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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Das neue Gesangbuch.
setzes bedürfen." Es gelang ihm auch, den Streit glimpflich beizulegen.
Freilich kam sein Eifer für die Gewissensfreiheit immer nur den Alt-
gläubigen zu gute; seinem historischen Sinne war das Gesangbuch nicht
alterthümlich genug. "Ich finde -- so schrieb er -- das Buch eben als
Buch, ohne alle Nebengedanken, ein gutes Buch, welches hundert Meilen
über dem skandalösen früheren neuen Gesangbuch steht. Aber als Werk,
als Produkt aus gegebenen Größen, finde ich es, ohne allen Umschweif
zu reden, schlecht, nicht etwa wegen Mängel an der Arbeit daran, wovon
ich hier nicht reden will, sondern ganz allein darum, weil nach meiner
felsenfest stehenden Ansicht und Geschmack der Homer, der Mahabarat, die
Nibelungen etc. etc. etc. nach solchen Grundsätzen geändert, wie hier die alten
teutschen Lieder, und zwar von der Hand eines Erzengels, nothwendig eine
Mißgeburt werden müssen. Das ist so ein Grundsatz, der in sich eines
und so mit meiner Individualität verwachsen ist, daß sich darüber mit mir
gar nicht streiten läßt."*)

Noch weit schmerzlicher berührte den Kronprinzen die kleinliche Be-
drückung der Altlutheraner; er hielt sich verpflichtet, und mit Recht, dem
befreundeten Minister offene Opposition anzukündigen. Allerdings bestand
kein vernünftiger Grund für den Austritt der Altlutheraner aus der unirten
Landeskirche; denn die Union ließ die Glaubenswahrheiten unberührt, und
auch die strenglutherischen Cultusformen konnten ganz unverändert fort-
bestehen, da die Gemeinden und ihre Geistlichen zwischen den zahlreichen
altlutherischen Formularen, welche der Anhang der neuen Agende enthielt,
frei wählen durften. Aber wann hätte der religiöse Glaube je nach Ver-
nunftgründen gefragt? Unterwarfen sich die Altlutheraner der Agende,
so erkannten sie die Reformirten als ihre evangelischen Brüder an, was
der Meinung Luther's unzweifelhaft zuwiderlief; und zu einem solchen
Zugeständniß konnte sie der Staat so wenig zwingen, wie er die Katho-
liken verhindern konnte, die Protestanten für Ketzer zu halten. Die armen,
verblendeten, durch fanatische Prediger aufgewiegelten Menschen, meist
kleine Leute aus Schlesien, hielten sich in ihrem Gewissen verpflichtet,
keinerlei kirchliche Gemeinschaft mit den Reformirten einzugehen, und wie
beschränkt, hart, unduldsam ihr Glaubenseifer auch erscheinen mochte, sie
bewährten sich doch als die Erben jener tapferen alten Schlesier, welche
einst den kaiserlichen Seligmachern getrotzt hatten. Die Breslauer Alt-
lutheraner glaubten nur dem Gebote Gottes zu gehorchen, als sie den
König um die Erlaubniß baten, unter der Führung ihres gottseligen Pre-
digers Scheibel eine selbständige kleine Kirche zu bilden. Friedrich Wilhelm
ließ sie abweisen; er meinte wie Altenstein, die Bittenden behaupteten ja
selbst Protestanten zu sein und gehörten mithin von Rechtswegen der evan-
gelischen Landeskirche an.

*) Kronprinz Fr. Wilhelm an Altenstein, 24. Oct. 1829, 2. Mai 1830.

Das neue Geſangbuch.
ſetzes bedürfen.“ Es gelang ihm auch, den Streit glimpflich beizulegen.
Freilich kam ſein Eifer für die Gewiſſensfreiheit immer nur den Alt-
gläubigen zu gute; ſeinem hiſtoriſchen Sinne war das Geſangbuch nicht
alterthümlich genug. „Ich finde — ſo ſchrieb er — das Buch eben als
Buch, ohne alle Nebengedanken, ein gutes Buch, welches hundert Meilen
über dem ſkandalöſen früheren neuen Geſangbuch ſteht. Aber als Werk,
als Produkt aus gegebenen Größen, finde ich es, ohne allen Umſchweif
zu reden, ſchlecht, nicht etwa wegen Mängel an der Arbeit daran, wovon
ich hier nicht reden will, ſondern ganz allein darum, weil nach meiner
felſenfeſt ſtehenden Anſicht und Geſchmack der Homer, der Mahabarat, die
Nibelungen etc. etc. etc. nach ſolchen Grundſätzen geändert, wie hier die alten
teutſchen Lieder, und zwar von der Hand eines Erzengels, nothwendig eine
Mißgeburt werden müſſen. Das iſt ſo ein Grundſatz, der in ſich eines
und ſo mit meiner Individualität verwachſen iſt, daß ſich darüber mit mir
gar nicht ſtreiten läßt.“*)

