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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Vierter Abschnitt.

Die Parteiung in der Kirche.

Nichts in der Geschichte ist so geheimnißvoll wie das religiöse Leben
der hochgebildeten Völker, welche das naive Gesammtgefühl, das lebendige
Einverständniß zwischen den Höhen und den Tiefen der Gesellschaft längst
verloren haben. Ihnen geschieht es zuweilen, daß alle Gottesfurcht, alle
Andacht aus den Kreisen der Verstandesbildung zu verschwinden scheint,
bis plötzlich aus den Massen des Volkes ungeahnte Kräfte freudigen
Glaubens oder dumpfen Aberglaubens emporsteigen; aber es kommen
auch Zeiten, da ein im Grunde glaubenloses, gleichgiltiges Geschlecht
lärmende kirchliche Kämpfe führt, denen das Gemüth des Volkes fremd
bleibt. Eine solche Zeit ohne Glaubenskraft und doch voll kirchlichen
Haders erschien jetzt den Deutschen. Ein volles Drittel der neuen lite-
rarischen Erscheinungen dieser acht Jahre bestand aus kirchlichen Streit-
schriften; gleichwohl war die große Mehrheit der gebildeten Klassen von
Grund aus weltlich gesinnt. Von dem tiefen Glaubensernst der Be-
freiungskriege zeigten sich nur noch wenige Spuren, erst die erschüttern-
den Erfahrungen der Revolutionsjahre sollten ihn wieder erwecken. Die
Ultramontanen allein bildeten eine festgeschlossene kirchliche Partei; und
sie verfolgte wesentlich politische Zwecke, wie sie ja auch ihre neue Macht
dem Kampfe gegen die Krone Preußen verdankte. Die rein kirchlichen
Reformgedanken, mit denen sich Nitzsch und so manche andere Schüler
Schleiermacher's trugen, fanden unter den politisch erregten Zeitgenossen
sehr wenig Verständniß. Auch der religiöse Radicalismus, der in beiden
Kirchen mannichfache unglückliche Versuche neuer Sektenbildungen wagte,
besaß keinen Boden im Volke, das nach den Streitigkeiten der Philosophen-
schulen nie gefragt hatte; er entsprang selten einer starken sittlichen Ueber-
zeugung; öfter ward er nur, in natürlichem Rückschlage, durch den wach-
senden Uebermuth der Ultramontanen oder durch die strengkirchliche Hal-
tung der preußischen Regierung hervorgerufen; in den meisten Fällen
aber diente er der politischen Opposition als Deckmantel für ihre welt-

Vierter Abſchnitt.

Die Parteiung in der Kirche.

Nichts in der Geſchichte iſt ſo geheimnißvoll wie das religiöſe Leben
der hochgebildeten Völker, welche das naive Geſammtgefühl, das lebendige
Einverſtändniß zwiſchen den Höhen und den Tiefen der Geſellſchaft längſt
verloren haben. Ihnen geſchieht es zuweilen, daß alle Gottesfurcht, alle
Andacht aus den Kreiſen der Verſtandesbildung zu verſchwinden ſcheint,
bis plötzlich aus den Maſſen des Volkes ungeahnte Kräfte freudigen
Glaubens oder dumpfen Aberglaubens emporſteigen; aber es kommen
auch Zeiten, da ein im Grunde glaubenloſes, gleichgiltiges Geſchlecht
lärmende kirchliche Kämpfe führt, denen das Gemüth des Volkes fremd
bleibt. Eine ſolche Zeit ohne Glaubenskraft und doch voll kirchlichen
Haders erſchien jetzt den Deutſchen. Ein volles Drittel der neuen lite-
rariſchen Erſcheinungen dieſer acht Jahre beſtand aus kirchlichen Streit-
ſchriften; gleichwohl war die große Mehrheit der gebildeten Klaſſen von
Grund aus weltlich geſinnt. Von dem tiefen Glaubensernſt der Be-
freiungskriege zeigten ſich nur noch wenige Spuren, erſt die erſchüttern-
den Erfahrungen der Revolutionsjahre ſollten ihn wieder erwecken. Die
Ultramontanen allein bildeten eine feſtgeſchloſſene kirchliche Partei; und
ſie verfolgte weſentlich politiſche Zwecke, wie ſie ja auch ihre neue Macht
dem Kampfe gegen die Krone Preußen verdankte. Die rein kirchlichen
Reformgedanken, mit denen ſich Nitzſch und ſo manche andere Schüler
Schleiermacher’s trugen, fanden unter den politiſch erregten Zeitgenoſſen
ſehr wenig Verſtändniß. Auch der religiöſe Radicalismus, der in beiden
Kirchen mannichfache unglückliche Verſuche neuer Sektenbildungen wagte,
beſaß keinen Boden im Volke, das nach den Streitigkeiten der Philoſophen-
ſchulen nie gefragt hatte; er entſprang ſelten einer ſtarken ſittlichen Ueber-
zeugung; öfter ward er nur, in natürlichem Rückſchlage, durch den wach-
ſenden Uebermuth der Ultramontanen oder durch die ſtrengkirchliche Hal-
tung der preußiſchen Regierung hervorgerufen; in den meiſten Fällen
aber diente er der politiſchen Oppoſition als Deckmantel für ihre welt-

