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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Russische Kriegspläne.
sich ganz als den Sohn des Bändigers der Revolution. Nicht als ein
Verschwörer dachte er sich die Krone seines Vaters zu erschleichen; als
ein Fürst der Ordnung wollte er in Frankreich einziehen, gerufen von
dem altkaiserlichen Heere, um den Sohn des Bürgers Egalite zu zer-
malmen, den verächtlichen Thronräuber, der weder das legitime Recht
noch den Volkswillen hinter sich hatte. In vollem Ernst hat Metternich
so verwegene Gedanken nie gehegt; er spielte damit, wie ein Verzweifeln-
der halb sehnsüchtig halb entsetzt die Giftflasche betrachtet, denn unmöglich
konnte er glauben, daß ein Napoleon je ein zuverlässiger Wächter der
Wiener Verträge werden würde. Vorderhand war er ehrlich für den
Frieden und bat den König von Preußen, er möge den Czaren für eine
gemeinsame Erklärung der Mächte gewinnen, da Kaiser Franz leider das
Vertrauen des russischen Selbstherrschers nicht besitze.*)

Dort in Petersburg stieß die Friedenspolitik der beiden deutschen
Mächte auf harten Widerstand. Czar Nikolaus war noch wie berauscht
von den Erfolgen des Türkenkrieges, unüberwindlich erschien ihm sein
Heer. Er wähnte sich stark genug sogleich gegen die Revolution einzu-
schreiten, stand doch seine polnische Armee wohlgerüstet dicht an der Grenze.
Die peinliche Frage, ob diese Polen sich auch gegen das revolutionäre
Frankreich schlagen würden, kam ihm gar nicht in den Sinn. Obwohl
er den Verfassungsbruch Karl's X. scharf verurtheilte, so wollte er doch
mit "dem fluchwürdigen Usurpator" nichts gemein haben.**) Im ersten
Zorne rief er alle Russen aus Frankreich zurück, verbot den Franzosen
den Eintritt in sein Reich, verschloß der dreifarbigen Flagge die russischen
Häfen. Nesselrode, der sich soeben in Karlsbad mit Metternich, dann in
Berlin mit Bernstorff besprochen und die friedlichen Absichten der deutschen
Höfe gebilligt hatte, fand daheim ungnädige Aufnahme; auch Pozzo di
Borgo verlor das Vertrauen seines Monarchen weil er sich freundlich zu
den Orleans stellte. Jene unbedachten feindseligen Maßregeln gegen
Frankreich nahm der Czar freilich schon nach einigen Tagen zurück.***)
Aber die preußischen Vorschläge genügten ihm nicht: die Volkssouveränität
anerkennen, das heiße das ganze System der Mächte untergraben; und
was nütze es, von Ludwig Philipp die Anerkennung der Verträge zu
fordern, wenn man sich auf sein Wort nicht verlassen könne? Endlich
entschloß er sich seinem königlichen Schwiegervater "einen glänzenden Be-
weis seines guten Willens zu geben" und sendete den Feldmarschall Die-
bitsch zu weiteren Verhandlungen nach Berlin.+)

*) Brockhausen's Bericht, 23. August.
**) K. Nikolaus an Großfürst Constantin (mitgetheilt in dem Berichte des Gen.
Consuls Schmidt, Warschau 25. August 1830).
***) Lieven an Bourgoing 13/25. August; Kaiser Nikolaus an Großfürst Constantin
29. August 1830.
+) Galen's Berichte, Petersburg 24. 26. August 1830.

Ruſſiſche Kriegspläne.
ſich ganz als den Sohn des Bändigers der Revolution. Nicht als ein
Verſchwörer dachte er ſich die Krone ſeines Vaters zu erſchleichen; als
ein Fürſt der Ordnung wollte er in Frankreich einziehen, gerufen von
dem altkaiſerlichen Heere, um den Sohn des Bürgers Egalité zu zer-
malmen, den verächtlichen Thronräuber, der weder das legitime Recht
noch den Volkswillen hinter ſich hatte. In vollem Ernſt hat Metternich
ſo verwegene Gedanken nie gehegt; er ſpielte damit, wie ein Verzweifeln-
der halb ſehnſüchtig halb entſetzt die Giftflaſche betrachtet, denn unmöglich
konnte er glauben, daß ein Napoleon je ein zuverläſſiger Wächter der
Wiener Verträge werden würde. Vorderhand war er ehrlich für den
Frieden und bat den König von Preußen, er möge den Czaren für eine
gemeinſame Erklärung der Mächte gewinnen, da Kaiſer Franz leider das
Vertrauen des ruſſiſchen Selbſtherrſchers nicht beſitze.*)

