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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Aufhebung des Staatsgrundgesetzes.
streit und war viel zu klug um einen muthwilligen Rechtsbruch zu be-
günstigen.

Die Zurückhaltung der Höfe ließ sich wohl begreifen; sie wußten nicht
wo der Welfe hinaus wollte. Auch in Hannover blieb Alles still. Man
fühlte sich gedrückt und verstimmt, aber selbst die Abgeordneten thaten
nichts. Als die Georgia Augusta im September das Jubelfest ihres
hundertjährigen Bestehens feierte, und fast alle namhaften Männer des
Landes in Göttingen zusammentrafen, bot sich fast von selbst die Gelegen-
heit, gemeinsame Schritte zur Abwehr des drohenden Staatsstreichs zu
besprechen. Auch dies ward versäumt. Man schmauste über Gräbern,
sagte Dahlmann bitter. Das Fest verlief mit der gewohnten akademischen
Pracht, Alexander Humboldt empfing die Huldigungen aller Facultäten,
und die Philologen verabredeten sich, nach dem Vorbilde der Naturforscher,
regelmäßig wiederkehrende Wanderversammlungen zu halten. Auch der
König erschien auf einen Tag und bemühte sich wenig, der Professoren-
welt seine Verachtung zu verbergen. Als die Bürgerschaft vor der neuen
Aula das Standbild seines verstorbenen Bruders einweihte, drehte er in
dem Augenblicke, da die Hülle fiel, mit scharfer Wendung dem Denkmal
den Rücken zu*); die philosophische Facultät aber erhielt einen schnöden
Verweis, weil sie Stüve zum Ehren-Doctor ernannt hatte.

Mit seinen politischen Plänen war Ernst August noch immer nicht
im Reinen. Je länger er zögerte, um so gewisser ward es, daß ihm der
gegenwärtige Landtag keine wichtige Verfassungsänderung mehr bewilligen
konnte. Da bot sich ein Helfer. Weil die Gutachten des Ministeriums
und der Commission nicht nach Wunsch ausgefallen waren, so wurde der
Canzleidirector Leist mit einer dritten Prüfung der Rechtsfrage beauftragt,
ein gelehrter alter Reichsjurist, der einst wie Schele in westphälische Dienste
gegangen und auf höheren Befehl zu jeder Rechtsverdrehung gern bereit
war. Der bewies jetzt, das Staatsgrundgesetz sei ungiltig, weil die Zu-
stimmung der Agnaten fehle und König Wilhelm IV. nachträglich noch
einige Paragraphen einseitig geändert habe.**) Nun endlich begann dem
Welfen einzuleuchten, daß Schele's ursprüngliche Absicht doch das Rechte
getroffen hätte. Am 1. November wurde durch ein zweites Patent das
Staatsgrundgesetz aufgehoben, die alte Verfassung von 1819 wieder ein-
geführt, das Beamtenthum -- oder, wie es fortan hieß: die königlichen
Diener -- des Verfassungseides entbunden, endlich, als ob man das Volk
bestechen wollte, den getreuen Unterthanen die Summe von 100,000 Thlr.
jährlich an den direkten Steuern erlassen.

So maßte sich der welfische König das Recht an, seine Beamten eines
nicht ihm geleisteten Eides zu entbinden -- ein Recht, das in der römischen

*) Nach der Erzählung eines Augenzeugen.
**) S. o. IV. 163.
Treitschke, Deutsche Geschichte. IV. 42

Aufhebung des Staatsgrundgeſetzes.
ſtreit und war viel zu klug um einen muthwilligen Rechtsbruch zu be-
günſtigen.

Die Zurückhaltung der Höfe ließ ſich wohl begreifen; ſie wußten nicht
wo der Welfe hinaus wollte. Auch in Hannover blieb Alles ſtill. Man
fühlte ſich gedrückt und verſtimmt, aber ſelbſt die Abgeordneten thaten
nichts. Als die Georgia Auguſta im September das Jubelfeſt ihres
hundertjährigen Beſtehens feierte, und faſt alle namhaften Männer des
Landes in Göttingen zuſammentrafen, bot ſich faſt von ſelbſt die Gelegen-
heit, gemeinſame Schritte zur Abwehr des drohenden Staatsſtreichs zu
beſprechen. Auch dies ward verſäumt. Man ſchmauſte über Gräbern,
ſagte Dahlmann bitter. Das Feſt verlief mit der gewohnten akademiſchen
Pracht, Alexander Humboldt empfing die Huldigungen aller Facultäten,
und die Philologen verabredeten ſich, nach dem Vorbilde der Naturforſcher,
regelmäßig wiederkehrende Wanderverſammlungen zu halten. Auch der
König erſchien auf einen Tag und bemühte ſich wenig, der Profeſſoren-
welt ſeine Verachtung zu verbergen. Als die Bürgerſchaft vor der neuen
Aula das Standbild ſeines verſtorbenen Bruders einweihte, drehte er in
dem Augenblicke, da die Hülle fiel, mit ſcharfer Wendung dem Denkmal
den Rücken zu*); die philoſophiſche Facultät aber erhielt einen ſchnöden
Verweis, weil ſie Stüve zum Ehren-Doctor ernannt hatte.

