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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 8. Stille Jahre.
Abgeordneten nicht mehr in Zucht hielt. Wie sich späterhin herausstellte,
zahlte Westphalen allerdings mehr Grundsteuer vom Reinertrage als die
Rheinprovinz, aber nicht mehr als Sachsen und weniger als Schlesien.
Gleichwohl behaupteten die Landstände beharrlich, die Provinz sei um ein
volles Drittel zu hoch eingeschätzt. Der Zorn legte sich auch nicht, als
endlich, 1839, nach vollendeter Katastrirung, das verständige Grundsteuer-
gesetz für die westlichen Provinzen erschien; denn die Gesammtsumme der
Grundsteuer blieb natürlich unverändert, da die Lage des Staatshaushalts
jeden Steuererlaß verbot. Einig in der Opposition, hegten die beiden west-
lichen Provinzen doch, nach alter Gewohnheit, grundverschiedene Gesinnungen.
Während die Rheinländer, ihres modernen Codes froh, auf die reaktionären
Ostländer herabschauten, beargwöhnte die conservative Mehrheit der West-
phalen das Berliner Cabinet wegen seiner jacobinischen Neigungen. Der
Entwurf der Landgemeindeordnung wurde auch auf dem Münsterschen
Landtage beanstandet, aber nur weil er den Westphalen zu liberal schien;
sie fanden es unerhört, daß fortan alle Einwohner mit selbständigem Haus-
halt das Stimmrecht erhalten sollten, und verlangten von jedem Gemeinde-
bürger "einen angemessenen Grundbesitz".

Die Gesinnungen des Adels bekundeten sich in einer Schrift "über
die Grundlagen unserer Verfassung", welche der Freiherr Werner v. Haxt-
hausen während des Landtags von 1833 unter den Abgeordneten verbreiten
ließ. Haxthausen war einer der Stifter des Tugendbundes, hochbegeistert
für Deutschlands Größe, edel, geistvoll, reichgebildet, mit Steffens und den
Brüdern Grimm nahe befreundet, aber in Politik und Religion durchaus
Romantiker. Er forderte die alten Landtage von Paderborn, Münster,
Ravensberg zurück, er verdammte als strenger Katholik die Secularisationen,
er verwarf das gesammte moderne Staatsleben, sogar die neue Städteord-
nung und betrachtete das Beamtenthum als eine Schmarotzerpflanze, die der
kräftigen westphälischen Eiche den Saft aussauge. Wenn ein guter Preuße
also redete, was ließ sich vollends von den vaterlandslosen Domherren-
geschlechtern des Münsterlandes erwarten? Oder gar von der Clerisei,
die hier noch dreister als am Rhein den "protestantischen" Behörden ihre
Geringschätzung zeigte? Es fehlte nur ein Funke, um einen gefährlichen
Brand zu entzünden.*) So schwer bestrafte sich die unnatürliche, durch
die Provinzialstände verschärfte Trennung der Provinzen; den bürgerlichen
und protestantischen Elementen, welche Westphalen in seinen Industrie-
bezirken besaß, fehlte jede Gelegenheit, sich mit den verwandten Kräften
des Ostens zu verständigen. --

Den westlichen Provinzen begegnete die Regierung mit Schonung, in
Posen aber ging, nach Allem, was man an den Polen erlebt, selbst die

*) Tzschoppe an Wittgenstein, 3. Sept. 1833, mit Stimmungsberichten aus Rhein-
land und Westphalen.

IV. 8. Stille Jahre.
Abgeordneten nicht mehr in Zucht hielt. Wie ſich ſpäterhin herausſtellte,
zahlte Weſtphalen allerdings mehr Grundſteuer vom Reinertrage als die
Rheinprovinz, aber nicht mehr als Sachſen und weniger als Schleſien.
Gleichwohl behaupteten die Landſtände beharrlich, die Provinz ſei um ein
volles Drittel zu hoch eingeſchätzt. Der Zorn legte ſich auch nicht, als
endlich, 1839, nach vollendeter Kataſtrirung, das verſtändige Grundſteuer-
geſetz für die weſtlichen Provinzen erſchien; denn die Geſammtſumme der
Grundſteuer blieb natürlich unverändert, da die Lage des Staatshaushalts
jeden Steuererlaß verbot. Einig in der Oppoſition, hegten die beiden weſt-
lichen Provinzen doch, nach alter Gewohnheit, grundverſchiedene Geſinnungen.
Während die Rheinländer, ihres modernen Codes froh, auf die reaktionären
Oſtländer herabſchauten, beargwöhnte die conſervative Mehrheit der Weſt-
phalen das Berliner Cabinet wegen ſeiner jacobiniſchen Neigungen. Der
Entwurf der Landgemeindeordnung wurde auch auf dem Münſterſchen
Landtage beanſtandet, aber nur weil er den Weſtphalen zu liberal ſchien;
ſie fanden es unerhört, daß fortan alle Einwohner mit ſelbſtändigem Haus-
halt das Stimmrecht erhalten ſollten, und verlangten von jedem Gemeinde-
bürger „einen angemeſſenen Grundbeſitz“.

