XX.Preußen und das Bundeskriegswesen 1831. Zu Bd. IV. 215.
(Zuerst abgedruckt in den Forschungen zur brandenb. u. preuß. Geschichte. Bd. 2.)
Als J. G. Droysen in seinem lehrreichen Aufsatze "Zur Geschichte der preußischen Politik in den Jahren 1830--32"*) zum ersten male eine aktenmäßige Darstellung der Bundesgeschichte jener Jahre gab, gelangte er zu dem Ergebniß, daß damals "der posi- tive und der negative Pol deutscher Geschichte, das System des engeren Bundes unter Preußens Führung und das System der alten Bundesverfassung unter österreichischem Präsidium", in aller Schärfe einander gegenübergetreten seien. Wie fern es mir auch liegt, gegen meinen verstorbenen Lehrer und Collegen eine Polemik zu beginnen, so kann ich doch nicht verschweigen, daß ich nach Einsicht der Akten diese Auffassung für über- trieben halte und den Verhandlungen, welche in jener Zeit über einen möglichen fran- zösischen Krieg geführt wurden, eine so hohe Bedeutung nicht beizumessen vermag.
In seinem schönen patriotischen Eifer war Droysen sehr geneigt, die Ideen unserer modernen nationalen Politik schon in älteren, anders empfindenden Zeiten aufzusuchen. Augenscheinlich ist sein Urtheil mitbestimmt worden durch eine nahe liegende und doch nicht zutreffende Vergleichung, durch die Erinnerung an das Jahr 1859. Damals hatte Oesterreich in Italien schwere Niederlagen erlitten; der preußische Hof aber durfte nach menschlichem Ermessen sicher hoffen, das von Truppen ganz entblößte Frankreich zu be- siegen. Er war also in der Lage, seine Bedingungen zu stellen, als er, einer hochher- zigen, unpolitischen Regung folgend, dem bedrängten Nachbar seine Hilfe anbot; und wenn er die Führung des Bundesheeres für sich verlangte, so konnte er auf die öffent- liche Meinung in Preußen selbst wie in einem großen Theile des übrigen Deutschlands zählen, da der Gedanke des Engeren Bundes seit dem Jahre 1848 längst tiefe Wurzeln geschlagen hatte. Begreiflich also, daß Oesterreich durch den Vertrag von Villafranca die Lombardei dahingab, um dem nordischen Nebenbuhler nur nicht eine militärische Führerstellung einzuräumen, die bei glücklichem Verlaufe des Krieges wahrscheinlich Preu- ßens dauernde Hegemonie in Deutschland begründet hätte. Wie anders die Lage im Jahre 1831! Auch damals hätte Oesterreich, wenn der von allen Seiten erwartete Weltkrieg hereinbrach, den besten Theil seiner Kriegsmacht gegen die Revolution in Italien und die dort vielleicht einrückenden französischen Truppen verwenden müssen; aber die schwerste Last und die schwerste Gefahr des Kriegs fiel auf Preußen; denn die Rhein- grenze war unzweifelhaft das letzte Ziel der Pariser Kriegspartei. Dem Wiener Hofe gegenüber konnte Preußen also nicht nach freiem Ermessen verfahren, sondern mußte zu- frieden sein, wenn Oesterreich überhaupt in der Lage war, ein Hilfsheer auf den deut- schen Kriegsschauplatz zu senden. Nimmt man hinzu, daß der Gedanke der preußischen Hegemonie sich weder in der Nation noch am Berliner Hofe irgendwie zur Klarheit ent- wickelt hatte, daß der einzige Staatsmann großen Stiles, Motz, schon im Juni 1830 gestorben war, daß weder der König noch Bernstorff oder Eichhorn hohen Ehrgeiz hegte, daß das Auswärtige Amt mit der Sicherung des Weltfriedens und der schwierigen Er- weiterung des Zollvereins vollauf beschäftigt war, so läßt sich nicht absehen, woher Preu- ßens deutsche Politik die Kraft hätte nehmen sollen, auch noch eine schöpferische Reform des Bundes-Heerwesens zu versuchen.
Der Darsteller der alten oder der mittelalterlichen Geschichte versucht durch einen combinirenden Scharfsinn, dessen Rechnungen jeder unterrichtete Leser zu folgen ver- mag, aus einer lückenhaften Ueberlieferung ein annähernd vollständiges Bild des Ge-
*) Zuerst in der Zeitschrift für Preußische Geschichte 1874, dann in Droysen's Abhandlungen zur neueren Geschichte 1876.
XX. Preußen und das Bundeskriegsweſen 1831.
XX.Preußen und das Bundeskriegsweſen 1831. Zu Bd. IV. 215.
(Zuerſt abgedruckt in den Forſchungen zur brandenb. u. preuß. Geſchichte. Bd. 2.)
