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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 7. Das Junge Deutschland.
der schlechterdings nicht dauern konnte. Der alternde Rationalismus war
unmerklich in einen rohen Buchstabenglauben zurückgefallen, er hielt die
Worte der heiligen Schrift fest und zerstörte ihren idealen Sinn durch
platte, geschmacklose Auslegungskünste, er glaubte an die Erscheinung der
Taube und bezweifelte die Ausgießung des heiligen Geistes. Die conservati-
ven Hegelianer andererseits versuchten das Dogma aus dem Begriffe abzu-
leiten, die Anhänger Schleiermacher's ebenso vergeblich, die Thatsachen der
evangelischen Geschichte als Aussagen des christlichen Bewußtseins darzu-
stellen. Indem man Widersprüche verschleierte, Ungeschichtliches beschönigte,
entgegengesetzte Berichte in einander schob, suchte man eine Harmonie zu
schaffen, welche weder das gläubige Gemüth noch den kritischen Verstand
befriedigen konnte. Was der ehrwürdige Daub in Heidelberg über die
dogmatische Theologie jetziger Zeit schrieb (1833), war nach Form und
Inhalt rein scholastisch: das Dogma wurde als ein Gegebenes hinge-
nommen und dann mit einem großen Aufwande unfruchtbarer Gelehr-
samkeit speculativ begründet. Da mußte es denn wie eine befreiende That
wirken, als Strauß die strenge Methode historischer Kritik, welche bei der
Behandlung der vorchristlichen Zeiten wie der späteren Jahrhunderte der
Kirchengeschichte schon längst gehandhabt wurde, auch auf die ersten Zeiten
des Christenthums anwendete. Er sagte im Grunde wenig Neues, son-
dern stellte nur in umfassender Uebersicht alle die Widersprüche der evan-
gelischen Berichte zusammen, die seit den Tagen Lessings und des Wolfen-
büttler Fragmentisten vorlängst erkannt, doch immer wieder künstlich ver-
deckt worden waren; und eben darin, daß er mit radicaler Härte heraussagte
was Unzählige insgeheim dachten, lag die verblüffende Wirkung seines
Buches.

Strauß war in kleinbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen und blieb
sein Tagelang in seiner ganzen Lebensführung ein schwäbischer Philister;
er hatte den beengenden Zwang der württembergischen Klosterschulen er-
tragen und, wie vormals der junge Schiller, eine glühende Sehnsucht nach
Freiheit sich angeeignet, weil sein stolzer Sinn den Druck dieses evange-
lischen Klosterlebens nicht ertragen konnte. Mit seinen siebenundzwanzig
Jahren gebot er schon über eine reiche, gründliche Gelehrsamkeit; sein kri-
tischer Scharfsinn war bewunderungswürdig, sein Stil immer lebendig,
anziehend, geistreich, und manche sinnige Gedichte zeigten, daß ihm auch
die Phantasie nicht ganz versagt war. Aber die Macht einer großen, ur-
sprünglichen und darum beständig wachsenden Persönlichkeit, die ihm seine
blinden Verehrer andichteten, besaß er nicht. Er zählte vielmehr zu jenen
tief unglücklichen Talenten, die sich in absteigender Linie entwickeln; sein
erstes Buch blieb sein bestes, und wenn ihm seine orthodoxen Gegner, selbst
der milde Perthes, voraussagten, er werde ein schlechtes Ende nehmen,
so haben sie schließlich doch Recht behalten. Mit jugendlicher Kühnheit
wagte er sich an ein Unternehmen, das weit über seine Kräfte hinausging,

IV. 7. Das Junge Deutſchland.
der ſchlechterdings nicht dauern konnte. Der alternde Rationalismus war
unmerklich in einen rohen Buchſtabenglauben zurückgefallen, er hielt die
Worte der heiligen Schrift feſt und zerſtörte ihren idealen Sinn durch
platte, geſchmackloſe Auslegungskünſte, er glaubte an die Erſcheinung der
Taube und bezweifelte die Ausgießung des heiligen Geiſtes. Die conſervati-
ven Hegelianer andererſeits verſuchten das Dogma aus dem Begriffe abzu-
leiten, die Anhänger Schleiermacher’s ebenſo vergeblich, die Thatſachen der
evangeliſchen Geſchichte als Ausſagen des chriſtlichen Bewußtſeins darzu-
ſtellen. Indem man Widerſprüche verſchleierte, Ungeſchichtliches beſchönigte,
entgegengeſetzte Berichte in einander ſchob, ſuchte man eine Harmonie zu
ſchaffen, welche weder das gläubige Gemüth noch den kritiſchen Verſtand
befriedigen konnte. Was der ehrwürdige Daub in Heidelberg über die
dogmatiſche Theologie jetziger Zeit ſchrieb (1833), war nach Form und
Inhalt rein ſcholaſtiſch: das Dogma wurde als ein Gegebenes hinge-
nommen und dann mit einem großen Aufwande unfruchtbarer Gelehr-
ſamkeit ſpeculativ begründet. Da mußte es denn wie eine befreiende That
wirken, als Strauß die ſtrenge Methode hiſtoriſcher Kritik, welche bei der
Behandlung der vorchriſtlichen Zeiten wie der ſpäteren Jahrhunderte der
Kirchengeſchichte ſchon längſt gehandhabt wurde, auch auf die erſten Zeiten
des Chriſtenthums anwendete. Er ſagte im Grunde wenig Neues, ſon-
dern ſtellte nur in umfaſſender Ueberſicht alle die Widerſprüche der evan-
geliſchen Berichte zuſammen, die ſeit den Tagen Leſſings und des Wolfen-
büttler Fragmentiſten vorlängſt erkannt, doch immer wieder künſtlich ver-
deckt worden waren; und eben darin, daß er mit radicaler Härte herausſagte
was Unzählige insgeheim dachten, lag die verblüffende Wirkung ſeines
Buches.

