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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 8. Stille Jahre.
nungen. Nach dem Kriege hätte Niemand für möglich gehalten, daß die
Befreier des Rheinlandes die Gesetzgebung des fremden Eroberers auf die
Dauer bestehen lassen würden. Jetzt galt sie schon fast für unantastbar,
so mächtig hatten die französischen und belgischen Ideen hier im Westen
um sich gegriffen. Die Regierung stand diesen Zeitstimmungen hilflos
gegenüber; denn ein nationales, den Bedürfnissen der modernen Gesell-
schaft genügendes Gesetzbuch konnte, bei dem unfertigen Zustande der deut-
schen Rechtswissenschaft und der Wucht der Parteivorurtheile hüben wie
drüben, unmöglich bald zu Stande kommen. Ammon und die klügeren
rheinischen Juristen sahen wohl ein, daß mindestens ein gemeinsames
Strafgesetzbuch für die Staatseinheit der Monarchie unentbehrlich sei --
wenn nur das rheinische Schwurgericht erhalten bliebe. Die Masse der
Laien aber wollte jetzt gar nichts mehr geändert sehen und selbst den Code
penal
mit allen seinen Härten behalten, weil er rheinisch hieß. Welch ein
Lärm im Provinziallandtage, als einmal die dringend nöthige Abänderung
des Wasserrechts und ähnlicher Bestimmungen in Frage kam; sogleich fürch-
teten die Abgeordneten wieder die Herstellung der alten kölnisch-trierischen
Sonderrechte, und nur schwer ließen sie sich beschwichtigen.*) Alle Beamte
berichteten übereinstimmend, der Code Napoleon sei "das Lebenselement
der Rheinländer"; selbst Minister Rochow hielt es für bedenklich, die Ge-
fühle der Provinz zu verletzen, obgleich er die französische Gesetzgebung
verabscheute.

In der That war der Fortbestand des rheinischen Rechts vollkommen
gerechtfertigt, so lange die Krone den Rheinländern zum Ersatze nur ein
veraltetes Gesetzbuch zu bieten hatte. Aber bald wich die Regierung noch
weiter zurück; eingeschüchtert durch den Trotz des rheinischen Particula-
rismus, ließ sie den Grundgedanken der Gesetzrevision fallen und wagte
kaum noch, die dringend nöthige Rechtseinheit der Monarchie mindestens
für die Zukunft vorzubereiten. Kamptz und seine Räthe dachten schon an
zwei neue Gesetzbücher, für die östlichen und die westlichen Provinzen; und
der Landtagsabschied vom Jahre 1839 sagte schüchtern: der König behalte
sich vor, unter Mitwirkung der Provinzialstände zu bestimmen, ob dem
revidirten Allgemeinen Landrecht nach seiner Vollendung "auch für die
Rheinprovinz Giltigkeit ertheilt werden solle". Zugleich wurde eine amt-
liche Uebersetzung der fünf Codes anbefohlen, und dies kleine dicke Buch
mit den blauweißrothen Streifen auf dem Bandschnitt blieb fortan die
politische Bibel jedes echten Rheinländers. Siegreich in der Vertheidigung,
schritten die rheinischen Juristen alsbald zum Angriff vor; immer lauter
und dreister erklang der Ruf: die Rechtseinheit der Monarchie lasse sich
sehr leicht herstellen, wenn der zurückgebliebene Osten dem vorgeschrittenen

*) Bericht des Gf. Anton Stolberg an Lottum, 23. Nov. Kamptz an Lottum,
27. Nov. 1833.

IV. 8. Stille Jahre.
nungen. Nach dem Kriege hätte Niemand für möglich gehalten, daß die
Befreier des Rheinlandes die Geſetzgebung des fremden Eroberers auf die
Dauer beſtehen laſſen würden. Jetzt galt ſie ſchon faſt für unantaſtbar,
ſo mächtig hatten die franzöſiſchen und belgiſchen Ideen hier im Weſten
um ſich gegriffen. Die Regierung ſtand dieſen Zeitſtimmungen hilflos
gegenüber; denn ein nationales, den Bedürfniſſen der modernen Geſell-
ſchaft genügendes Geſetzbuch konnte, bei dem unfertigen Zuſtande der deut-
ſchen Rechtswiſſenſchaft und der Wucht der Parteivorurtheile hüben wie
drüben, unmöglich bald zu Stande kommen. Ammon und die klügeren
rheiniſchen Juriſten ſahen wohl ein, daß mindeſtens ein gemeinſames
Strafgeſetzbuch für die Staatseinheit der Monarchie unentbehrlich ſei —
wenn nur das rheiniſche Schwurgericht erhalten bliebe. Die Maſſe der
Laien aber wollte jetzt gar nichts mehr geändert ſehen und ſelbſt den Code
pénal
mit allen ſeinen Härten behalten, weil er rheiniſch hieß. Welch ein
Lärm im Provinziallandtage, als einmal die dringend nöthige Abänderung
des Waſſerrechts und ähnlicher Beſtimmungen in Frage kam; ſogleich fürch-
teten die Abgeordneten wieder die Herſtellung der alten kölniſch-trieriſchen
Sonderrechte, und nur ſchwer ließen ſie ſich beſchwichtigen.*) Alle Beamte
berichteten übereinſtimmend, der Code Napoleon ſei „das Lebenselement
der Rheinländer“; ſelbſt Miniſter Rochow hielt es für bedenklich, die Ge-
fühle der Provinz zu verletzen, obgleich er die franzöſiſche Geſetzgebung
verabſcheute.

