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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
Schwurgerichte belehren konnte. So erwachte plötzlich der politische Sinn
in dem vordem so stillen Lande. Inzwischen verstärkte sich die Opposition
durch neue Wahlen; Schaffrath, Joseph und einige andere Radicale er-
schienen im Landtage, noch eine kleine Schaar, maßlos in den Grund-
sätzen, formlos im Auftreten. Selbst die allzeit getreue freie Bergstadt
Freiberg begann zu grollen, als zwischen den Bergstudenten und der
Garnison Zwistigkeiten entstanden, die durch rechtzeitige Strenge der Be-
hörden leicht beigelegt werden konnten,*) und die Regierung dann, nach
einem unglücklichen Duell, volle zwei Drittel der Studentenschaft relegirte;
das Land war eine Zeit lang nahe daran, seinen Stolz, die berühmte
Bergakademie ganz zu verlieren.

Und nun bewährte sich wieder, wie noch in allen unruhigen Zeiten der
neueren sächsischen Geschichte, der alte Fluch des albertinischen Hauses:
selber schuldlos mußten die Nachkommen noch immer unter dem unseligen
Glaubenswechsel August's des Starken leiden. In dem wohlwollenden
Charakter des Königs lag gar kein Zug confessioneller Engherzigkeit, und
im Vatican kannte man den hartprotestantischen Boden Kursachsens zu
gut um die Hebel grade hier einzusetzen. Trotzdem fühlte sich das Volk
schwer beunruhigt durch den Uebermuth, den die ultramontane Partei
im benachbarten Preußen und Baiern zur Schau trug; man glaubte
allgemein, auch in Sachsen trieben die Clericalen ihr Wesen, und bald
hieß es, die Jesuiten seien im Lande. Ernsthafte Beschwerden lagen nicht
vor. Die Erzbrüderschaft vom Herzen Jesu hatte in einer Ortschaft der
Lausitz eine kleine Niederlassung gegründet, aber ohne Vorwissen der Re-
gierung; dann fand man in der neuen katholischen Kirche zu Annaberg
am Hochaltar den Namen des heiligen Ignatius und schloß daraus, ganz
willkürlich, diese Kirche gehöre der Gesellschaft Jesu. Das war nahezu
Alles. Doch das Mißtrauen im Volke ließ sich nicht beschwichtigen und
wendete sich mit unbegreiflicher Verblendung gegen den Prinzen Johann,
der allerdings ein strengerer Katholik war als sein königlicher Bruder, aber
in allen kirchenpolitischen Fragen stets eine untadelhafte Mäßigung ge-
zeigt und soeben erst durchgesetzt hatte, daß die Kniebeugung der pro-
testantischen Soldaten in der Dresdener Hofkirche abgestellt wurde. Der
schändlich verleumdete Prinz sollte durchaus ein Jesuit sein, das glaubte
Jedermann bis zu den Schulkindern herunter, und Jedermann nahm
es für ein Zeichen des göttlichen Zornes wider den katholischen Hof, daß
bei dem schweren Eisgange des Frühjahres 1845 das große goldene
Cruzifix auf der Dresdener Brücke, für immer unauffindbar, in den Wellen
versank.

Nur diese krankhafte Jesuitenfurcht und die politische Verstimmung
des Landes bewirkten, daß in dem kleinen Häuflein der sächsischen Katho-

*) Jordan's Bericht, 19. Febr. 1845.

V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
Schwurgerichte belehren konnte. So erwachte plötzlich der politiſche Sinn
in dem vordem ſo ſtillen Lande. Inzwiſchen verſtärkte ſich die Oppoſition
durch neue Wahlen; Schaffrath, Joſeph und einige andere Radicale er-
ſchienen im Landtage, noch eine kleine Schaar, maßlos in den Grund-
ſätzen, formlos im Auftreten. Selbſt die allzeit getreue freie Bergſtadt
Freiberg begann zu grollen, als zwiſchen den Bergſtudenten und der
Garniſon Zwiſtigkeiten entſtanden, die durch rechtzeitige Strenge der Be-
hörden leicht beigelegt werden konnten,*) und die Regierung dann, nach
einem unglücklichen Duell, volle zwei Drittel der Studentenſchaft relegirte;
das Land war eine Zeit lang nahe daran, ſeinen Stolz, die berühmte
Bergakademie ganz zu verlieren.