Strauß war in kleinbürgerlichen Verhältniſſen aufgewachſen und blieb
ſein Tagelang in ſeiner ganzen Lebensführung ein ſchwäbiſcher Philiſter;
er hatte den beengenden Zwang der württembergiſchen Kloſterſchulen er-
tragen und, wie vormals der junge Schiller, eine glühende Sehnſucht nach
Freiheit ſich angeeignet, weil ſein ſtolzer Sinn den Druck dieſes evange-
liſchen Kloſterlebens nicht ertragen konnte. Mit ſeinen ſiebenundzwanzig
Jahren gebot er ſchon über eine reiche, gründliche Gelehrſamkeit; ſein kri-
tiſcher Scharfſinn war bewunderungswürdig, ſein Stil immer lebendig,
anziehend, geiſtreich, und manche ſinnige Gedichte zeigten, daß ihm auch
die Phantaſie nicht ganz verſagt war. Aber die Macht einer großen, ur-
ſprünglichen und darum beſtändig wachſenden Perſönlichkeit, die ihm ſeine
blinden Verehrer andichteten, beſaß er nicht. Er zählte vielmehr zu jenen
tief unglücklichen Talenten, die ſich in abſteigender Linie entwickeln; ſein
erſtes Buch blieb ſein beſtes, und wenn ihm ſeine orthodoxen Gegner, ſelbſt
der milde Perthes, vorausſagten, er werde ein ſchlechtes Ende nehmen,
ſo haben ſie ſchließlich doch Recht behalten. Mit jugendlicher Kühnheit
wagte er ſich an ein Unternehmen, das weit über ſeine Kräfte hinausging,

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[488/0502] IV. 7. Das Junge Deutſchland. der ſchlechterdings nicht dauern konnte. Der alternde Rationalismus war unmerklich in einen rohen Buchſtabenglauben zurückgefallen, er hielt die Worte der heiligen Schrift feſt und zerſtörte ihren idealen Sinn durch platte, geſchmackloſe Auslegungskünſte, er glaubte an die Erſcheinung der Taube und bezweifelte die Ausgießung des heiligen Geiſtes. Die conſervati- ven Hegelianer andererſeits verſuchten das Dogma aus dem Begriffe abzu- leiten, die Anhänger Schleiermacher’s ebenſo vergeblich, die Thatſachen der evangeliſchen Geſchichte als Ausſagen des chriſtlichen Bewußtſeins darzu- ſtellen. Indem man Widerſprüche verſchleierte, Ungeſchichtliches beſchönigte, entgegengeſetzte Berichte in einander ſchob, ſuchte man eine Harmonie zu ſchaffen, welche weder das gläubige Gemüth noch den kritiſchen Verſtand befriedigen konnte. Was der ehrwürdige Daub in Heidelberg über die dogmatiſche Theologie jetziger Zeit ſchrieb (1833), war nach Form und Inhalt rein ſcholaſtiſch: das Dogma wurde als ein Gegebenes hinge- nommen und dann mit einem großen Aufwande unfruchtbarer Gelehr- ſamkeit ſpeculativ begründet. Da mußte es denn wie eine befreiende That wirken, als Strauß die ſtrenge Methode hiſtoriſcher Kritik, welche bei der Behandlung der vorchriſtlichen Zeiten wie der ſpäteren Jahrhunderte der Kirchengeſchichte ſchon längſt gehandhabt wurde, auch auf die erſten Zeiten des Chriſtenthums anwendete. Er ſagte im Grunde wenig Neues, ſon- dern ſtellte nur in umfaſſender Ueberſicht alle die Widerſprüche der evan- geliſchen Berichte zuſammen, die ſeit den Tagen Leſſings und des Wolfen- büttler Fragmentiſten vorlängſt erkannt, doch immer wieder künſtlich ver- deckt worden waren; und eben darin, daß er mit radicaler Härte herausſagte was Unzählige insgeheim dachten, lag die verblüffende Wirkung ſeines Buches. Strauß war in kleinbürgerlichen Verhältniſſen aufgewachſen und blieb ſein Tagelang in ſeiner ganzen Lebensführung ein ſchwäbiſcher Philiſter; er hatte den beengenden Zwang der württembergiſchen Kloſterſchulen er- tragen und, wie vormals der junge Schiller, eine glühende Sehnſucht nach Freiheit ſich angeeignet, weil ſein ſtolzer Sinn den Druck dieſes evange- liſchen Kloſterlebens nicht ertragen konnte. Mit ſeinen ſiebenundzwanzig Jahren gebot er ſchon über eine reiche, gründliche Gelehrſamkeit; ſein kri- tiſcher Scharfſinn war bewunderungswürdig, ſein Stil immer lebendig, anziehend, geiſtreich, und manche ſinnige Gedichte zeigten, daß ihm auch die Phantaſie nicht ganz verſagt war. Aber die Macht einer großen, ur- ſprünglichen und darum beſtändig wachſenden Perſönlichkeit, die ihm ſeine blinden Verehrer andichteten, beſaß er nicht. Er zählte vielmehr zu jenen tief unglücklichen Talenten, die ſich in abſteigender Linie entwickeln; ſein erſtes Buch blieb ſein beſtes, und wenn ihm ſeine orthodoxen Gegner, ſelbſt der milde Perthes, vorausſagten, er werde ein ſchlechtes Ende nehmen, ſo haben ſie ſchließlich doch Recht behalten. Mit jugendlicher Kühnheit wagte er ſich an ein Unternehmen, das weit über ſeine Kräfte hinausging,

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 488. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/502>, abgerufen am 24.11.2024.