Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.IV. 8. Stille Jahre. licht werden sollte, war noch immer nicht gelöst. Da die Armeecorps allegleich stark waren, so konnte es nicht ausbleiben, daß die einzelnen Pro- vinzen, je nach der Vermehrung und der körperlichen Tüchtigkeit ihrer Be- völkerung verschieden belastet wurden, und wiederholt beschwerten sich die Civilbehörden über diese Ungleichheit. Auf solche Klagen legte der König mit Recht wenig Werth; er meinte, der Uebelstand werde "vollkommen ausgeglichen" durch die große Erleichterung, die darin liege, daß die Mehr- zahl der Mannschaften in ihrer Heimath diene.*) Weit bedenklicher er- schien ihm, wie allen seinen Generalen, die übergroße Zahl der Dienst- pflichtigen, welche, gegen den Sinn und Wortlaut des Gesetzes, thatsächlich zurückgestellt werden mußten. Bisher hatte man sich damit beholfen, die Ueberschüssigen nothdürftig eine kurze Zeit lang bei der Landwehr auszu- bilden. Diese "Landwehr-Rekruten" bewährten sich leider sehr schlecht, als sie während der polnischen Wirren an die Grenzen berufen wurden, und alle Sachverständigen stimmten dahin überein, daß die Wehrpflichtigen fortan allesammt durch die Schule des Heeres gehen müßten. Aber an eine Erhöhung des regelmäßigen Militärbudgets ließ sich jetzt gar nicht denken, nachdem die Rüstungen der Revolutionsjahre so große Summen verschlungen hatten; also blieb nur noch ein überaus gefährliches Aus- kunftsmittel übrig, die Herabsetzung der Dienstzeit. Unter den Laien herrschte noch immer die Meinung, daß die Handgriffe des Exercierplatzes sich spielend erlernen ließen; selbst die harmlosen Reaube'schen Jahrbücher fragten: warum wolle man nicht jedem Wehrpflichtigen gestatten, sich selber auf die militärischen Uebungen vorzubereiten, und ihn dann befreien falls er gut bestünde? Auch in militärischen Kreisen wurden seltsame Vor- schläge laut: man rieth, einen Theil der Mannschaften zwei Jahre, einen anderen sechs Monate dienen zu lassen, so daß die durchschnittliche Dienst- pflicht etwa 16 Monate betrüge. In solcher Lage hielten die tüchtigsten Generale, Prinz Wilhelm, Witz- *) Cabinetsordres an Brenn, 11. Sept. 1832, 4. Sept. 1833.
IV. 8. Stille Jahre. licht werden ſollte, war noch immer nicht gelöſt. Da die Armeecorps allegleich ſtark waren, ſo konnte es nicht ausbleiben, daß die einzelnen Pro- vinzen, je nach der Vermehrung und der körperlichen Tüchtigkeit ihrer Be- völkerung verſchieden belaſtet wurden, und wiederholt beſchwerten ſich die Civilbehörden über dieſe Ungleichheit. Auf ſolche Klagen legte der König mit Recht wenig Werth; er meinte, der Uebelſtand werde „vollkommen ausgeglichen“ durch die große Erleichterung, die darin liege, daß die Mehr- zahl der Mannſchaften in ihrer Heimath diene.*) Weit bedenklicher er- ſchien ihm, wie allen ſeinen Generalen, die übergroße Zahl der Dienſt- pflichtigen, welche, gegen den Sinn und Wortlaut des Geſetzes, thatſächlich zurückgeſtellt werden mußten. Bisher hatte man ſich damit beholfen, die Ueberſchüſſigen nothdürftig eine kurze Zeit lang bei der Landwehr auszu- bilden. Dieſe „Landwehr-Rekruten“ bewährten ſich leider ſehr ſchlecht, als ſie während der polniſchen Wirren an die Grenzen berufen wurden, und alle Sachverſtändigen ſtimmten dahin überein, daß die Wehrpflichtigen fortan alleſammt durch die Schule des Heeres gehen müßten. Aber an eine Erhöhung des regelmäßigen Militärbudgets ließ ſich jetzt gar nicht denken, nachdem die Rüſtungen der Revolutionsjahre ſo große Summen verſchlungen hatten; alſo blieb nur noch ein überaus gefährliches Aus- kunftsmittel übrig, die Herabſetzung der Dienſtzeit. Unter den Laien herrſchte noch immer die Meinung, daß die Handgriffe des Exercierplatzes ſich ſpielend erlernen ließen; ſelbſt die harmloſen Reaube’ſchen Jahrbücher fragten: warum wolle man nicht jedem Wehrpflichtigen geſtatten, ſich ſelber auf die militäriſchen Uebungen vorzubereiten, und ihn dann befreien falls er gut beſtünde? Auch in militäriſchen Kreiſen wurden ſeltſame Vor- ſchläge laut: man rieth, einen Theil der Mannſchaften zwei Jahre, einen anderen ſechs Monate dienen zu laſſen, ſo daß die durchſchnittliche Dienſt- pflicht etwa 16 Monate betrüge. In ſolcher Lage hielten die tüchtigſten Generale, Prinz Wilhelm, Witz- *) Cabinetsordres an Brenn, 11. Sept. 1832, 4. Sept. 1833.
