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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 3. Enttäuschung und Verwirrung.
monologe auf den Universitäten allzu sehr überwogen und manche Pro-
fessoren die Erfindung der Buchdruckerkunst noch nicht zu kennen schienen,
so befahl er (1843) durch einen Erlaß, wobei Eilers mit seinen derben
Schulmeisterhänden offenbar mit geholfen hatte, daß die akademischen
Lehrer Repetitorien und wiederholte Prüfungen mit ihren Vorlesungen
verbinden sollten. Diese Häufung der Examina, deren Ueberzahl ja schon
längst eine preußische Staatskrankheit war, drohte die akademische Freiheit
zu vernichten; man glaubte überall, freilich mit Unrecht, Eichhorn wolle
die freie Lehre durch mechanische Abrichtung, die Wissenschaft durch Kennt-
nisse verdrängen. Der ruhige Dahlmann meinte entrüstet, so bis zu
der Erbärmlichkeit österreichischer Unterrichtsanstalten ließen sich die deut-
schen Universitäten nicht herabdrücken; Oberpräsident Bötticher sogar konnte
sich den Stimmungen der Königsberger Gelehrten nicht ganz entziehen und
klagte bitterlich über dies traurige "Vielregieren"*). An dem einmüthigen
Widerstande der akademischen Welt scheiterten Eichhorn's Befehle. Was
in ihnen berechtigt war verwirklichte sich späterhin von innen heraus durch
die natürliche Entwicklung des wissenschaftlichen Lebens, das seine Ge-
brechen selbst am sichersten zu heilen vermag. Die Mediciner und Natur-
forscher hatten von Altersher praktische Uebungen abgehalten; philologische
Seminare bestanden schon damals fast an allen preußischen Universitäten;
die Historiker folgten nachdem Ranke den Weg gewiesen; in Greifswald
gründete G. Beseler eine juristische Gesellschaft, wie vorher schon Jacoby
in Königsberg eine mathematische, Trendelenburg in Berlin eine philo-
sophische. Aus diesen Keimen erwuchs allmählich in einem halben Jahr-
hundert eine Fülle von Seminaren aller Art; ein reich, fast überreich aus-
gebildeter dialogischer Unterricht trat dem alten monologischen ergänzend
an die Seite.

Wie tief der Minister trotz seines edlen Willens sich die Gelehrten
entfremdet hatte, das sollte dem Könige selbst greifbar vor die Augen treten
bei der Jubelfeier der Albertina. Es war wieder ein Ehrentag und zugleich
ein Verbrüderungsfest für unsere Nordostmark. In Schaaren waren sie
herbeigeströmt die alten Herren, die einst den Albertus auf der Mütze ge-
tragen, und auf aller Lippen schwebten die Namen der beiden Männer,
welche der Geschichte dieses Landes den Stempel ihres Wirkens am tiefsten
eingeprägt hatten, die Namen Herzog Albrecht's und Kant's. Am Vor-
abend dieses Festes, das unter Kant's Gestirne stand, konnte Eichhorn
sich nicht enthalten, die Professoren in strafendem Tone vor den Ver-
irrungen des kritischen Geistes zu warnen. Der Rector Burdach, ein be-
redter, geistreicher Mediciner noch aus der alten halb naturphilosophischen
Schule, antwortete sogleich unerschrocken, die Universität sei sich keiner
Schuld bewußt. Bei den Festlichkeiten der nächsten Tage feierte der

*) Bötticher an Thile, 2. Juni 1844.

V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
monologe auf den Univerſitäten allzu ſehr überwogen und manche Pro-
feſſoren die Erfindung der Buchdruckerkunſt noch nicht zu kennen ſchienen,
ſo befahl er (1843) durch einen Erlaß, wobei Eilers mit ſeinen derben
Schulmeiſterhänden offenbar mit geholfen hatte, daß die akademiſchen
Lehrer Repetitorien und wiederholte Prüfungen mit ihren Vorleſungen
verbinden ſollten. Dieſe Häufung der Examina, deren Ueberzahl ja ſchon
längſt eine preußiſche Staatskrankheit war, drohte die akademiſche Freiheit
zu vernichten; man glaubte überall, freilich mit Unrecht, Eichhorn wolle
die freie Lehre durch mechaniſche Abrichtung, die Wiſſenſchaft durch Kennt-
niſſe verdrängen. Der ruhige Dahlmann meinte entrüſtet, ſo bis zu
der Erbärmlichkeit öſterreichiſcher Unterrichtsanſtalten ließen ſich die deut-
ſchen Univerſitäten nicht herabdrücken; Oberpräſident Bötticher ſogar konnte
ſich den Stimmungen der Königsberger Gelehrten nicht ganz entziehen und
klagte bitterlich über dies traurige „Vielregieren“*). An dem einmüthigen
Widerſtande der akademiſchen Welt ſcheiterten Eichhorn’s Befehle. Was
in ihnen berechtigt war verwirklichte ſich ſpäterhin von innen heraus durch
die natürliche Entwicklung des wiſſenſchaftlichen Lebens, das ſeine Ge-
brechen ſelbſt am ſicherſten zu heilen vermag. Die Mediciner und Natur-
forſcher hatten von Altersher praktiſche Uebungen abgehalten; philologiſche
Seminare beſtanden ſchon damals faſt an allen preußiſchen Univerſitäten;
die Hiſtoriker folgten nachdem Ranke den Weg gewieſen; in Greifswald
gründete G. Beſeler eine juriſtiſche Geſellſchaft, wie vorher ſchon Jacoby
in Königsberg eine mathematiſche, Trendelenburg in Berlin eine philo-
ſophiſche. Aus dieſen Keimen erwuchs allmählich in einem halben Jahr-
hundert eine Fülle von Seminaren aller Art; ein reich, faſt überreich aus-
gebildeter dialogiſcher Unterricht trat dem alten monologiſchen ergänzend
an die Seite.

