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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Die polnische Legende.
Manne, an den er sich anklammern kann. Da Nikolaus die beiden
anderen Monarchen durch Hochmuth und Willenskraft überragte, so dich-
teten ihm die erbitterten Liberalen jetzt schon eine Macht an, die er in
Wahrheit erst in den vierziger Jahren, durch die Willensschwäche Fried-
rich Wilhelm's IV., und auch dann niemals vollständig erlangt hat. Die
ersten Urheber dieser, wie so vieler anderen politischen Mythen der Zeit
waren die polnischen Flüchtlinge. Bezaubert von der sarmatischen Bered-
samkeit vermochten die deutschen Liberalen gar nicht mehr zu begreifen,
daß die gemeinsame polnische Politik der Ostmächte sich aus den früheren
Ereignissen mit unerbittlicher Nothwendigkeit ergab; überall witterten sie
russische Ränke und russisches Gold. Mit Jubel begrüßte man Platen's
Gedicht auf "den reisenden Rubel":

Seit außer Curs die Tugend ist,
Cursirt der Rubel sehr!

Als der Dichter diese Zeilen schrieb, 1833, besaß Rußland gar keine Macht
über Deutschland; eben damals, nach der Münchengrätzer Zusammen-
kunft, machte Preußen die politischen Pläne des Petersburger Cabinets zu
Schanden. Und wenn er dann zornig ausrief:

Erst gab's nur einen Kotzebue,
Jetzt giebt's ein ganzes Schock --

so ließ sich wohl fragen, wer denn diese neuen Kotzebues sein sollten?
Doch sicherlich nicht der ehrliche Stägemann oder die anderen preußischen
Beamten, die in der Staatszeitung dem verblendeten Liberalismus Ver-
nunft zu predigen suchten? Aber solche Fragen warf man gar nicht auf;
man schwärmte für den Kampf deutscher Freiheit gegen moskowitische Knecht-
schaft, und dachte sich dabei nicht viel mehr als der Dichter selbst, der
Deutschlands "künftigen Helden" mit dem Heilruf begrüßte:

Dir, Siegender, möge dann
Mongolenblut aus jeder Locke
Ueber den faltigen Mantel triefen!

Dieser phantastische Russenhaß konnte nur die Schwärmer bethören,
welche auf die Schlagworte des polnisch-französischen Radicalismus schwuren.
Weit verderblicher wirkte eine andere politische Legende, die von England
ausging; sie trat in staatsmännischem Gewande auf und verführte gerade
die gemäßigten, die denkenden Liberalen. Der junge englische Diplomat
David Urquhart hatte sich einst für die Hellenen begeistert, dann aber im
Verkehre mit vornehmen Türken eine überaus hoffnungsreiche Ansicht von
der Lebenskraft des osmanischen Reiches gewonnen; denn die Sünden der
Herren sind andere als die Sünden der Knechte, unter den würdevollen,
sauberen, ehrlichen Türken befand er sich wohler als unter den gierigen
Raubvogelgesichtern der mißhandelten Rajah-Völker. Also kehrte er zu-
rück zu der altenglischen Ansicht, daß die Herrschaft des Halbmonds über

Die polniſche Legende.
Manne, an den er ſich anklammern kann. Da Nikolaus die beiden
anderen Monarchen durch Hochmuth und Willenskraft überragte, ſo dich-
teten ihm die erbitterten Liberalen jetzt ſchon eine Macht an, die er in
Wahrheit erſt in den vierziger Jahren, durch die Willensſchwäche Fried-
rich Wilhelm’s IV., und auch dann niemals vollſtändig erlangt hat. Die
erſten Urheber dieſer, wie ſo vieler anderen politiſchen Mythen der Zeit
waren die polniſchen Flüchtlinge. Bezaubert von der ſarmatiſchen Bered-
ſamkeit vermochten die deutſchen Liberalen gar nicht mehr zu begreifen,
daß die gemeinſame polniſche Politik der Oſtmächte ſich aus den früheren
Ereigniſſen mit unerbittlicher Nothwendigkeit ergab; überall witterten ſie
ruſſiſche Ränke und ruſſiſches Gold. Mit Jubel begrüßte man Platen’s
Gedicht auf „den reiſenden Rubel“:

Seit außer Curs die Tugend iſt,
Curſirt der Rubel ſehr!

Als der Dichter dieſe Zeilen ſchrieb, 1833, beſaß Rußland gar keine Macht
über Deutſchland; eben damals, nach der Münchengrätzer Zuſammen-
kunft, machte Preußen die politiſchen Pläne des Petersburger Cabinets zu
Schanden. Und wenn er dann zornig ausrief:

Erſt gab’s nur einen Kotzebue,
Jetzt giebt’s ein ganzes Schock —

ſo ließ ſich wohl fragen, wer denn dieſe neuen Kotzebues ſein ſollten?
Doch ſicherlich nicht der ehrliche Stägemann oder die anderen preußiſchen
Beamten, die in der Staatszeitung dem verblendeten Liberalismus Ver-
nunft zu predigen ſuchten? Aber ſolche Fragen warf man gar nicht auf;
man ſchwärmte für den Kampf deutſcher Freiheit gegen moskowitiſche Knecht-
ſchaft, und dachte ſich dabei nicht viel mehr als der Dichter ſelbſt, der
Deutſchlands „künftigen Helden“ mit dem Heilruf begrüßte:

Dir, Siegender, möge dann
Mongolenblut aus jeder Locke
Ueber den faltigen Mantel triefen!

