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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 9. Der welfische Staatsstreich.
behielt die überreichten silbernen Schlüssel der Stadt bei sich; so that er
fortan immer, in seiner Hut sollte das Land sicher aufgehoben sein. Ohne
die Beleuchtung der Hauptstadt eines Blickes zu würdigen, arbeitete Ernst
August bis in die Nacht hinein zusammen mit Schele. Der Name dieses
reaktionären Heißsporns sagte Alles; und wenn man ihn nur für einen
ehrlichen Fanatiker hätte halten können! Er war aber einst trotz seiner
legitimistischen Gesinnung freiwillig in den Staatsrath des Königs Jerome
eingetreten; Vertrauen fand er nirgends. Am nächsten Tage versammelte
sich der Landtag; Jedermann erwartete, der König werde nunmehr, wie
das Staatsgrundgesetz vorschrieb, durch ein Patent seinen Regierungsan-
tritt anzeigen und die Aufrechthaltung der Verfassung geloben. Statt
dessen erschien plötzlich eine königliche Verordnung, welche die Landstände
vertagte. Die erste Kammer gehorchte alsbald dem Befehle, in der zweiten
fragte der Vorsitzende Rumann sichtlich betroffen, ob Niemand etwas zu
dem verlesenen Aktenstücke zu bemerken habe. Da erhob sich Stüve, noch
völlig rathlos; er hatte einen Staatsstreich für unmöglich gehalten, weil
er mit seinem Machiavelli glaubte, daß die Menschen weder ganz gut
noch ganz böse zu sein verstehen.*) In seiner Verwirrung brachte er nur
die Worte hervor, Seine Majestät habe die Regierung wohl noch nicht
angetreten. Er hoffte, andere Abgeordnete würden ihm beistehen. Aber
Alles schwieg bestürzt: ein rechtsgiltiger Beschluß war ohne die erste Kammer
unmöglich, und wer konnte denn wissen, ob nicht derweil man hier saß
das königliche Patent schon erschienen war? Auch die zweite Kammer ging
ruhig aus einander.

Dergestalt hatte der schlaue Welfe durch eine wohlberechnete Ueber-
raschung die Stände verhindert das Recht des Landes feierlich zu ver-
wahren. Inzwischen wurde Schele zum Cabinetsminister ernannt, und
obwohl er selbst schon als Geheimer Rath den Verfassungseid geleistet hatte,
so ließ er sich's doch wohl gefallen, daß der König aus seinem neuen Dienst-
eide die Verpflichtung auf das Staatsgrundgesetz eigenhändig ausstrich.
Schele blieb vor der Hand der einzige vertraute Rathgeber des Welfen.
Auf Münster's Beistand war nicht zu rechnen; der Graf dachte doch zu
vornehm um sich an dem Gewaltstreiche selbst zu betheiligen, wenngleich er
die Demüthigung seiner alten Gegner nicht ohne Schadenfreude betrachtete,
und war überdies mit Cumberland's Eigenwillen niemals gut ausgekommen.
Der neue Minister rieth nun, der König möge sofort den Landtag auf-
lösen und die alte Verfassung von 1819 wieder in Kraft setzen, so gewinne
man alsbald einen festen Rechtsboden.**) Dazu konnte sich Ernst August
nicht verstehen. Sogleich nach seiner Ankunft aus der Fremde die ge-

*) Nach der oben angeführten Biographie Stüve's.
**) So erzählt Schele selbst in den Randbemerkungen zu den Berichten seines Sohnes
v. 11. und 18. Aug. 1837.

IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.
behielt die überreichten ſilbernen Schlüſſel der Stadt bei ſich; ſo that er
fortan immer, in ſeiner Hut ſollte das Land ſicher aufgehoben ſein. Ohne
die Beleuchtung der Hauptſtadt eines Blickes zu würdigen, arbeitete Ernſt
Auguſt bis in die Nacht hinein zuſammen mit Schele. Der Name dieſes
reaktionären Heißſporns ſagte Alles; und wenn man ihn nur für einen
ehrlichen Fanatiker hätte halten können! Er war aber einſt trotz ſeiner
legitimiſtiſchen Geſinnung freiwillig in den Staatsrath des Königs Jerome
eingetreten; Vertrauen fand er nirgends. Am nächſten Tage verſammelte
ſich der Landtag; Jedermann erwartete, der König werde nunmehr, wie
das Staatsgrundgeſetz vorſchrieb, durch ein Patent ſeinen Regierungsan-
tritt anzeigen und die Aufrechthaltung der Verfaſſung geloben. Statt
deſſen erſchien plötzlich eine königliche Verordnung, welche die Landſtände
vertagte. Die erſte Kammer gehorchte alsbald dem Befehle, in der zweiten
fragte der Vorſitzende Rumann ſichtlich betroffen, ob Niemand etwas zu
dem verleſenen Aktenſtücke zu bemerken habe. Da erhob ſich Stüve, noch
völlig rathlos; er hatte einen Staatsſtreich für unmöglich gehalten, weil
er mit ſeinem Machiavelli glaubte, daß die Menſchen weder ganz gut
noch ganz böſe zu ſein verſtehen.*) In ſeiner Verwirrung brachte er nur
die Worte hervor, Seine Majeſtät habe die Regierung wohl noch nicht
angetreten. Er hoffte, andere Abgeordnete würden ihm beiſtehen. Aber
Alles ſchwieg beſtürzt: ein rechtsgiltiger Beſchluß war ohne die erſte Kammer
unmöglich, und wer konnte denn wiſſen, ob nicht derweil man hier ſaß
das königliche Patent ſchon erſchienen war? Auch die zweite Kammer ging
ruhig aus einander.