Dort in Petersburg ſtieß die Friedenspolitik der beiden deutſchen
Mächte auf harten Widerſtand. Czar Nikolaus war noch wie berauſcht
von den Erfolgen des Türkenkrieges, unüberwindlich erſchien ihm ſein
Heer. Er wähnte ſich ſtark genug ſogleich gegen die Revolution einzu-
ſchreiten, ſtand doch ſeine polniſche Armee wohlgerüſtet dicht an der Grenze.
Die peinliche Frage, ob dieſe Polen ſich auch gegen das revolutionäre
Frankreich ſchlagen würden, kam ihm gar nicht in den Sinn. Obwohl
er den Verfaſſungsbruch Karl’s X. ſcharf verurtheilte, ſo wollte er doch
mit „dem fluchwürdigen Uſurpator“ nichts gemein haben.**) Im erſten
Zorne rief er alle Ruſſen aus Frankreich zurück, verbot den Franzoſen
den Eintritt in ſein Reich, verſchloß der dreifarbigen Flagge die ruſſiſchen
Häfen. Neſſelrode, der ſich ſoeben in Karlsbad mit Metternich, dann in
Berlin mit Bernſtorff beſprochen und die friedlichen Abſichten der deutſchen
Höfe gebilligt hatte, fand daheim ungnädige Aufnahme; auch Pozzo di
Borgo verlor das Vertrauen ſeines Monarchen weil er ſich freundlich zu
den Orleans ſtellte. Jene unbedachten feindſeligen Maßregeln gegen
Frankreich nahm der Czar freilich ſchon nach einigen Tagen zurück.***)
Aber die preußiſchen Vorſchläge genügten ihm nicht: die Volksſouveränität
anerkennen, das heiße das ganze Syſtem der Mächte untergraben; und
was nütze es, von Ludwig Philipp die Anerkennung der Verträge zu
fordern, wenn man ſich auf ſein Wort nicht verlaſſen könne? Endlich
entſchloß er ſich ſeinem königlichen Schwiegervater „einen glänzenden Be-
weis ſeines guten Willens zu geben“ und ſendete den Feldmarſchall Die-
bitſch zu weiteren Verhandlungen nach Berlin.†)

*) Brockhauſen’s Bericht, 23. Auguſt.
**) K. Nikolaus an Großfürſt Conſtantin (mitgetheilt in dem Berichte des Gen.
Conſuls Schmidt, Warſchau 25. Auguſt 1830).
***) Lieven an Bourgoing 13/25. Auguſt; Kaiſer Nikolaus an Großfürſt Conſtantin
29. Auguſt 1830.
†) Galen’s Berichte, Petersburg 24. 26. Auguſt 1830.
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[41/0055] Ruſſiſche Kriegspläne. ſich ganz als den Sohn des Bändigers der Revolution. Nicht als ein Verſchwörer dachte er ſich die Krone ſeines Vaters zu erſchleichen; als ein Fürſt der Ordnung wollte er in Frankreich einziehen, gerufen von dem altkaiſerlichen Heere, um den Sohn des Bürgers Egalité zu zer- malmen, den verächtlichen Thronräuber, der weder das legitime Recht noch den Volkswillen hinter ſich hatte. In vollem Ernſt hat Metternich ſo verwegene Gedanken nie gehegt; er ſpielte damit, wie ein Verzweifeln- der halb ſehnſüchtig halb entſetzt die Giftflaſche betrachtet, denn unmöglich konnte er glauben, daß ein Napoleon je ein zuverläſſiger Wächter der Wiener Verträge werden würde. Vorderhand war er ehrlich für den Frieden und bat den König von Preußen, er möge den Czaren für eine gemeinſame Erklärung der Mächte gewinnen, da Kaiſer Franz leider das Vertrauen des ruſſiſchen Selbſtherrſchers nicht beſitze. *) Dort in Petersburg ſtieß die Friedenspolitik der beiden deutſchen Mächte auf harten Widerſtand. Czar Nikolaus war noch wie berauſcht von den Erfolgen des Türkenkrieges, unüberwindlich erſchien ihm ſein Heer. Er wähnte ſich ſtark genug ſogleich gegen die Revolution einzu- ſchreiten, ſtand doch ſeine polniſche Armee wohlgerüſtet dicht an der Grenze. Die peinliche Frage, ob dieſe Polen ſich auch gegen das revolutionäre Frankreich ſchlagen würden, kam ihm gar nicht in den Sinn. Obwohl er den Verfaſſungsbruch Karl’s X. ſcharf verurtheilte, ſo wollte er doch mit „dem fluchwürdigen Uſurpator“ nichts gemein haben. **) Im erſten Zorne rief er alle Ruſſen aus Frankreich zurück, verbot den Franzoſen den Eintritt in ſein Reich, verſchloß der dreifarbigen Flagge die ruſſiſchen Häfen. Neſſelrode, der ſich ſoeben in Karlsbad mit Metternich, dann in Berlin mit Bernſtorff beſprochen und die friedlichen Abſichten der deutſchen Höfe gebilligt hatte, fand daheim ungnädige Aufnahme; auch Pozzo di Borgo verlor das Vertrauen ſeines Monarchen weil er ſich freundlich zu den Orleans ſtellte. Jene unbedachten feindſeligen Maßregeln gegen Frankreich nahm der Czar freilich ſchon nach einigen Tagen zurück. ***) Aber die preußiſchen Vorſchläge genügten ihm nicht: die Volksſouveränität anerkennen, das heiße das ganze Syſtem der Mächte untergraben; und was nütze es, von Ludwig Philipp die Anerkennung der Verträge zu fordern, wenn man ſich auf ſein Wort nicht verlaſſen könne? Endlich entſchloß er ſich ſeinem königlichen Schwiegervater „einen glänzenden Be- weis ſeines guten Willens zu geben“ und ſendete den Feldmarſchall Die- bitſch zu weiteren Verhandlungen nach Berlin. †) *) Brockhauſen’s Bericht, 23. Auguſt. **) K. Nikolaus an Großfürſt Conſtantin (mitgetheilt in dem Berichte des Gen. Conſuls Schmidt, Warſchau 25. Auguſt 1830). ***) Lieven an Bourgoing 13/25. Auguſt; Kaiſer Nikolaus an Großfürſt Conſtantin 29. Auguſt 1830. †) Galen’s Berichte, Petersburg 24. 26. Auguſt 1830.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/55>, abgerufen am 24.11.2024.