Dieſer phantaſtiſche Ruſſenhaß konnte nur die Schwärmer bethören,
welche auf die Schlagworte des polniſch-franzöſiſchen Radicalismus ſchwuren.
Weit verderblicher wirkte eine andere politiſche Legende, die von England
ausging; ſie trat in ſtaatsmänniſchem Gewande auf und verführte gerade
die gemäßigten, die denkenden Liberalen. Der junge engliſche Diplomat
David Urquhart hatte ſich einſt für die Hellenen begeiſtert, dann aber im
Verkehre mit vornehmen Türken eine überaus hoffnungsreiche Anſicht von
der Lebenskraft des osmaniſchen Reiches gewonnen; denn die Sünden der
Herren ſind andere als die Sünden der Knechte, unter den würdevollen,
ſauberen, ehrlichen Türken befand er ſich wohler als unter den gierigen
Raubvogelgeſichtern der mißhandelten Rajah-Völker. Alſo kehrte er zu-
rück zu der altengliſchen Anſicht, daß die Herrſchaft des Halbmonds über

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[537/0551] Die polniſche Legende. Manne, an den er ſich anklammern kann. Da Nikolaus die beiden anderen Monarchen durch Hochmuth und Willenskraft überragte, ſo dich- teten ihm die erbitterten Liberalen jetzt ſchon eine Macht an, die er in Wahrheit erſt in den vierziger Jahren, durch die Willensſchwäche Fried- rich Wilhelm’s IV., und auch dann niemals vollſtändig erlangt hat. Die erſten Urheber dieſer, wie ſo vieler anderen politiſchen Mythen der Zeit waren die polniſchen Flüchtlinge. Bezaubert von der ſarmatiſchen Bered- ſamkeit vermochten die deutſchen Liberalen gar nicht mehr zu begreifen, daß die gemeinſame polniſche Politik der Oſtmächte ſich aus den früheren Ereigniſſen mit unerbittlicher Nothwendigkeit ergab; überall witterten ſie ruſſiſche Ränke und ruſſiſches Gold. Mit Jubel begrüßte man Platen’s Gedicht auf „den reiſenden Rubel“: Seit außer Curs die Tugend iſt, Curſirt der Rubel ſehr! Als der Dichter dieſe Zeilen ſchrieb, 1833, beſaß Rußland gar keine Macht über Deutſchland; eben damals, nach der Münchengrätzer Zuſammen- kunft, machte Preußen die politiſchen Pläne des Petersburger Cabinets zu Schanden. Und wenn er dann zornig ausrief: Erſt gab’s nur einen Kotzebue, Jetzt giebt’s ein ganzes Schock — ſo ließ ſich wohl fragen, wer denn dieſe neuen Kotzebues ſein ſollten? Doch ſicherlich nicht der ehrliche Stägemann oder die anderen preußiſchen Beamten, die in der Staatszeitung dem verblendeten Liberalismus Ver- nunft zu predigen ſuchten? Aber ſolche Fragen warf man gar nicht auf; man ſchwärmte für den Kampf deutſcher Freiheit gegen moskowitiſche Knecht- ſchaft, und dachte ſich dabei nicht viel mehr als der Dichter ſelbſt, der Deutſchlands „künftigen Helden“ mit dem Heilruf begrüßte: Dir, Siegender, möge dann Mongolenblut aus jeder Locke Ueber den faltigen Mantel triefen! Dieſer phantaſtiſche Ruſſenhaß konnte nur die Schwärmer bethören, welche auf die Schlagworte des polniſch-franzöſiſchen Radicalismus ſchwuren. Weit verderblicher wirkte eine andere politiſche Legende, die von England ausging; ſie trat in ſtaatsmänniſchem Gewande auf und verführte gerade die gemäßigten, die denkenden Liberalen. Der junge engliſche Diplomat David Urquhart hatte ſich einſt für die Hellenen begeiſtert, dann aber im Verkehre mit vornehmen Türken eine überaus hoffnungsreiche Anſicht von der Lebenskraft des osmaniſchen Reiches gewonnen; denn die Sünden der Herren ſind andere als die Sünden der Knechte, unter den würdevollen, ſauberen, ehrlichen Türken befand er ſich wohler als unter den gierigen Raubvogelgeſichtern der mißhandelten Rajah-Völker. Alſo kehrte er zu- rück zu der altengliſchen Anſicht, daß die Herrſchaft des Halbmonds über

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 537. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/551>, abgerufen am 24.11.2024.