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[[276]/0290] Vierter Abſchnitt. Die Parteiung in der Kirche. Nichts in der Geſchichte iſt ſo geheimnißvoll wie das religiöſe Leben der hochgebildeten Völker, welche das naive Geſammtgefühl, das lebendige Einverſtändniß zwiſchen den Höhen und den Tiefen der Geſellſchaft längſt verloren haben. Ihnen geſchieht es zuweilen, daß alle Gottesfurcht, alle Andacht aus den Kreiſen der Verſtandesbildung zu verſchwinden ſcheint, bis plötzlich aus den Maſſen des Volkes ungeahnte Kräfte freudigen Glaubens oder dumpfen Aberglaubens emporſteigen; aber es kommen auch Zeiten, da ein im Grunde glaubenloſes, gleichgiltiges Geſchlecht lärmende kirchliche Kämpfe führt, denen das Gemüth des Volkes fremd bleibt. Eine ſolche Zeit ohne Glaubenskraft und doch voll kirchlichen Haders erſchien jetzt den Deutſchen. Ein volles Drittel der neuen lite- rariſchen Erſcheinungen dieſer acht Jahre beſtand aus kirchlichen Streit- ſchriften; gleichwohl war die große Mehrheit der gebildeten Klaſſen von Grund aus weltlich geſinnt. Von dem tiefen Glaubensernſt der Be- freiungskriege zeigten ſich nur noch wenige Spuren, erſt die erſchüttern- den Erfahrungen der Revolutionsjahre ſollten ihn wieder erwecken. Die Ultramontanen allein bildeten eine feſtgeſchloſſene kirchliche Partei; und ſie verfolgte weſentlich politiſche Zwecke, wie ſie ja auch ihre neue Macht dem Kampfe gegen die Krone Preußen verdankte. Die rein kirchlichen Reformgedanken, mit denen ſich Nitzſch und ſo manche andere Schüler Schleiermacher’s trugen, fanden unter den politiſch erregten Zeitgenoſſen ſehr wenig Verſtändniß. Auch der religiöſe Radicalismus, der in beiden Kirchen mannichfache unglückliche Verſuche neuer Sektenbildungen wagte, beſaß keinen Boden im Volke, das nach den Streitigkeiten der Philoſophen- ſchulen nie gefragt hatte; er entſprang ſelten einer ſtarken ſittlichen Ueber- zeugung; öfter ward er nur, in natürlichem Rückſchlage, durch den wach- ſenden Uebermuth der Ultramontanen oder durch die ſtrengkirchliche Hal- tung der preußiſchen Regierung hervorgerufen; in den meiſten Fällen aber diente er der politiſchen Oppoſition als Deckmantel für ihre welt-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. [276]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/290>, abgerufen am 25.11.2024.