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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 7. Das Junge Deutschland.
beständig überstürzen und von einem überwundenen Standpunkt auf den
anderen fallend schließlich in den Tiefen des vaterlandslosen jüdisch-fran-
zösischen Radicalismus anlangen mußte.

Die Jahrbücher brachten anfangs manchen verständigen Aufsatz, sie
vertheidigten Preußen als den Staat der Intelligenz, des Protestantismus,
die Zucht seiner Beamten als ein nothwendiges Moment der Zukunft.
Doch nicht lange, da entdeckten sie schon, daß Preußen von seiner eigent-
lichen Mission vielfach abgefallen sei; sein Beamtenthum sei die schlecht-
hin gefangen gegebene Vernunft, sein ganzes Staatswesen noch katholisch,
denn der Absolutismus stehe und falle mit dem Katholicismus. So ging
es weiter, unaufhaltsam, in rasender Eile. Diesen Kritikern schwieg die
Stimme des Gewissens; sie fühlten sich nie freier, als wenn sie heute für
schwarz erklärten, was sie gestern für weiß gehalten. In einem diktato-
rischen "Manifeste" vernichtete Ruge die Romantik, insbesondere die histo-
rische Schule. Bald darauf schleuderte er auch den Protestantismus selber
den Romantikern in den Abgrund nach: nur die Aufklärung sollte noch
wahrer Protestantismus sein und mit ihr die neue Geschichte anheben.
Jeder lebendige Mensch war nur noch ein Princip und wurde in einem
der unzähligen Schubfächer, worauf die Begriffe des Systems angeschrieben
standen, untergesteckt und begraben. Gentz verschwand als Princip der
Genußsucht, Tholuck als Princip des Mysticismus, Leo als Princip des
hierarchischen Pietismus, der wieder "mit dem Jesuitismus genau zusammen-
treffen" sollte; nun gar in dem conservativen Erdmann zu Halle verkör-
perte sich schlechthin "die Verderbniß der Hegel'schen Philosophie".

Nach altem akademischem Brauche erhoben sich alsbald geharnischte
Feinde wider das streitlustige Blatt. Leo beschuldigte "die Hegelingen" der
Gottlosigkeit, in einem grimmigen Büchlein, das neben starken Uebertrei-
bungen auch manche bittere Wahrheit sagte. Der Verleger der Jahrbücher
aber, der radicale Buchhändler Otto Wigand, gewährte in Leipzig unter dem
Schutze der milden sächsischen Censur allen Junghegelianern eine Freistatt,
und eine Zeit lang gewann es den Anschein, als sollte die zerfahrene deutsche
Publicistik sich an der Pleiße einen neuen unnatürlichen Mittelpunkt schaffen.
Eine Masse von Streitschriften ergoß sich über "den verhallerten Pietisten"
Leo und seinen Kampfgenossen, den jungen Theologen Kahnis. Die Jahr-
bücher stimmten tapfer mit ein; sie verhöhnten die Professoren der mittel-
deutschen Universitäten in drastischen Artikeln, die ersichtlich den liebreichen
Federn verkannter Privatdocenten entstammten, und brandmarkten, ganz
in Heine's unritterlicher Weise, jede Gegenschrift als "eine neue, niedrige
Denunciation wider die Hegel'sche Schule". Schließlich blieb diese gewal-
tige akademische Klopffechterei ebenso unfruchtbar wie einst das burschikose
Toben der Oken'schen Isis. Aber mit der Hitze des Streites und der
Kraft der Schmähworte wuchs der Radicalismus der Ideen; schon ließ
sich voraussehen, daß die absolute Kritik bald auch Vaterland und Volks-

IV. 7. Das Junge Deutſchland.
beſtändig überſtürzen und von einem überwundenen Standpunkt auf den
anderen fallend ſchließlich in den Tiefen des vaterlandsloſen jüdiſch-fran-
zöſiſchen Radicalismus anlangen mußte.

