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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 2. Die Kriegsgefahr.
Charakter aufgeprägt, der sie in der Zukunft auszeichnen würde." Seit-
dem sei Nikolaus "für die Welt der Vertreter der monarchischen Idee,
die Stütze der Grundsätze der Ordnung, der unparteiische Vertheidiger
des europäischen Gleichgewichts geworden," und, wenn auch oft gehemmt
durch "die Furchtsamkeit" seiner deutschen Verbündeten, doch endlich 1841
dahin gelangt, das feindselige und verderbliche englisch-französische Bünd-
niß zu sprengen. Ueber Rußlands orientalische Politik sagte er sehr deut-
lich: "Indem Ew. Maj. sorgsam vermieden, sich durch eine Bürgschaft
für den Länderbestand eines verfallenden Staates zu binden, um nicht
im Voraus die Zukunft Rußlands festzulegen, befolgten Sie immer den
Grundsatz, für jetzt die Unantastbarkeit der ottomanischen Besitzungen zu
wahren, da die Nachbarschaft dieses Staates, in dem Zustande verhält-
nißmäßiger Schwäche worin ihn unsere früheren Eroberungen gelassen
haben, unter den gegenwärtigen Umständen das für unsere politischen und
Handels-Interessen günstigste Verhältniß darbietet. Sonderbare Wirkung
des Wechsels, den das Glück in den gegenseitigen Beziehungen hervorge-
bracht hat! Die Macht, die man früher als den natürlichen Feind der
Türkei betrachtete, ist ihre festeste Stütze und ihr treuester Verbündeter
geworden." Demgemäß hat Rußland zweimal den Sultan vor dem ägyp-
tischen Rebellen gerettet. "Die zweite dieser Krisen, weniger glänzend
vielleicht, hat besser gesicherte Ergebnisse herbeigeführt. Der Vertrag von
Hunkiar-Iskelessi, wogegen Frankreich und England sich vergeblich verwahrt
hatten, wurde scheinbar vernichtet, in Wahrheit unter einer anderen Form
verewigt. Der neue, von allen Mächten anerkannte Vertrag, der an seine
Stelle trat, untersagte den Kriegsschiffen die Einfahrt in die Dardanellen
und sichert uns fortan gegen jeden Angriff von der Seeseite."*)

Ganz so glänzend, wie diese prahlerische Denkschrift behauptete, waren
Rußlands Erfolge nicht. Dem Czaren wurde freilich die Freude, daß der
verhaßte Westbund sich eine Zeit lang spaltete; doch die Trennung war
keineswegs unwiderruflich. Durch den Meerengenvertrag opferte der Peters-
burger Hof zwar wenig oder nichts, da das Schwarze Meer jetzt fast so
vollständig den Russen gehörte wie vor hundert Jahren den Osmanen;
gleichwohl war seine Machtstellung in Pera erschüttert, der Divan zeigte
den unbedingten britischen Freunden mehr Vertrauen als dem trotz alles
Selbstlobes immerdar zweifelhaften russischen Gönner. Und wie un-
sicher blieb das neugegründete freundliche Einverständniß mit England.
Nikolaus überhäufte den englischen Gesandten mit Artigkeiten und zeigte
geflissentlich überall seine Vorliebe für britisches Wesen.**) Solche gottor-
pische Schauspielerkünste konnten doch den tiefen Gegensatz, welcher die
beiden um Asiens Beherrschung ringenden Mächte trennte, nicht beseitigten.

*) Nesselrode, Denkschrift über die auswärtige Politik i. d. J. 1825--50. St. Peters-
burg 20. Nov. a. St. 1850. S. Beilage 19.
**) Liebermann's Berichte, 3. Sept. 1841 ff.