Wie tief der Miniſter trotz ſeines edlen Willens ſich die Gelehrten
entfremdet hatte, das ſollte dem Könige ſelbſt greifbar vor die Augen treten
bei der Jubelfeier der Albertina. Es war wieder ein Ehrentag und zugleich
ein Verbrüderungsfeſt für unſere Nordoſtmark. In Schaaren waren ſie
herbeigeſtrömt die alten Herren, die einſt den Albertus auf der Mütze ge-
tragen, und auf aller Lippen ſchwebten die Namen der beiden Männer,
welche der Geſchichte dieſes Landes den Stempel ihres Wirkens am tiefſten
eingeprägt hatten, die Namen Herzog Albrecht’s und Kant’s. Am Vor-
abend dieſes Feſtes, das unter Kant’s Geſtirne ſtand, konnte Eichhorn
ſich nicht enthalten, die Profeſſoren in ſtrafendem Tone vor den Ver-
irrungen des kritiſchen Geiſtes zu warnen. Der Rector Burdach, ein be-
redter, geiſtreicher Mediciner noch aus der alten halb naturphiloſophiſchen
Schule, antwortete ſogleich unerſchrocken, die Univerſität ſei ſich keiner
Schuld bewußt. Bei den Feſtlichkeiten der nächſten Tage feierte der

*) Bötticher an Thile, 2. Juni 1844.
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[236/0250] V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung. monologe auf den Univerſitäten allzu ſehr überwogen und manche Pro- feſſoren die Erfindung der Buchdruckerkunſt noch nicht zu kennen ſchienen, ſo befahl er (1843) durch einen Erlaß, wobei Eilers mit ſeinen derben Schulmeiſterhänden offenbar mit geholfen hatte, daß die akademiſchen Lehrer Repetitorien und wiederholte Prüfungen mit ihren Vorleſungen verbinden ſollten. Dieſe Häufung der Examina, deren Ueberzahl ja ſchon längſt eine preußiſche Staatskrankheit war, drohte die akademiſche Freiheit zu vernichten; man glaubte überall, freilich mit Unrecht, Eichhorn wolle die freie Lehre durch mechaniſche Abrichtung, die Wiſſenſchaft durch Kennt- niſſe verdrängen. Der ruhige Dahlmann meinte entrüſtet, ſo bis zu der Erbärmlichkeit öſterreichiſcher Unterrichtsanſtalten ließen ſich die deut- ſchen Univerſitäten nicht herabdrücken; Oberpräſident Bötticher ſogar konnte ſich den Stimmungen der Königsberger Gelehrten nicht ganz entziehen und klagte bitterlich über dies traurige „Vielregieren“ *). An dem einmüthigen Widerſtande der akademiſchen Welt ſcheiterten Eichhorn’s Befehle. Was in ihnen berechtigt war verwirklichte ſich ſpäterhin von innen heraus durch die natürliche Entwicklung des wiſſenſchaftlichen Lebens, das ſeine Ge- brechen ſelbſt am ſicherſten zu heilen vermag. Die Mediciner und Natur- forſcher hatten von Altersher praktiſche Uebungen abgehalten; philologiſche Seminare beſtanden ſchon damals faſt an allen preußiſchen Univerſitäten; die Hiſtoriker folgten nachdem Ranke den Weg gewieſen; in Greifswald gründete G. Beſeler eine juriſtiſche Geſellſchaft, wie vorher ſchon Jacoby in Königsberg eine mathematiſche, Trendelenburg in Berlin eine philo- ſophiſche. Aus dieſen Keimen erwuchs allmählich in einem halben Jahr- hundert eine Fülle von Seminaren aller Art; ein reich, faſt überreich aus- gebildeter dialogiſcher Unterricht trat dem alten monologiſchen ergänzend an die Seite. Wie tief der Miniſter trotz ſeines edlen Willens ſich die Gelehrten entfremdet hatte, das ſollte dem Könige ſelbſt greifbar vor die Augen treten bei der Jubelfeier der Albertina. Es war wieder ein Ehrentag und zugleich ein Verbrüderungsfeſt für unſere Nordoſtmark. In Schaaren waren ſie herbeigeſtrömt die alten Herren, die einſt den Albertus auf der Mütze ge- tragen, und auf aller Lippen ſchwebten die Namen der beiden Männer, welche der Geſchichte dieſes Landes den Stempel ihres Wirkens am tiefſten eingeprägt hatten, die Namen Herzog Albrecht’s und Kant’s. Am Vor- abend dieſes Feſtes, das unter Kant’s Geſtirne ſtand, konnte Eichhorn ſich nicht enthalten, die Profeſſoren in ſtrafendem Tone vor den Ver- irrungen des kritiſchen Geiſtes zu warnen. Der Rector Burdach, ein be- redter, geiſtreicher Mediciner noch aus der alten halb naturphiloſophiſchen Schule, antwortete ſogleich unerſchrocken, die Univerſität ſei ſich keiner Schuld bewußt. Bei den Feſtlichkeiten der nächſten Tage feierte der *) Bötticher an Thile, 2. Juni 1844.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/250>, abgerufen am 22.11.2024.