Als J. G. Droyſen in ſeinem lehrreichen Aufſatze „Zur Geſchichte der preußiſchen Politik in den Jahren 1830—32“*) zum erſten male eine aktenmäßige Darſtellung der Bundesgeſchichte jener Jahre gab, gelangte er zu dem Ergebniß, daß damals „der poſi- tive und der negative Pol deutſcher Geſchichte, das Syſtem des engeren Bundes unter Preußens Führung und das Syſtem der alten Bundesverfaſſung unter öſterreichiſchem Präſidium“, in aller Schärfe einander gegenübergetreten ſeien. Wie fern es mir auch liegt, gegen meinen verſtorbenen Lehrer und Collegen eine Polemik zu beginnen, ſo kann ich doch nicht verſchweigen, daß ich nach Einſicht der Akten dieſe Auffaſſung für über- trieben halte und den Verhandlungen, welche in jener Zeit über einen möglichen fran- zöſiſchen Krieg geführt wurden, eine ſo hohe Bedeutung nicht beizumeſſen vermag.
In ſeinem ſchönen patriotiſchen Eifer war Droyſen ſehr geneigt, die Ideen unſerer modernen nationalen Politik ſchon in älteren, anders empfindenden Zeiten aufzuſuchen. Augenſcheinlich iſt ſein Urtheil mitbeſtimmt worden durch eine nahe liegende und doch nicht zutreffende Vergleichung, durch die Erinnerung an das Jahr 1859. Damals hatte Oeſterreich in Italien ſchwere Niederlagen erlitten; der preußiſche Hof aber durfte nach menſchlichem Ermeſſen ſicher hoffen, das von Truppen ganz entblößte Frankreich zu be- ſiegen. Er war alſo in der Lage, ſeine Bedingungen zu ſtellen, als er, einer hochher- zigen, unpolitiſchen Regung folgend, dem bedrängten Nachbar ſeine Hilfe anbot; und wenn er die Führung des Bundesheeres für ſich verlangte, ſo konnte er auf die öffent- liche Meinung in Preußen ſelbſt wie in einem großen Theile des übrigen Deutſchlands zählen, da der Gedanke des Engeren Bundes ſeit dem Jahre 1848 längſt tiefe Wurzeln geſchlagen hatte. Begreiflich alſo, daß Oeſterreich durch den Vertrag von Villafranca die Lombardei dahingab, um dem nordiſchen Nebenbuhler nur nicht eine militäriſche Führerſtellung einzuräumen, die bei glücklichem Verlaufe des Krieges wahrſcheinlich Preu- ßens dauernde Hegemonie in Deutſchland begründet hätte. Wie anders die Lage im Jahre 1831! Auch damals hätte Oeſterreich, wenn der von allen Seiten erwartete Weltkrieg hereinbrach, den beſten Theil ſeiner Kriegsmacht gegen die Revolution in Italien und die dort vielleicht einrückenden franzöſiſchen Truppen verwenden müſſen; aber die ſchwerſte Laſt und die ſchwerſte Gefahr des Kriegs fiel auf Preußen; denn die Rhein- grenze war unzweifelhaft das letzte Ziel der Pariſer Kriegspartei. Dem Wiener Hofe gegenüber konnte Preußen alſo nicht nach freiem Ermeſſen verfahren, ſondern mußte zu- frieden ſein, wenn Oeſterreich überhaupt in der Lage war, ein Hilfsheer auf den deut- ſchen Kriegsſchauplatz zu ſenden. Nimmt man hinzu, daß der Gedanke der preußiſchen Hegemonie ſich weder in der Nation noch am Berliner Hofe irgendwie zur Klarheit ent- wickelt hatte, daß der einzige Staatsmann großen Stiles, Motz, ſchon im Juni 1830 geſtorben war, daß weder der König noch Bernſtorff oder Eichhorn hohen Ehrgeiz hegte, daß das Auswärtige Amt mit der Sicherung des Weltfriedens und der ſchwierigen Er- weiterung des Zollvereins vollauf beſchäftigt war, ſo läßt ſich nicht abſehen, woher Preu- ßens deutſche Politik die Kraft hätte nehmen ſollen, auch noch eine ſchöpferiſche Reform des Bundes-Heerweſens zu verſuchen.
Der Darſteller der alten oder der mittelalterlichen Geſchichte verſucht durch einen combinirenden Scharfſinn, deſſen Rechnungen jeder unterrichtete Leſer zu folgen ver- mag, aus einer lückenhaften Ueberlieferung ein annähernd vollſtändiges Bild des Ge-
*) Zuerſt in der Zeitſchrift für Preußiſche Geſchichte 1874, dann in Droyſen’s Abhandlungen zur neueren Geſchichte 1876.
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XX. Preußen und das Bundeskriegsweſen 1831.
XX. Preußen und das Bundeskriegsweſen 1831.
Zu Bd. IV. 215.