Und nun bewährte ſich wieder, wie noch in allen unruhigen Zeiten der
neueren ſächſiſchen Geſchichte, der alte Fluch des albertiniſchen Hauſes:
ſelber ſchuldlos mußten die Nachkommen noch immer unter dem unſeligen
Glaubenswechſel Auguſt’s des Starken leiden. In dem wohlwollenden
Charakter des Königs lag gar kein Zug confeſſioneller Engherzigkeit, und
im Vatican kannte man den hartproteſtantiſchen Boden Kurſachſens zu
gut um die Hebel grade hier einzuſetzen. Trotzdem fühlte ſich das Volk
ſchwer beunruhigt durch den Uebermuth, den die ultramontane Partei
im benachbarten Preußen und Baiern zur Schau trug; man glaubte
allgemein, auch in Sachſen trieben die Clericalen ihr Weſen, und bald
hieß es, die Jeſuiten ſeien im Lande. Ernſthafte Beſchwerden lagen nicht
vor. Die Erzbrüderſchaft vom Herzen Jeſu hatte in einer Ortſchaft der
Lauſitz eine kleine Niederlaſſung gegründet, aber ohne Vorwiſſen der Re-
gierung; dann fand man in der neuen katholiſchen Kirche zu Annaberg
am Hochaltar den Namen des heiligen Ignatius und ſchloß daraus, ganz
willkürlich, dieſe Kirche gehöre der Geſellſchaft Jeſu. Das war nahezu
Alles. Doch das Mißtrauen im Volke ließ ſich nicht beſchwichtigen und
wendete ſich mit unbegreiflicher Verblendung gegen den Prinzen Johann,
der allerdings ein ſtrengerer Katholik war als ſein königlicher Bruder, aber
in allen kirchenpolitiſchen Fragen ſtets eine untadelhafte Mäßigung ge-
zeigt und ſoeben erſt durchgeſetzt hatte, daß die Kniebeugung der pro-
teſtantiſchen Soldaten in der Dresdener Hofkirche abgeſtellt wurde. Der
ſchändlich verleumdete Prinz ſollte durchaus ein Jeſuit ſein, das glaubte
Jedermann bis zu den Schulkindern herunter, und Jedermann nahm
es für ein Zeichen des göttlichen Zornes wider den katholiſchen Hof, daß
bei dem ſchweren Eisgange des Frühjahres 1845 das große goldene
Cruzifix auf der Dresdener Brücke, für immer unauffindbar, in den Wellen
verſank.

Nur dieſe krankhafte Jeſuitenfurcht und die politiſche Verſtimmung
des Landes bewirkten, daß in dem kleinen Häuflein der ſächſiſchen Katho-

*) Jordan’s Bericht, 19. Febr. 1845.
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[342/0356] V. 4. Die Parteiung in der Kirche. Schwurgerichte belehren konnte. So erwachte plötzlich der politiſche Sinn in dem vordem ſo ſtillen Lande. Inzwiſchen verſtärkte ſich die Oppoſition durch neue Wahlen; Schaffrath, Joſeph und einige andere Radicale er- ſchienen im Landtage, noch eine kleine Schaar, maßlos in den Grund- ſätzen, formlos im Auftreten. Selbſt die allzeit getreue freie Bergſtadt Freiberg begann zu grollen, als zwiſchen den Bergſtudenten und der Garniſon Zwiſtigkeiten entſtanden, die durch rechtzeitige Strenge der Be- hörden leicht beigelegt werden konnten, *) und die Regierung dann, nach einem unglücklichen Duell, volle zwei Drittel der Studentenſchaft relegirte; das Land war eine Zeit lang nahe daran, ſeinen Stolz, die berühmte Bergakademie ganz zu verlieren. Und nun bewährte ſich wieder, wie noch in allen unruhigen Zeiten der neueren ſächſiſchen Geſchichte, der alte Fluch des albertiniſchen Hauſes: ſelber ſchuldlos mußten die Nachkommen noch immer unter dem unſeligen Glaubenswechſel Auguſt’s des Starken leiden. In dem wohlwollenden Charakter des Königs lag gar kein Zug confeſſioneller Engherzigkeit, und im Vatican kannte man den hartproteſtantiſchen Boden Kurſachſens zu gut um die Hebel grade hier einzuſetzen. Trotzdem fühlte ſich das Volk ſchwer beunruhigt durch den Uebermuth, den die ultramontane Partei im benachbarten Preußen und Baiern zur Schau trug; man glaubte allgemein, auch in Sachſen trieben die Clericalen ihr Weſen, und bald hieß es, die Jeſuiten ſeien im Lande. Ernſthafte Beſchwerden lagen nicht vor. Die Erzbrüderſchaft vom Herzen Jeſu hatte in einer Ortſchaft der Lauſitz eine kleine Niederlaſſung gegründet, aber ohne Vorwiſſen der Re- gierung; dann fand man in der neuen katholiſchen Kirche zu Annaberg am Hochaltar den Namen des heiligen Ignatius und ſchloß daraus, ganz willkürlich, dieſe Kirche gehöre der Geſellſchaft Jeſu. Das war nahezu Alles. Doch das Mißtrauen im Volke ließ ſich nicht beſchwichtigen und wendete ſich mit unbegreiflicher Verblendung gegen den Prinzen Johann, der allerdings ein ſtrengerer Katholik war als ſein königlicher Bruder, aber in allen kirchenpolitiſchen Fragen ſtets eine untadelhafte Mäßigung ge- zeigt und ſoeben erſt durchgeſetzt hatte, daß die Kniebeugung der pro- teſtantiſchen Soldaten in der Dresdener Hofkirche abgeſtellt wurde. Der ſchändlich verleumdete Prinz ſollte durchaus ein Jeſuit ſein, das glaubte Jedermann bis zu den Schulkindern herunter, und Jedermann nahm es für ein Zeichen des göttlichen Zornes wider den katholiſchen Hof, daß bei dem ſchweren Eisgange des Frühjahres 1845 das große goldene Cruzifix auf der Dresdener Brücke, für immer unauffindbar, in den Wellen verſank. Nur dieſe krankhafte Jeſuitenfurcht und die politiſche Verſtimmung des Landes bewirkten, daß in dem kleinen Häuflein der ſächſiſchen Katho- *) Jordan’s Bericht, 19. Febr. 1845.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 342. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/356>, abgerufen am 22.11.2024.