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IV. 8. Stille Jahre.
licht werden ſollte, war noch immer nicht gelöſt. Da die Armeecorps alle
gleich ſtark waren, ſo konnte es nicht ausbleiben, daß die einzelnen Pro-
vinzen, je nach der Vermehrung und der körperlichen Tüchtigkeit ihrer Be-
völkerung verſchieden belaſtet wurden, und wiederholt beſchwerten ſich die
Civilbehörden über dieſe Ungleichheit. Auf ſolche Klagen legte der König
mit Recht wenig Werth; er meinte, der Uebelſtand werde „vollkommen
ausgeglichen“ durch die große Erleichterung, die darin liege, daß die Mehr-
zahl der Mannſchaften in ihrer Heimath diene. *) Weit bedenklicher er-
ſchien ihm, wie allen ſeinen Generalen, die übergroße Zahl der Dienſt-
pflichtigen, welche, gegen den Sinn und Wortlaut des Geſetzes, thatſächlich
zurückgeſtellt werden mußten. Bisher hatte man ſich damit beholfen, die
Ueberſchüſſigen nothdürftig eine kurze Zeit lang bei der Landwehr auszu-
bilden. Dieſe „Landwehr-Rekruten“ bewährten ſich leider ſehr ſchlecht, als
ſie während der polniſchen Wirren an die Grenzen berufen wurden, und
alle Sachverſtändigen ſtimmten dahin überein, daß die Wehrpflichtigen
fortan alleſammt durch die Schule des Heeres gehen müßten. Aber an
eine Erhöhung des regelmäßigen Militärbudgets ließ ſich jetzt gar nicht
denken, nachdem die Rüſtungen der Revolutionsjahre ſo große Summen
verſchlungen hatten; alſo blieb nur noch ein überaus gefährliches Aus-
kunftsmittel übrig, die Herabſetzung der Dienſtzeit. Unter den Laien
herrſchte noch immer die Meinung, daß die Handgriffe des Exercierplatzes
ſich ſpielend erlernen ließen; ſelbſt die harmloſen Reaube’ſchen Jahrbücher
fragten: warum wolle man nicht jedem Wehrpflichtigen geſtatten, ſich ſelber
auf die militäriſchen Uebungen vorzubereiten, und ihn dann befreien falls
er gut beſtünde? Auch in militäriſchen Kreiſen wurden ſeltſame Vor-
ſchläge laut: man rieth, einen Theil der Mannſchaften zwei Jahre, einen
anderen ſechs Monate dienen zu laſſen, ſo daß die durchſchnittliche Dienſt-
pflicht etwa 16 Monate betrüge.
In ſolcher Lage hielten die tüchtigſten Generale, Prinz Wilhelm, Witz-
leben, Natzmer, Müffling trotz ſchwerer Bedenken für rathſam, den Ver-
ſuch der zweijährigen Dienſtzeit zu empfehlen; ſelbſt General Boyen, der
jetzt endlich die Gunſt des Königs wieder erlangt hatte und zu den Ver-
handlungen zugezogen wurde, ſtimmte dem Vorſchlage bei. Am 15. October
1833 beſtimmte der Kriegsminiſter durch eine vorläufige Verfügung, daß
die Dienſtzeit bei der Linien-Infanterie fortan zwei Jahre währen ſolle,
bei der Fuß-Artillerie 2½, bei der Garde und allen reitenden Truppen,
wie bisher, drei Jahre. Die Landwehrrekruten fielen hinweg, dafür traten
bei der Linie mehr Wehrpflichtige ein. Das Bataillon der Linien-Infanterie
zählte nunmehr im Frieden 522 Mann: 200 aus dem erſten, 200 aus dem
zweiten Jahrgang, dazu 122 Unteroffiziere und Capitulanten. So ward es
möglich, trotz der vermehrten Rekruten-Einſtellung den Aufwand für das
*) Cabinetsordres an Brenn, 11. Sept. 1832, 4. Sept. 1833.
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