(Zuerſt abgedruckt in den Forſchungen zur brandenb. u. preuß. Geſchichte. Bd. 2.)
Als J. G. Droyſen in ſeinem lehrreichen Aufſatze „Zur Geſchichte der preußiſchen
Politik in den Jahren 1830—32“ *) zum erſten male eine aktenmäßige Darſtellung der
Bundesgeſchichte jener Jahre gab, gelangte er zu dem Ergebniß, daß damals „der poſi-
tive und der negative Pol deutſcher Geſchichte, das Syſtem des engeren Bundes unter
Preußens Führung und das Syſtem der alten Bundesverfaſſung unter öſterreichiſchem
Präſidium“, in aller Schärfe einander gegenübergetreten ſeien. Wie fern es mir auch
liegt, gegen meinen verſtorbenen Lehrer und Collegen eine Polemik zu beginnen, ſo kann
ich doch nicht verſchweigen, daß ich nach Einſicht der Akten dieſe Auffaſſung für über-
trieben halte und den Verhandlungen, welche in jener Zeit über einen möglichen fran-
zöſiſchen Krieg geführt wurden, eine ſo hohe Bedeutung nicht beizumeſſen vermag.
In ſeinem ſchönen patriotiſchen Eifer war Droyſen ſehr geneigt, die Ideen unſerer
modernen nationalen Politik ſchon in älteren, anders empfindenden Zeiten aufzuſuchen.
Augenſcheinlich iſt ſein Urtheil mitbeſtimmt worden durch eine nahe liegende und doch
nicht zutreffende Vergleichung, durch die Erinnerung an das Jahr 1859. Damals hatte
Oeſterreich in Italien ſchwere Niederlagen erlitten; der preußiſche Hof aber durfte nach
menſchlichem Ermeſſen ſicher hoffen, das von Truppen ganz entblößte Frankreich zu be-
ſiegen. Er war alſo in der Lage, ſeine Bedingungen zu ſtellen, als er, einer hochher-
zigen, unpolitiſchen Regung folgend, dem bedrängten Nachbar ſeine Hilfe anbot; und
wenn er die Führung des Bundesheeres für ſich verlangte, ſo konnte er auf die öffent-
liche Meinung in Preußen ſelbſt wie in einem großen Theile des übrigen Deutſchlands
zählen, da der Gedanke des Engeren Bundes ſeit dem Jahre 1848 längſt tiefe Wurzeln
geſchlagen hatte. Begreiflich alſo, daß Oeſterreich durch den Vertrag von Villafranca
die Lombardei dahingab, um dem nordiſchen Nebenbuhler nur nicht eine militäriſche
Führerſtellung einzuräumen, die bei glücklichem Verlaufe des Krieges wahrſcheinlich Preu-
ßens dauernde Hegemonie in Deutſchland begründet hätte. Wie anders die Lage im
Jahre 1831! Auch damals hätte Oeſterreich, wenn der von allen Seiten erwartete
Weltkrieg hereinbrach, den beſten Theil ſeiner Kriegsmacht gegen die Revolution in Italien
und die dort vielleicht einrückenden franzöſiſchen Truppen verwenden müſſen; aber die
ſchwerſte Laſt und die ſchwerſte Gefahr des Kriegs fiel auf Preußen; denn die Rhein-
grenze war unzweifelhaft das letzte Ziel der Pariſer Kriegspartei. Dem Wiener Hofe
gegenüber konnte Preußen alſo nicht nach freiem Ermeſſen verfahren, ſondern mußte zu-
frieden ſein, wenn Oeſterreich überhaupt in der Lage war, ein Hilfsheer auf den deut-
ſchen Kriegsſchauplatz zu ſenden. Nimmt man hinzu, daß der Gedanke der preußiſchen
Hegemonie ſich weder in der Nation noch am Berliner Hofe irgendwie zur Klarheit ent-
wickelt hatte, daß der einzige Staatsmann großen Stiles, Motz, ſchon im Juni 1830
geſtorben war, daß weder der König noch Bernſtorff oder Eichhorn hohen Ehrgeiz hegte,
daß das Auswärtige Amt mit der Sicherung des Weltfriedens und der ſchwierigen Er-
weiterung des Zollvereins vollauf beſchäftigt war, ſo läßt ſich nicht abſehen, woher Preu-
ßens deutſche Politik die Kraft hätte nehmen ſollen, auch noch eine ſchöpferiſche Reform
des Bundes-Heerweſens zu verſuchen.
Der Darſteller der alten oder der mittelalterlichen Geſchichte verſucht durch einen
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mag, aus einer lückenhaften Ueberlieferung ein annähernd vollſtändiges Bild des Ge-
*) Zuerſt in der Zeitſchrift für Preußiſche Geſchichte 1874, dann in Droyſen’s
Abhandlungen zur neueren Geſchichte 1876.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 740. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/754>, abgerufen am 27.11.2024.
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