Mit ſeinen politiſchen Plänen war Ernſt Auguſt noch immer nicht
im Reinen. Je länger er zögerte, um ſo gewiſſer ward es, daß ihm der
gegenwärtige Landtag keine wichtige Verfaſſungsänderung mehr bewilligen
konnte. Da bot ſich ein Helfer. Weil die Gutachten des Miniſteriums
und der Commiſſion nicht nach Wunſch ausgefallen waren, ſo wurde der
Canzleidirector Leiſt mit einer dritten Prüfung der Rechtsfrage beauftragt,
ein gelehrter alter Reichsjuriſt, der einſt wie Schele in weſtphäliſche Dienſte
gegangen und auf höheren Befehl zu jeder Rechtsverdrehung gern bereit
war. Der bewies jetzt, das Staatsgrundgeſetz ſei ungiltig, weil die Zu-
ſtimmung der Agnaten fehle und König Wilhelm IV. nachträglich noch
einige Paragraphen einſeitig geändert habe.**) Nun endlich begann dem
Welfen einzuleuchten, daß Schele’s urſprüngliche Abſicht doch das Rechte
getroffen hätte. Am 1. November wurde durch ein zweites Patent das
Staatsgrundgeſetz aufgehoben, die alte Verfaſſung von 1819 wieder ein-
geführt, das Beamtenthum — oder, wie es fortan hieß: die königlichen
Diener — des Verfaſſungseides entbunden, endlich, als ob man das Volk
beſtechen wollte, den getreuen Unterthanen die Summe von 100,000 Thlr.
jährlich an den direkten Steuern erlaſſen.

So maßte ſich der welfiſche König das Recht an, ſeine Beamten eines
nicht ihm geleiſteten Eides zu entbinden — ein Recht, das in der römiſchen

*) Nach der Erzählung eines Augenzeugen.
**) S. o. IV. 163.
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[657/0671] Aufhebung des Staatsgrundgeſetzes. ſtreit und war viel zu klug um einen muthwilligen Rechtsbruch zu be- günſtigen. Die Zurückhaltung der Höfe ließ ſich wohl begreifen; ſie wußten nicht wo der Welfe hinaus wollte. Auch in Hannover blieb Alles ſtill. Man fühlte ſich gedrückt und verſtimmt, aber ſelbſt die Abgeordneten thaten nichts. Als die Georgia Auguſta im September das Jubelfeſt ihres hundertjährigen Beſtehens feierte, und faſt alle namhaften Männer des Landes in Göttingen zuſammentrafen, bot ſich faſt von ſelbſt die Gelegen- heit, gemeinſame Schritte zur Abwehr des drohenden Staatsſtreichs zu beſprechen. Auch dies ward verſäumt. Man ſchmauſte über Gräbern, ſagte Dahlmann bitter. Das Feſt verlief mit der gewohnten akademiſchen Pracht, Alexander Humboldt empfing die Huldigungen aller Facultäten, und die Philologen verabredeten ſich, nach dem Vorbilde der Naturforſcher, regelmäßig wiederkehrende Wanderverſammlungen zu halten. Auch der König erſchien auf einen Tag und bemühte ſich wenig, der Profeſſoren- welt ſeine Verachtung zu verbergen. Als die Bürgerſchaft vor der neuen Aula das Standbild ſeines verſtorbenen Bruders einweihte, drehte er in dem Augenblicke, da die Hülle fiel, mit ſcharfer Wendung dem Denkmal den Rücken zu *); die philoſophiſche Facultät aber erhielt einen ſchnöden Verweis, weil ſie Stüve zum Ehren-Doctor ernannt hatte. Mit ſeinen politiſchen Plänen war Ernſt Auguſt noch immer nicht im Reinen. Je länger er zögerte, um ſo gewiſſer ward es, daß ihm der gegenwärtige Landtag keine wichtige Verfaſſungsänderung mehr bewilligen konnte. Da bot ſich ein Helfer. Weil die Gutachten des Miniſteriums und der Commiſſion nicht nach Wunſch ausgefallen waren, ſo wurde der Canzleidirector Leiſt mit einer dritten Prüfung der Rechtsfrage beauftragt, ein gelehrter alter Reichsjuriſt, der einſt wie Schele in weſtphäliſche Dienſte gegangen und auf höheren Befehl zu jeder Rechtsverdrehung gern bereit war. Der bewies jetzt, das Staatsgrundgeſetz ſei ungiltig, weil die Zu- ſtimmung der Agnaten fehle und König Wilhelm IV. nachträglich noch einige Paragraphen einſeitig geändert habe. **) Nun endlich begann dem Welfen einzuleuchten, daß Schele’s urſprüngliche Abſicht doch das Rechte getroffen hätte. Am 1. November wurde durch ein zweites Patent das Staatsgrundgeſetz aufgehoben, die alte Verfaſſung von 1819 wieder ein- geführt, das Beamtenthum — oder, wie es fortan hieß: die königlichen Diener — des Verfaſſungseides entbunden, endlich, als ob man das Volk beſtechen wollte, den getreuen Unterthanen die Summe von 100,000 Thlr. jährlich an den direkten Steuern erlaſſen. So maßte ſich der welfiſche König das Recht an, ſeine Beamten eines nicht ihm geleiſteten Eides zu entbinden — ein Recht, das in der römiſchen *) Nach der Erzählung eines Augenzeugen. **) S. o. IV. 163. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 42

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 657. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/671>, abgerufen am 27.04.2024.