Dergeſtalt hatte der ſchlaue Welfe durch eine wohlberechnete Ueber-
raſchung die Stände verhindert das Recht des Landes feierlich zu ver-
wahren. Inzwiſchen wurde Schele zum Cabinetsminiſter ernannt, und
obwohl er ſelbſt ſchon als Geheimer Rath den Verfaſſungseid geleiſtet hatte,
ſo ließ er ſich’s doch wohl gefallen, daß der König aus ſeinem neuen Dienſt-
eide die Verpflichtung auf das Staatsgrundgeſetz eigenhändig ausſtrich.
Schele blieb vor der Hand der einzige vertraute Rathgeber des Welfen.
Auf Münſter’s Beiſtand war nicht zu rechnen; der Graf dachte doch zu
vornehm um ſich an dem Gewaltſtreiche ſelbſt zu betheiligen, wenngleich er
die Demüthigung ſeiner alten Gegner nicht ohne Schadenfreude betrachtete,
und war überdies mit Cumberland’s Eigenwillen niemals gut ausgekommen.
Der neue Miniſter rieth nun, der König möge ſofort den Landtag auf-
löſen und die alte Verfaſſung von 1819 wieder in Kraft ſetzen, ſo gewinne
man alsbald einen feſten Rechtsboden.**) Dazu konnte ſich Ernſt Auguſt
nicht verſtehen. Sogleich nach ſeiner Ankunft aus der Fremde die ge-

*) Nach der oben angeführten Biographie Stüve’s.
**) So erzählt Schele ſelbſt in den Randbemerkungen zu den Berichten ſeines Sohnes
v. 11. und 18. Aug. 1837.
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[650/0664] IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich. behielt die überreichten ſilbernen Schlüſſel der Stadt bei ſich; ſo that er fortan immer, in ſeiner Hut ſollte das Land ſicher aufgehoben ſein. Ohne die Beleuchtung der Hauptſtadt eines Blickes zu würdigen, arbeitete Ernſt Auguſt bis in die Nacht hinein zuſammen mit Schele. Der Name dieſes reaktionären Heißſporns ſagte Alles; und wenn man ihn nur für einen ehrlichen Fanatiker hätte halten können! Er war aber einſt trotz ſeiner legitimiſtiſchen Geſinnung freiwillig in den Staatsrath des Königs Jerome eingetreten; Vertrauen fand er nirgends. Am nächſten Tage verſammelte ſich der Landtag; Jedermann erwartete, der König werde nunmehr, wie das Staatsgrundgeſetz vorſchrieb, durch ein Patent ſeinen Regierungsan- tritt anzeigen und die Aufrechthaltung der Verfaſſung geloben. Statt deſſen erſchien plötzlich eine königliche Verordnung, welche die Landſtände vertagte. Die erſte Kammer gehorchte alsbald dem Befehle, in der zweiten fragte der Vorſitzende Rumann ſichtlich betroffen, ob Niemand etwas zu dem verleſenen Aktenſtücke zu bemerken habe. Da erhob ſich Stüve, noch völlig rathlos; er hatte einen Staatsſtreich für unmöglich gehalten, weil er mit ſeinem Machiavelli glaubte, daß die Menſchen weder ganz gut noch ganz böſe zu ſein verſtehen. *) In ſeiner Verwirrung brachte er nur die Worte hervor, Seine Majeſtät habe die Regierung wohl noch nicht angetreten. Er hoffte, andere Abgeordnete würden ihm beiſtehen. Aber Alles ſchwieg beſtürzt: ein rechtsgiltiger Beſchluß war ohne die erſte Kammer unmöglich, und wer konnte denn wiſſen, ob nicht derweil man hier ſaß das königliche Patent ſchon erſchienen war? Auch die zweite Kammer ging ruhig aus einander. Dergeſtalt hatte der ſchlaue Welfe durch eine wohlberechnete Ueber- raſchung die Stände verhindert das Recht des Landes feierlich zu ver- wahren. Inzwiſchen wurde Schele zum Cabinetsminiſter ernannt, und obwohl er ſelbſt ſchon als Geheimer Rath den Verfaſſungseid geleiſtet hatte, ſo ließ er ſich’s doch wohl gefallen, daß der König aus ſeinem neuen Dienſt- eide die Verpflichtung auf das Staatsgrundgeſetz eigenhändig ausſtrich. Schele blieb vor der Hand der einzige vertraute Rathgeber des Welfen. Auf Münſter’s Beiſtand war nicht zu rechnen; der Graf dachte doch zu vornehm um ſich an dem Gewaltſtreiche ſelbſt zu betheiligen, wenngleich er die Demüthigung ſeiner alten Gegner nicht ohne Schadenfreude betrachtete, und war überdies mit Cumberland’s Eigenwillen niemals gut ausgekommen. Der neue Miniſter rieth nun, der König möge ſofort den Landtag auf- löſen und die alte Verfaſſung von 1819 wieder in Kraft ſetzen, ſo gewinne man alsbald einen feſten Rechtsboden. **) Dazu konnte ſich Ernſt Auguſt nicht verſtehen. Sogleich nach ſeiner Ankunft aus der Fremde die ge- *) Nach der oben angeführten Biographie Stüve’s. **) So erzählt Schele ſelbſt in den Randbemerkungen zu den Berichten ſeines Sohnes v. 11. und 18. Aug. 1837.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 650. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/664>, abgerufen am 28.04.2024.