Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.IV. 8. Stille Jahre. bedeuteten, nur kurze Zeit im Amte blieben; dann verschwanden sie plötz-lich aus räthselhaften Gründen, manche kehrten späterhin wieder in das Ministerium zurück. In Berlin hatte man nachgerade verlernt, sich über dies Regierungssystem zu verwundern. Ancillon meinte, dergleichen Ent- lassungen bedeuteten nach hessischen Verhältnissen gar nichts, und fügte die weise Lehre hinzu: blinde Nachgiebigkeit schützt nicht vor der Ungnade eines willkürlichen Fürsten. Wie verführerisch mußte in einem solchen Lande jener thörichte Artikel 100 des Grundgesetzes erscheinen, der die Stände verpflichtete die Minister wegen Verletzung der Verfassung anzu- klagen. Die Landstände sahen -- so sagte eine ihrer Klagschriften -- daß Hassenpflug "gegen das lebendige Wirken und die gesetzliche Entwicklung der Verfassung unermüdlich ankämpfte." Doch so gewiß er den Geist der Verfassung zu zerstören suchte, ihren Wortlaut zu verletzen hütete er sich klüglich; eine rechtliche Verschuldung ließ sich ihm nicht nachweisen. Gleich- wohl verklagte ihn der Landtag viermal vor dem Oberappellationsgerichte; die eine der Anklageschriften zählte allein dreizehn angebliche Verfassungs- verletzungen auf: das Verfahren gegen Jordan, die Urlaubsverweigerungen, die Landtagsauflösungen ohne Landtagsabschied, dazu eine Menge uner- heblicher Dinge, sogar die verspätete Einstellung der Rekruten. Zum ersten male seit dem Bestande der neuen Verfassungen unter- IV. 8. Stille Jahre. bedeuteten, nur kurze Zeit im Amte blieben; dann verſchwanden ſie plötz-lich aus räthſelhaften Gründen, manche kehrten ſpäterhin wieder in das Miniſterium zurück. In Berlin hatte man nachgerade verlernt, ſich über dies Regierungsſyſtem zu verwundern. Ancillon meinte, dergleichen Ent- laſſungen bedeuteten nach heſſiſchen Verhältniſſen gar nichts, und fügte die weiſe Lehre hinzu: blinde Nachgiebigkeit ſchützt nicht vor der Ungnade eines willkürlichen Fürſten. Wie verführeriſch mußte in einem ſolchen Lande jener thörichte Artikel 100 des Grundgeſetzes erſcheinen, der die Stände verpflichtete die Miniſter wegen Verletzung der Verfaſſung anzu- klagen. Die Landſtände ſahen — ſo ſagte eine ihrer Klagſchriften — daß Haſſenpflug „gegen das lebendige Wirken und die geſetzliche Entwicklung der Verfaſſung unermüdlich ankämpfte.“ Doch ſo gewiß er den Geiſt der Verfaſſung zu zerſtören ſuchte, ihren Wortlaut zu verletzen hütete er ſich klüglich; eine rechtliche Verſchuldung ließ ſich ihm nicht nachweiſen. Gleich- wohl verklagte ihn der Landtag viermal vor dem Oberappellationsgerichte; die eine der Anklageſchriften zählte allein dreizehn angebliche Verfaſſungs- verletzungen auf: das Verfahren gegen Jordan, die Urlaubsverweigerungen, die Landtagsauflöſungen ohne Landtagsabſchied, dazu eine Menge uner- heblicher Dinge, ſogar die verſpätete Einſtellung der Rekruten. Zum erſten male ſeit dem Beſtande der neuen Verfaſſungen unter- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0636" n="622"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">IV.</hi> 8. Stille Jahre.</fw><lb/> bedeuteten, nur kurze Zeit im Amte blieben; dann verſchwanden ſie plötz-<lb/> lich aus räthſelhaften Gründen, manche kehrten ſpäterhin wieder in das<lb/> Miniſterium zurück. In Berlin hatte man nachgerade verlernt, ſich über<lb/> dies Regierungsſyſtem zu verwundern. 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In ſeiner Vertheidigungsſchrift ſprach<lb/> er ſehr ſcharf wider die Rechtsverdrehungen der Liberalen; er beſchwor die<lb/> Richter, „Heſſens Verfaſſung frei zu halten von ſolchem Widerſinn, ſolcher<lb/> Barbarei und ſolcher, die Bekleidung jedes höheren Staatsamtes Jedem<lb/> unmöglich machenden Auslegung.“ Das Oberappellationsgericht, das zum<lb/> guten Theile aus Liberalen beſtand und ſo oft ſchon fürſtlicher Willkür<lb/> tapfer entgegengetreten war, zeigte diesmal auch nach unten hin eine ehren-<lb/> werthe Selbſtändigkeit. Haſſenpflug wurde in allen vier Fällen freige-<lb/> ſprochen und veröffentlichte, zur Beſchämung des Landtags, ſämmtliche<lb/> Aktenſtücke, die allerdings nur den Juriſten, nicht den Politikern ſeine Un-<lb/> ſchuld darlegten. Der preußiſche Hof hielt ſich von dieſem Streite, wie<lb/> von allen den inneren Zwiſtigkeiten der kleinen Staaten, behutſam zurück.<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [622/0636]