V. 2. Die Kriegsgefahr.
Charakter aufgeprägt, der ſie in der Zukunft auszeichnen würde.“ Seit-
dem ſei Nikolaus „für die Welt der Vertreter der monarchiſchen Idee,
die Stütze der Grundſätze der Ordnung, der unparteiiſche Vertheidiger
des europäiſchen Gleichgewichts geworden,“ und, wenn auch oft gehemmt
durch „die Furchtſamkeit“ ſeiner deutſchen Verbündeten, doch endlich 1841
dahin gelangt, das feindſelige und verderbliche engliſch-franzöſiſche Bünd-
niß zu ſprengen. Ueber Rußlands orientaliſche Politik ſagte er ſehr deut-
lich: „Indem Ew. Maj. ſorgſam vermieden, ſich durch eine Bürgſchaft
für den Länderbeſtand eines verfallenden Staates zu binden, um nicht
im Voraus die Zukunft Rußlands feſtzulegen, befolgten Sie immer den
Grundſatz, für jetzt die Unantaſtbarkeit der ottomaniſchen Beſitzungen zu
wahren, da die Nachbarſchaft dieſes Staates, in dem Zuſtande verhält-
nißmäßiger Schwäche worin ihn unſere früheren Eroberungen gelaſſen
haben, unter den gegenwärtigen Umſtänden das für unſere politiſchen und
Handels-Intereſſen günſtigſte Verhältniß darbietet. Sonderbare Wirkung
des Wechſels, den das Glück in den gegenſeitigen Beziehungen hervorge-
bracht hat! Die Macht, die man früher als den natürlichen Feind der
Türkei betrachtete, iſt ihre feſteſte Stütze und ihr treueſter Verbündeter
geworden.“ Demgemäß hat Rußland zweimal den Sultan vor dem ägyp-
tiſchen Rebellen gerettet. „Die zweite dieſer Kriſen, weniger glänzend
vielleicht, hat beſſer geſicherte Ergebniſſe herbeigeführt. Der Vertrag von
Hunkiar-Iskeleſſi, wogegen Frankreich und England ſich vergeblich verwahrt
hatten, wurde ſcheinbar vernichtet, in Wahrheit unter einer anderen Form
verewigt. Der neue, von allen Mächten anerkannte Vertrag, der an ſeine
Stelle trat, unterſagte den Kriegsſchiffen die Einfahrt in die Dardanellen
und ſichert uns fortan gegen jeden Angriff von der Seeſeite.“*)

Ganz ſo glänzend, wie dieſe prahleriſche Denkſchrift behauptete, waren
Rußlands Erfolge nicht. Dem Czaren wurde freilich die Freude, daß der
verhaßte Weſtbund ſich eine Zeit lang ſpaltete; doch die Trennung war
keineswegs unwiderruflich. Durch den Meerengenvertrag opferte der Peters-
burger Hof zwar wenig oder nichts, da das Schwarze Meer jetzt faſt ſo
vollſtändig den Ruſſen gehörte wie vor hundert Jahren den Osmanen;
gleichwohl war ſeine Machtſtellung in Pera erſchüttert, der Divan zeigte
den unbedingten britiſchen Freunden mehr Vertrauen als dem trotz alles
Selbſtlobes immerdar zweifelhaften ruſſiſchen Gönner. Und wie un-
ſicher blieb das neugegründete freundliche Einverſtändniß mit England.
Nikolaus überhäufte den engliſchen Geſandten mit Artigkeiten und zeigte
gefliſſentlich überall ſeine Vorliebe für britiſches Weſen.**) Solche gottor-
piſche Schauſpielerkünſte konnten doch den tiefen Gegenſatz, welcher die
beiden um Aſiens Beherrſchung ringenden Mächte trennte, nicht beſeitigten.