Noch weit ſchmerzlicher berührte den Kronprinzen die kleinliche Be-
drückung der Altlutheraner; er hielt ſich verpflichtet, und mit Recht, dem
befreundeten Miniſter offene Oppoſition anzukündigen. Allerdings beſtand
kein vernünftiger Grund für den Austritt der Altlutheraner aus der unirten
Landeskirche; denn die Union ließ die Glaubenswahrheiten unberührt, und
auch die ſtrenglutheriſchen Cultusformen konnten ganz unverändert fort-
beſtehen, da die Gemeinden und ihre Geiſtlichen zwiſchen den zahlreichen
altlutheriſchen Formularen, welche der Anhang der neuen Agende enthielt,
frei wählen durften. Aber wann hätte der religiöſe Glaube je nach Ver-
nunftgründen gefragt? Unterwarfen ſich die Altlutheraner der Agende,
ſo erkannten ſie die Reformirten als ihre evangeliſchen Brüder an, was
der Meinung Luther’s unzweifelhaft zuwiderlief; und zu einem ſolchen
Zugeſtändniß konnte ſie der Staat ſo wenig zwingen, wie er die Katho-
liken verhindern konnte, die Proteſtanten für Ketzer zu halten. Die armen,
verblendeten, durch fanatiſche Prediger aufgewiegelten Menſchen, meiſt
kleine Leute aus Schleſien, hielten ſich in ihrem Gewiſſen verpflichtet,
keinerlei kirchliche Gemeinſchaft mit den Reformirten einzugehen, und wie
beſchränkt, hart, unduldſam ihr Glaubenseifer auch erſcheinen mochte, ſie
bewährten ſich doch als die Erben jener tapferen alten Schleſier, welche
einſt den kaiſerlichen Seligmachern getrotzt hatten. Die Breslauer Alt-
lutheraner glaubten nur dem Gebote Gottes zu gehorchen, als ſie den
König um die Erlaubniß baten, unter der Führung ihres gottſeligen Pre-
digers Scheibel eine ſelbſtändige kleine Kirche zu bilden. Friedrich Wilhelm
ließ ſie abweiſen; er meinte wie Altenſtein, die Bittenden behaupteten ja
ſelbſt Proteſtanten zu ſein und gehörten mithin von Rechtswegen der evan-
geliſchen Landeskirche an.

*) Kronprinz Fr. Wilhelm an Altenſtein, 24. Oct. 1829, 2. Mai 1830.
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[565/0579] Das neue Geſangbuch. ſetzes bedürfen.“ Es gelang ihm auch, den Streit glimpflich beizulegen. Freilich kam ſein Eifer für die Gewiſſensfreiheit immer nur den Alt- gläubigen zu gute; ſeinem hiſtoriſchen Sinne war das Geſangbuch nicht alterthümlich genug. „Ich finde — ſo ſchrieb er — das Buch eben als Buch, ohne alle Nebengedanken, ein gutes Buch, welches hundert Meilen über dem ſkandalöſen früheren neuen Geſangbuch ſteht. Aber als Werk, als Produkt aus gegebenen Größen, finde ich es, ohne allen Umſchweif zu reden, ſchlecht, nicht etwa wegen Mängel an der Arbeit daran, wovon ich hier nicht reden will, ſondern ganz allein darum, weil nach meiner felſenfeſt ſtehenden Anſicht und Geſchmack der Homer, der Mahabarat, die Nibelungen etc. etc. etc. nach ſolchen Grundſätzen geändert, wie hier die alten teutſchen Lieder, und zwar von der Hand eines Erzengels, nothwendig eine Mißgeburt werden müſſen. Das iſt ſo ein Grundſatz, der in ſich eines und ſo mit meiner Individualität verwachſen iſt, daß ſich darüber mit mir gar nicht ſtreiten läßt.“ *) Noch weit ſchmerzlicher berührte den Kronprinzen die kleinliche Be- drückung der Altlutheraner; er hielt ſich verpflichtet, und mit Recht, dem befreundeten Miniſter offene Oppoſition anzukündigen. Allerdings beſtand kein vernünftiger Grund für den Austritt der Altlutheraner aus der unirten Landeskirche; denn die Union ließ die Glaubenswahrheiten unberührt, und auch die ſtrenglutheriſchen Cultusformen konnten ganz unverändert fort- beſtehen, da die Gemeinden und ihre Geiſtlichen zwiſchen den zahlreichen altlutheriſchen Formularen, welche der Anhang der neuen Agende enthielt, frei wählen durften. Aber wann hätte der religiöſe Glaube je nach Ver- nunftgründen gefragt? Unterwarfen ſich die Altlutheraner der Agende, ſo erkannten ſie die Reformirten als ihre evangeliſchen Brüder an, was der Meinung Luther’s unzweifelhaft zuwiderlief; und zu einem ſolchen Zugeſtändniß konnte ſie der Staat ſo wenig zwingen, wie er die Katho- liken verhindern konnte, die Proteſtanten für Ketzer zu halten. Die armen, verblendeten, durch fanatiſche Prediger aufgewiegelten Menſchen, meiſt kleine Leute aus Schleſien, hielten ſich in ihrem Gewiſſen verpflichtet, keinerlei kirchliche Gemeinſchaft mit den Reformirten einzugehen, und wie beſchränkt, hart, unduldſam ihr Glaubenseifer auch erſcheinen mochte, ſie bewährten ſich doch als die Erben jener tapferen alten Schleſier, welche einſt den kaiſerlichen Seligmachern getrotzt hatten. Die Breslauer Alt- lutheraner glaubten nur dem Gebote Gottes zu gehorchen, als ſie den König um die Erlaubniß baten, unter der Führung ihres gottſeligen Pre- digers Scheibel eine ſelbſtändige kleine Kirche zu bilden. Friedrich Wilhelm ließ ſie abweiſen; er meinte wie Altenſtein, die Bittenden behaupteten ja ſelbſt Proteſtanten zu ſein und gehörten mithin von Rechtswegen der evan- geliſchen Landeskirche an. *) Kronprinz Fr. Wilhelm an Altenſtein, 24. Oct. 1829, 2. Mai 1830.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 565. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/579>, abgerufen am 24.11.2024.