IV. 8. Stille Jahre.
bedeuteten, nur kurze Zeit im Amte blieben; dann verſchwanden ſie plötz-
lich aus räthſelhaften Gründen, manche kehrten ſpäterhin wieder in das
Miniſterium zurück. In Berlin hatte man nachgerade verlernt, ſich über
dies Regierungsſyſtem zu verwundern. Ancillon meinte, dergleichen Ent-
laſſungen bedeuteten nach heſſiſchen Verhältniſſen gar nichts, und fügte
die weiſe Lehre hinzu: blinde Nachgiebigkeit ſchützt nicht vor der Ungnade
eines willkürlichen Fürſten. Wie verführeriſch mußte in einem ſolchen
Lande jener thörichte Artikel 100 des Grundgeſetzes erſcheinen, der die
Stände verpflichtete die Miniſter wegen Verletzung der Verfaſſung anzu-
klagen. Die Landſtände ſahen — ſo ſagte eine ihrer Klagſchriften — daß
Haſſenpflug „gegen das lebendige Wirken und die geſetzliche Entwicklung
der Verfaſſung unermüdlich ankämpfte.“ Doch ſo gewiß er den Geiſt der
Verfaſſung zu zerſtören ſuchte, ihren Wortlaut zu verletzen hütete er ſich
klüglich; eine rechtliche Verſchuldung ließ ſich ihm nicht nachweiſen. Gleich-
wohl verklagte ihn der Landtag viermal vor dem Oberappellationsgerichte;
die eine der Anklageſchriften zählte allein dreizehn angebliche Verfaſſungs-
verletzungen auf: das Verfahren gegen Jordan, die Urlaubsverweigerungen,
die Landtagsauflöſungen ohne Landtagsabſchied, dazu eine Menge uner-
heblicher Dinge, ſogar die verſpätete Einſtellung der Rekruten.
Zum erſten male ſeit dem Beſtande der neuen Verfaſſungen unter-
nahm ein deutſcher Landtag die zweiſchneidige Waffe der Miniſteranklage
zu gebrauchen, und es wurde verhängnißvoll für die Zukunft unſeres Par-
lamentarismus, daß dieſer erſte Verſuch jämmerlich mißlang. Der Tübinger
Staatsrechtslehrer Robert Mohl übernahm die Vertheidigung des Mini-
ſters, den er ſicherlich nicht liebte. Mohl hatte ſich ſchon als junger Mann
durch ſeinen wiſſenſchaftlichen Freimuth die Ungnade des Bundestags zu-
gezogen und ſeine conſtitutionelle Geſinnung ſoeben wieder in dem treff-
lichen Lehrbuche des Württembergiſchen Staatsrechts bewährt, doch er ver-
ſchmähte den Launen der öffentlichen Meinung zu folgen und er erkannte,
daß die deutſchen Landtage unbedacht ihr eigenes Anſehen untergruben,
wenn ſie politiſche Machtfragen und Meinungsverſchiedenheiten auf dem
Rechtswege zu entſcheiden ſuchten. In ſeiner Vertheidigungsſchrift ſprach
er ſehr ſcharf wider die Rechtsverdrehungen der Liberalen; er beſchwor die
Richter, „Heſſens Verfaſſung frei zu halten von ſolchem Widerſinn, ſolcher
Barbarei und ſolcher, die Bekleidung jedes höheren Staatsamtes Jedem
unmöglich machenden Auslegung.“ Das Oberappellationsgericht, das zum
guten Theile aus Liberalen beſtand und ſo oft ſchon fürſtlicher Willkür
tapfer entgegengetreten war, zeigte diesmal auch nach unten hin eine ehren-
werthe Selbſtändigkeit. Haſſenpflug wurde in allen vier Fällen freige-
ſprochen und veröffentlichte, zur Beſchämung des Landtags, ſämmtliche
Aktenſtücke, die allerdings nur den Juriſten, nicht den Politikern ſeine Un-
ſchuld darlegten. Der preußiſche Hof hielt ſich von dieſem Streite, wie
von allen den inneren Zwiſtigkeiten der kleinen Staaten, behutſam zurück.
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