen Helden des Deutſchkatholicismus. Leberecht Uhlich hatte einſt als Köthe- ner Landprediger ſeine proteſtantiſche Geſinnung, dem katholiſchen Hofe gegenüber, freimüthig behauptet und dann in einem Magdeburgiſchen Dorfe ſein Pfarramt mit ſolchem Eifer verwaltet, daß er eine Zeit lang gar in den Ruf des Pietismus gerieth, weil die meiſten anderen Rationa- liſten ſich um die Pflichten der Seelſorge wenig zu bekümmern pflegten. Als er jetzt eine Predigerſtelle in der Stadt Magdeburg erhielt, ſtrömten ihm die kleinen Bürger freudig zu. Sie glaubten ihm, denn er redete ihre Sprache und lebte mit ihnen, wie er auch ſeine Söhne zu ſchlichten Handwerkern erzog; die lärmenden Volksverſammlungen ſchwiegen ſofort, wenn der derbe grobknochige Mann mit den ernſten treuherzigen Augen ſeine ſtarke Stimme erhob. Daß er ſelber noch feſt auf dem Boden ſeiner geliebten evangeliſchen Kirche ſtände, war dem ehrlichen Rationaliſten ganz unzweifelhaft; er predigte ja noch immer dieſelben Grundſätze, die er einſt bei Wegſcheider auf der königlichen Univerſität gelernt hatte, und konnte gar nicht begreifen, warum ihm das jetzt zum Vorwurfe gereichen ſollte. Ebenſo grundehrlich war der Hallenſer Pfarrer Wislicenus, ein hart- verſtändiger Kopf, der ſich mit den Kämpfen der neuen Theologie doch etwas ernſtlicher als Uhlich beſchäftigt und darum auch einige Gedanken der Junghegelianer aufgenommen hatte. Dieſen beiden Führern folgten viele hilfloſe, einfältig fromme Menſchen, denen das Herz ſchwer ward, weil ſich der Widerſpruch zwiſchen der chriſt- lichen Offenbarung und den landläufigen Lehrſätzen moderner Natur-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 351. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/365>, abgerufen am 22.11.2024.