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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
gegen die siegreichen Mächte der Revolution wollte er nicht mehr aufnehmen;
er stand nicht an, die Niederlage der alten Gewalten ehrlich einzugestehen:
"das lebhafte Gefühl, daß wir geschlagen sind, raubt uns die letzten Kräfte
zur Rettung." Frieden! -- hieß jetzt die Losung aller seiner Briefe.
Unermüdlich, und nicht immer ganz der Wahrheit getreu, versicherte er
dem Vertrauten Samuel Rothschild, zur Mittheilung an die Pariser
Freunde, daß keine der drei Ostmächte an einen Krieg denke; mit warmem,
fast überschwänglichem Lobe pries er die Friedfertigkeit der französischen
Regierung. Nicht lange, so entdeckte er sogar, daß die Volkssouveränität,
Dank der Mäßigung des Bürgerkönigs, unvermerkt in eine neue Legiti-
mität übergehe: warum könnten diese beiden großen Staatsgrundsätze
nicht friedlich, wie Protestantismus und Katholicismus in der Staaten-
gesellschaft neben einander bestehen? warum sollte Europa wieder wie im
sechzehnten Jahrhundert einen Meinungskampf durch die Waffen zu ent-
scheiden suchen? Das System der Erhaltung und das System des ruhigen
Fortschritts widersprechen sich ja nicht unbedingt. -- Also ward er, nicht
durch freie Ueberzeugung, sondern durch die Uebermacht der Ereignisse
und durch die entsagende Versöhnlichkeit des Alters am Abend seines Lebens
wieder zurückgeführt zu den gemäßigten Grundsätzen, mit denen er einst
seine politische Laufbahn begonnen hatte.

Gentz's Meinung fiel kaum mehr ins Gewicht, da er an den Geschäften
nur noch geringen Antheil nahm und, wie Metternich sagte, nur noch
Phantasie-Dienste leistete. Aber auch der Staatskanzler selbst war tief
durchdrungen von dem Gefühle seiner Hilflosigkeit, obgleich er dem preußi-
schen Gesandten gegenüber prahlte, Oesterreichs Heer lasse sich schnell und
leicht auf einen Bestand von 400000 Mann bringen.*) Wie hart es
ihm auch ankam, so erklärte er sich doch mit den preußischen Anträgen
einverstanden; indeß dachte er die Möglichkeit einer gemeinsamen Inter-
vention noch nicht ganz aus der Hand zu geben und schlug daher vor,
die vier Mächte sollten zu einem Congresse zusammentreten oder mindestens
in Berlin zur Beobachtung Frankreichs ein centre d'entente bilden. Auf
eine solche unnütze Herausforderung der Franzosen wollte sich jedoch der
preußische Hof nicht einlassen; die böse Erinnerung an den verhängniß-
vollen Pillnitzer Congreß lag gar zu nahe. Für den schlimmsten Fall
hielt Metternich noch eine furchtbare Waffe bereit: den Herzog von
Reichstadt. Er kannte die Furcht der Orleans vor dem großen Namen
der Bonapartes; mehrmals gab er den befreundeten Gesandten, schließlich
auch dem Tuilerienhofe selbst zu verstehen: wenn Frankreich die Verträge
nicht achte, dann würde der Vierbund den Erben des Imperators zurück-
führen.**) Und wahrlich, der junge Napoleon hätte es an sich nicht fehlen
lassen. Der Abgott aller Weiber, bildschön, frühreif, hochbegabt fühlte er

*) Berichte von Brockhausen 11. 18. Aug., von Blittersdorff 4. Sept. 1830.
**) Maltzahn's Berichte 5. September 1830. 11. 16. Februar 1831.

IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
gegen die ſiegreichen Mächte der Revolution wollte er nicht mehr aufnehmen;
er ſtand nicht an, die Niederlage der alten Gewalten ehrlich einzugeſtehen:
„das lebhafte Gefühl, daß wir geſchlagen ſind, raubt uns die letzten Kräfte
zur Rettung.“ Frieden! — hieß jetzt die Loſung aller ſeiner Briefe.
Unermüdlich, und nicht immer ganz der Wahrheit getreu, verſicherte er
dem Vertrauten Samuel Rothſchild, zur Mittheilung an die Pariſer
Freunde, daß keine der drei Oſtmächte an einen Krieg denke; mit warmem,
faſt überſchwänglichem Lobe pries er die Friedfertigkeit der franzöſiſchen
Regierung. Nicht lange, ſo entdeckte er ſogar, daß die Volksſouveränität,
Dank der Mäßigung des Bürgerkönigs, unvermerkt in eine neue Legiti-
mität übergehe: warum könnten dieſe beiden großen Staatsgrundſätze
nicht friedlich, wie Proteſtantismus und Katholicismus in der Staaten-
geſellſchaft neben einander beſtehen? warum ſollte Europa wieder wie im
ſechzehnten Jahrhundert einen Meinungskampf durch die Waffen zu ent-
ſcheiden ſuchen? Das Syſtem der Erhaltung und das Syſtem des ruhigen
Fortſchritts widerſprechen ſich ja nicht unbedingt. — Alſo ward er, nicht
durch freie Ueberzeugung, ſondern durch die Uebermacht der Ereigniſſe
und durch die entſagende Verſöhnlichkeit des Alters am Abend ſeines Lebens
wieder zurückgeführt zu den gemäßigten Grundſätzen, mit denen er einſt
ſeine politiſche Laufbahn begonnen hatte.