*) Neſſelrode, Denkſchrift über die auswärtige Politik i. d. J. 1825—50. St. Peters-
burg 20. Nov. a. St. 1850. S. Beilage 19.
**) Liebermann’s Berichte, 3. Sept. 1841 ff.
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[118/0132] V. 2. Die Kriegsgefahr. Charakter aufgeprägt, der ſie in der Zukunft auszeichnen würde.“ Seit- dem ſei Nikolaus „für die Welt der Vertreter der monarchiſchen Idee, die Stütze der Grundſätze der Ordnung, der unparteiiſche Vertheidiger des europäiſchen Gleichgewichts geworden,“ und, wenn auch oft gehemmt durch „die Furchtſamkeit“ ſeiner deutſchen Verbündeten, doch endlich 1841 dahin gelangt, das feindſelige und verderbliche engliſch-franzöſiſche Bünd- niß zu ſprengen. Ueber Rußlands orientaliſche Politik ſagte er ſehr deut- lich: „Indem Ew. Maj. ſorgſam vermieden, ſich durch eine Bürgſchaft für den Länderbeſtand eines verfallenden Staates zu binden, um nicht im Voraus die Zukunft Rußlands feſtzulegen, befolgten Sie immer den Grundſatz, für jetzt die Unantaſtbarkeit der ottomaniſchen Beſitzungen zu wahren, da die Nachbarſchaft dieſes Staates, in dem Zuſtande verhält- nißmäßiger Schwäche worin ihn unſere früheren Eroberungen gelaſſen haben, unter den gegenwärtigen Umſtänden das für unſere politiſchen und Handels-Intereſſen günſtigſte Verhältniß darbietet. Sonderbare Wirkung des Wechſels, den das Glück in den gegenſeitigen Beziehungen hervorge- bracht hat! Die Macht, die man früher als den natürlichen Feind der Türkei betrachtete, iſt ihre feſteſte Stütze und ihr treueſter Verbündeter geworden.“ Demgemäß hat Rußland zweimal den Sultan vor dem ägyp- tiſchen Rebellen gerettet. „Die zweite dieſer Kriſen, weniger glänzend vielleicht, hat beſſer geſicherte Ergebniſſe herbeigeführt. Der Vertrag von Hunkiar-Iskeleſſi, wogegen Frankreich und England ſich vergeblich verwahrt hatten, wurde ſcheinbar vernichtet, in Wahrheit unter einer anderen Form verewigt. Der neue, von allen Mächten anerkannte Vertrag, der an ſeine Stelle trat, unterſagte den Kriegsſchiffen die Einfahrt in die Dardanellen und ſichert uns fortan gegen jeden Angriff von der Seeſeite.“ *) Ganz ſo glänzend, wie dieſe prahleriſche Denkſchrift behauptete, waren Rußlands Erfolge nicht. Dem Czaren wurde freilich die Freude, daß der verhaßte Weſtbund ſich eine Zeit lang ſpaltete; doch die Trennung war keineswegs unwiderruflich. Durch den Meerengenvertrag opferte der Peters- burger Hof zwar wenig oder nichts, da das Schwarze Meer jetzt faſt ſo vollſtändig den Ruſſen gehörte wie vor hundert Jahren den Osmanen; gleichwohl war ſeine Machtſtellung in Pera erſchüttert, der Divan zeigte den unbedingten britiſchen Freunden mehr Vertrauen als dem trotz alles Selbſtlobes immerdar zweifelhaften ruſſiſchen Gönner. Und wie un- ſicher blieb das neugegründete freundliche Einverſtändniß mit England. Nikolaus überhäufte den engliſchen Geſandten mit Artigkeiten und zeigte gefliſſentlich überall ſeine Vorliebe für britiſches Weſen. **) Solche gottor- piſche Schauſpielerkünſte konnten doch den tiefen Gegenſatz, welcher die beiden um Aſiens Beherrſchung ringenden Mächte trennte, nicht beſeitigten. *) Neſſelrode, Denkſchrift über die auswärtige Politik i. d. J. 1825—50. St. Peters- burg 20. Nov. a. St. 1850. S. Beilage 19. **) Liebermann’s Berichte, 3. Sept. 1841 ff.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/132>, abgerufen am 23.11.2024.