In der That war der Fortbeſtand des rheiniſchen Rechts vollkommen
gerechtfertigt, ſo lange die Krone den Rheinländern zum Erſatze nur ein
veraltetes Geſetzbuch zu bieten hatte. Aber bald wich die Regierung noch
weiter zurück; eingeſchüchtert durch den Trotz des rheiniſchen Particula-
rismus, ließ ſie den Grundgedanken der Geſetzreviſion fallen und wagte
kaum noch, die dringend nöthige Rechtseinheit der Monarchie mindeſtens
für die Zukunft vorzubereiten. Kamptz und ſeine Räthe dachten ſchon an
zwei neue Geſetzbücher, für die öſtlichen und die weſtlichen Provinzen; und
der Landtagsabſchied vom Jahre 1839 ſagte ſchüchtern: der König behalte
ſich vor, unter Mitwirkung der Provinzialſtände zu beſtimmen, ob dem
revidirten Allgemeinen Landrecht nach ſeiner Vollendung „auch für die
Rheinprovinz Giltigkeit ertheilt werden ſolle“. Zugleich wurde eine amt-
liche Ueberſetzung der fünf Codes anbefohlen, und dies kleine dicke Buch
mit den blauweißrothen Streifen auf dem Bandſchnitt blieb fortan die
politiſche Bibel jedes echten Rheinländers. Siegreich in der Vertheidigung,
ſchritten die rheiniſchen Juriſten alsbald zum Angriff vor; immer lauter
und dreiſter erklang der Ruf: die Rechtseinheit der Monarchie laſſe ſich
ſehr leicht herſtellen, wenn der zurückgebliebene Oſten dem vorgeſchrittenen

*) Bericht des Gf. Anton Stolberg an Lottum, 23. Nov. Kamptz an Lottum,
27. Nov. 1833.
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[552/0566] IV. 8. Stille Jahre. nungen. Nach dem Kriege hätte Niemand für möglich gehalten, daß die Befreier des Rheinlandes die Geſetzgebung des fremden Eroberers auf die Dauer beſtehen laſſen würden. Jetzt galt ſie ſchon faſt für unantaſtbar, ſo mächtig hatten die franzöſiſchen und belgiſchen Ideen hier im Weſten um ſich gegriffen. Die Regierung ſtand dieſen Zeitſtimmungen hilflos gegenüber; denn ein nationales, den Bedürfniſſen der modernen Geſell- ſchaft genügendes Geſetzbuch konnte, bei dem unfertigen Zuſtande der deut- ſchen Rechtswiſſenſchaft und der Wucht der Parteivorurtheile hüben wie drüben, unmöglich bald zu Stande kommen. Ammon und die klügeren rheiniſchen Juriſten ſahen wohl ein, daß mindeſtens ein gemeinſames Strafgeſetzbuch für die Staatseinheit der Monarchie unentbehrlich ſei — wenn nur das rheiniſche Schwurgericht erhalten bliebe. Die Maſſe der Laien aber wollte jetzt gar nichts mehr geändert ſehen und ſelbſt den Code pénal mit allen ſeinen Härten behalten, weil er rheiniſch hieß. Welch ein Lärm im Provinziallandtage, als einmal die dringend nöthige Abänderung des Waſſerrechts und ähnlicher Beſtimmungen in Frage kam; ſogleich fürch- teten die Abgeordneten wieder die Herſtellung der alten kölniſch-trieriſchen Sonderrechte, und nur ſchwer ließen ſie ſich beſchwichtigen. *) Alle Beamte berichteten übereinſtimmend, der Code Napoleon ſei „das Lebenselement der Rheinländer“; ſelbſt Miniſter Rochow hielt es für bedenklich, die Ge- fühle der Provinz zu verletzen, obgleich er die franzöſiſche Geſetzgebung verabſcheute. In der That war der Fortbeſtand des rheiniſchen Rechts vollkommen gerechtfertigt, ſo lange die Krone den Rheinländern zum Erſatze nur ein veraltetes Geſetzbuch zu bieten hatte. Aber bald wich die Regierung noch weiter zurück; eingeſchüchtert durch den Trotz des rheiniſchen Particula- rismus, ließ ſie den Grundgedanken der Geſetzreviſion fallen und wagte kaum noch, die dringend nöthige Rechtseinheit der Monarchie mindeſtens für die Zukunft vorzubereiten. Kamptz und ſeine Räthe dachten ſchon an zwei neue Geſetzbücher, für die öſtlichen und die weſtlichen Provinzen; und der Landtagsabſchied vom Jahre 1839 ſagte ſchüchtern: der König behalte ſich vor, unter Mitwirkung der Provinzialſtände zu beſtimmen, ob dem revidirten Allgemeinen Landrecht nach ſeiner Vollendung „auch für die Rheinprovinz Giltigkeit ertheilt werden ſolle“. Zugleich wurde eine amt- liche Ueberſetzung der fünf Codes anbefohlen, und dies kleine dicke Buch mit den blauweißrothen Streifen auf dem Bandſchnitt blieb fortan die politiſche Bibel jedes echten Rheinländers. Siegreich in der Vertheidigung, ſchritten die rheiniſchen Juriſten alsbald zum Angriff vor; immer lauter und dreiſter erklang der Ruf: die Rechtseinheit der Monarchie laſſe ſich ſehr leicht herſtellen, wenn der zurückgebliebene Oſten dem vorgeſchrittenen *) Bericht des Gf. Anton Stolberg an Lottum, 23. Nov. Kamptz an Lottum, 27. Nov. 1833.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 552. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/566>, abgerufen am 22.11.2024.