Gentz’s Meinung fiel kaum mehr ins Gewicht, da er an den Geſchäften
nur noch geringen Antheil nahm und, wie Metternich ſagte, nur noch
Phantaſie-Dienſte leiſtete. Aber auch der Staatskanzler ſelbſt war tief
durchdrungen von dem Gefühle ſeiner Hilfloſigkeit, obgleich er dem preußi-
ſchen Geſandten gegenüber prahlte, Oeſterreichs Heer laſſe ſich ſchnell und
leicht auf einen Beſtand von 400000 Mann bringen.*) Wie hart es
ihm auch ankam, ſo erklärte er ſich doch mit den preußiſchen Anträgen
einverſtanden; indeß dachte er die Möglichkeit einer gemeinſamen Inter-
vention noch nicht ganz aus der Hand zu geben und ſchlug daher vor,
die vier Mächte ſollten zu einem Congreſſe zuſammentreten oder mindeſtens
in Berlin zur Beobachtung Frankreichs ein centre d’entente bilden. Auf
eine ſolche unnütze Herausforderung der Franzoſen wollte ſich jedoch der
preußiſche Hof nicht einlaſſen; die böſe Erinnerung an den verhängniß-
vollen Pillnitzer Congreß lag gar zu nahe. Für den ſchlimmſten Fall
hielt Metternich noch eine furchtbare Waffe bereit: den Herzog von
Reichſtadt. Er kannte die Furcht der Orleans vor dem großen Namen
der Bonapartes; mehrmals gab er den befreundeten Geſandten, ſchließlich
auch dem Tuilerienhofe ſelbſt zu verſtehen: wenn Frankreich die Verträge
nicht achte, dann würde der Vierbund den Erben des Imperators zurück-
führen.**) Und wahrlich, der junge Napoleon hätte es an ſich nicht fehlen
laſſen. Der Abgott aller Weiber, bildſchön, frühreif, hochbegabt fühlte er

*) Berichte von Brockhauſen 11. 18. Aug., von Blittersdorff 4. Sept. 1830.
**) Maltzahn’s Berichte 5. September 1830. 11. 16. Februar 1831.
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[40/0054] IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede. gegen die ſiegreichen Mächte der Revolution wollte er nicht mehr aufnehmen; er ſtand nicht an, die Niederlage der alten Gewalten ehrlich einzugeſtehen: „das lebhafte Gefühl, daß wir geſchlagen ſind, raubt uns die letzten Kräfte zur Rettung.“ Frieden! — hieß jetzt die Loſung aller ſeiner Briefe. Unermüdlich, und nicht immer ganz der Wahrheit getreu, verſicherte er dem Vertrauten Samuel Rothſchild, zur Mittheilung an die Pariſer Freunde, daß keine der drei Oſtmächte an einen Krieg denke; mit warmem, faſt überſchwänglichem Lobe pries er die Friedfertigkeit der franzöſiſchen Regierung. Nicht lange, ſo entdeckte er ſogar, daß die Volksſouveränität, Dank der Mäßigung des Bürgerkönigs, unvermerkt in eine neue Legiti- mität übergehe: warum könnten dieſe beiden großen Staatsgrundſätze nicht friedlich, wie Proteſtantismus und Katholicismus in der Staaten- geſellſchaft neben einander beſtehen? warum ſollte Europa wieder wie im ſechzehnten Jahrhundert einen Meinungskampf durch die Waffen zu ent- ſcheiden ſuchen? Das Syſtem der Erhaltung und das Syſtem des ruhigen Fortſchritts widerſprechen ſich ja nicht unbedingt. — Alſo ward er, nicht durch freie Ueberzeugung, ſondern durch die Uebermacht der Ereigniſſe und durch die entſagende Verſöhnlichkeit des Alters am Abend ſeines Lebens wieder zurückgeführt zu den gemäßigten Grundſätzen, mit denen er einſt ſeine politiſche Laufbahn begonnen hatte. Gentz’s Meinung fiel kaum mehr ins Gewicht, da er an den Geſchäften nur noch geringen Antheil nahm und, wie Metternich ſagte, nur noch Phantaſie-Dienſte leiſtete. Aber auch der Staatskanzler ſelbſt war tief durchdrungen von dem Gefühle ſeiner Hilfloſigkeit, obgleich er dem preußi- ſchen Geſandten gegenüber prahlte, Oeſterreichs Heer laſſe ſich ſchnell und leicht auf einen Beſtand von 400000 Mann bringen. *) Wie hart es ihm auch ankam, ſo erklärte er ſich doch mit den preußiſchen Anträgen einverſtanden; indeß dachte er die Möglichkeit einer gemeinſamen Inter- vention noch nicht ganz aus der Hand zu geben und ſchlug daher vor, die vier Mächte ſollten zu einem Congreſſe zuſammentreten oder mindeſtens in Berlin zur Beobachtung Frankreichs ein centre d’entente bilden. Auf eine ſolche unnütze Herausforderung der Franzoſen wollte ſich jedoch der preußiſche Hof nicht einlaſſen; die böſe Erinnerung an den verhängniß- vollen Pillnitzer Congreß lag gar zu nahe. Für den ſchlimmſten Fall hielt Metternich noch eine furchtbare Waffe bereit: den Herzog von Reichſtadt. Er kannte die Furcht der Orleans vor dem großen Namen der Bonapartes; mehrmals gab er den befreundeten Geſandten, ſchließlich auch dem Tuilerienhofe ſelbſt zu verſtehen: wenn Frankreich die Verträge nicht achte, dann würde der Vierbund den Erben des Imperators zurück- führen. **) Und wahrlich, der junge Napoleon hätte es an ſich nicht fehlen laſſen. Der Abgott aller Weiber, bildſchön, frühreif, hochbegabt fühlte er *) Berichte von Brockhauſen 11. 18. Aug., von Blittersdorff 4. Sept. 1830. **) Maltzahn’s Berichte 5. September 1830. 11. 16. Februar 1831.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/54>, abgerufen am 24.11.2024.