Die Geſinnungen des Adels bekundeten ſich in einer Schrift „über
die Grundlagen unſerer Verfaſſung“, welche der Freiherr Werner v. Haxt-
hauſen während des Landtags von 1833 unter den Abgeordneten verbreiten
ließ. Haxthauſen war einer der Stifter des Tugendbundes, hochbegeiſtert
für Deutſchlands Größe, edel, geiſtvoll, reichgebildet, mit Steffens und den
Brüdern Grimm nahe befreundet, aber in Politik und Religion durchaus
Romantiker. Er forderte die alten Landtage von Paderborn, Münſter,
Ravensberg zurück, er verdammte als ſtrenger Katholik die Seculariſationen,
er verwarf das geſammte moderne Staatsleben, ſogar die neue Städteord-
nung und betrachtete das Beamtenthum als eine Schmarotzerpflanze, die der
kräftigen weſtphäliſchen Eiche den Saft ausſauge. Wenn ein guter Preuße
alſo redete, was ließ ſich vollends von den vaterlandsloſen Domherren-
geſchlechtern des Münſterlandes erwarten? Oder gar von der Cleriſei,
die hier noch dreiſter als am Rhein den „proteſtantiſchen“ Behörden ihre
Geringſchätzung zeigte? Es fehlte nur ein Funke, um einen gefährlichen
Brand zu entzünden.*) So ſchwer beſtrafte ſich die unnatürliche, durch
die Provinzialſtände verſchärfte Trennung der Provinzen; den bürgerlichen
und proteſtantiſchen Elementen, welche Weſtphalen in ſeinen Induſtrie-
bezirken beſaß, fehlte jede Gelegenheit, ſich mit den verwandten Kräften
des Oſtens zu verſtändigen. —

Den weſtlichen Provinzen begegnete die Regierung mit Schonung, in
Poſen aber ging, nach Allem, was man an den Polen erlebt, ſelbſt die

*) Tzſchoppe an Wittgenſtein, 3. Sept. 1833, mit Stimmungsberichten aus Rhein-
land und Weſtphalen.
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[556/0570] IV. 8. Stille Jahre. Abgeordneten nicht mehr in Zucht hielt. Wie ſich ſpäterhin herausſtellte, zahlte Weſtphalen allerdings mehr Grundſteuer vom Reinertrage als die Rheinprovinz, aber nicht mehr als Sachſen und weniger als Schleſien. Gleichwohl behaupteten die Landſtände beharrlich, die Provinz ſei um ein volles Drittel zu hoch eingeſchätzt. Der Zorn legte ſich auch nicht, als endlich, 1839, nach vollendeter Kataſtrirung, das verſtändige Grundſteuer- geſetz für die weſtlichen Provinzen erſchien; denn die Geſammtſumme der Grundſteuer blieb natürlich unverändert, da die Lage des Staatshaushalts jeden Steuererlaß verbot. Einig in der Oppoſition, hegten die beiden weſt- lichen Provinzen doch, nach alter Gewohnheit, grundverſchiedene Geſinnungen. Während die Rheinländer, ihres modernen Codes froh, auf die reaktionären Oſtländer herabſchauten, beargwöhnte die conſervative Mehrheit der Weſt- phalen das Berliner Cabinet wegen ſeiner jacobiniſchen Neigungen. Der Entwurf der Landgemeindeordnung wurde auch auf dem Münſterſchen Landtage beanſtandet, aber nur weil er den Weſtphalen zu liberal ſchien; ſie fanden es unerhört, daß fortan alle Einwohner mit ſelbſtändigem Haus- halt das Stimmrecht erhalten ſollten, und verlangten von jedem Gemeinde- bürger „einen angemeſſenen Grundbeſitz“. Die Geſinnungen des Adels bekundeten ſich in einer Schrift „über die Grundlagen unſerer Verfaſſung“, welche der Freiherr Werner v. Haxt- hauſen während des Landtags von 1833 unter den Abgeordneten verbreiten ließ. Haxthauſen war einer der Stifter des Tugendbundes, hochbegeiſtert für Deutſchlands Größe, edel, geiſtvoll, reichgebildet, mit Steffens und den Brüdern Grimm nahe befreundet, aber in Politik und Religion durchaus Romantiker. Er forderte die alten Landtage von Paderborn, Münſter, Ravensberg zurück, er verdammte als ſtrenger Katholik die Seculariſationen, er verwarf das geſammte moderne Staatsleben, ſogar die neue Städteord- nung und betrachtete das Beamtenthum als eine Schmarotzerpflanze, die der kräftigen weſtphäliſchen Eiche den Saft ausſauge. Wenn ein guter Preuße alſo redete, was ließ ſich vollends von den vaterlandsloſen Domherren- geſchlechtern des Münſterlandes erwarten? Oder gar von der Cleriſei, die hier noch dreiſter als am Rhein den „proteſtantiſchen“ Behörden ihre Geringſchätzung zeigte? Es fehlte nur ein Funke, um einen gefährlichen Brand zu entzünden. *) So ſchwer beſtrafte ſich die unnatürliche, durch die Provinzialſtände verſchärfte Trennung der Provinzen; den bürgerlichen und proteſtantiſchen Elementen, welche Weſtphalen in ſeinen Induſtrie- bezirken beſaß, fehlte jede Gelegenheit, ſich mit den verwandten Kräften des Oſtens zu verſtändigen. — Den weſtlichen Provinzen begegnete die Regierung mit Schonung, in Poſen aber ging, nach Allem, was man an den Polen erlebt, ſelbſt die *) Tzſchoppe an Wittgenſtein, 3. Sept. 1833, mit Stimmungsberichten aus Rhein- land und Weſtphalen.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 556. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/570>, abgerufen am 23.11.2024.