Die Jahrbücher brachten anfangs manchen verſtändigen Aufſatz, ſie
vertheidigten Preußen als den Staat der Intelligenz, des Proteſtantismus,
die Zucht ſeiner Beamten als ein nothwendiges Moment der Zukunft.
Doch nicht lange, da entdeckten ſie ſchon, daß Preußen von ſeiner eigent-
lichen Miſſion vielfach abgefallen ſei; ſein Beamtenthum ſei die ſchlecht-
hin gefangen gegebene Vernunft, ſein ganzes Staatsweſen noch katholiſch,
denn der Abſolutismus ſtehe und falle mit dem Katholicismus. So ging
es weiter, unaufhaltſam, in raſender Eile. Dieſen Kritikern ſchwieg die
Stimme des Gewiſſens; ſie fühlten ſich nie freier, als wenn ſie heute für
ſchwarz erklärten, was ſie geſtern für weiß gehalten. In einem diktato-
riſchen „Manifeſte“ vernichtete Ruge die Romantik, insbeſondere die hiſto-
riſche Schule. Bald darauf ſchleuderte er auch den Proteſtantismus ſelber
den Romantikern in den Abgrund nach: nur die Aufklärung ſollte noch
wahrer Proteſtantismus ſein und mit ihr die neue Geſchichte anheben.
Jeder lebendige Menſch war nur noch ein Princip und wurde in einem
der unzähligen Schubfächer, worauf die Begriffe des Syſtems angeſchrieben
ſtanden, untergeſteckt und begraben. Gentz verſchwand als Princip der
Genußſucht, Tholuck als Princip des Myſticismus, Leo als Princip des
hierarchiſchen Pietismus, der wieder „mit dem Jeſuitismus genau zuſammen-
treffen“ ſollte; nun gar in dem conſervativen Erdmann zu Halle verkör-
perte ſich ſchlechthin „die Verderbniß der Hegel’ſchen Philoſophie“.

Nach altem akademiſchem Brauche erhoben ſich alsbald geharniſchte
Feinde wider das ſtreitluſtige Blatt. Leo beſchuldigte „die Hegelingen“ der
Gottloſigkeit, in einem grimmigen Büchlein, das neben ſtarken Uebertrei-
bungen auch manche bittere Wahrheit ſagte. Der Verleger der Jahrbücher
aber, der radicale Buchhändler Otto Wigand, gewährte in Leipzig unter dem
Schutze der milden ſächſiſchen Cenſur allen Junghegelianern eine Freiſtatt,
und eine Zeit lang gewann es den Anſchein, als ſollte die zerfahrene deutſche
Publiciſtik ſich an der Pleiße einen neuen unnatürlichen Mittelpunkt ſchaffen.
Eine Maſſe von Streitſchriften ergoß ſich über „den verhallerten Pietiſten“
Leo und ſeinen Kampfgenoſſen, den jungen Theologen Kahnis. Die Jahr-
bücher ſtimmten tapfer mit ein; ſie verhöhnten die Profeſſoren der mittel-
deutſchen Univerſitäten in draſtiſchen Artikeln, die erſichtlich den liebreichen
Federn verkannter Privatdocenten entſtammten, und brandmarkten, ganz
in Heine’s unritterlicher Weiſe, jede Gegenſchrift als „eine neue, niedrige
Denunciation wider die Hegel’ſche Schule“. Schließlich blieb dieſe gewal-
tige akademiſche Klopffechterei ebenſo unfruchtbar wie einſt das burſchikoſe
Toben der Oken’ſchen Iſis. Aber mit der Hitze des Streites und der
Kraft der Schmähworte wuchs der Radicalismus der Ideen; ſchon ließ
ſich vorausſehen, daß die abſolute Kritik bald auch Vaterland und Volks-

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[486/0500] IV. 7. Das Junge Deutſchland. beſtändig überſtürzen und von einem überwundenen Standpunkt auf den anderen fallend ſchließlich in den Tiefen des vaterlandsloſen jüdiſch-fran- zöſiſchen Radicalismus anlangen mußte. Die Jahrbücher brachten anfangs manchen verſtändigen Aufſatz, ſie vertheidigten Preußen als den Staat der Intelligenz, des Proteſtantismus, die Zucht ſeiner Beamten als ein nothwendiges Moment der Zukunft. Doch nicht lange, da entdeckten ſie ſchon, daß Preußen von ſeiner eigent- lichen Miſſion vielfach abgefallen ſei; ſein Beamtenthum ſei die ſchlecht- hin gefangen gegebene Vernunft, ſein ganzes Staatsweſen noch katholiſch, denn der Abſolutismus ſtehe und falle mit dem Katholicismus. So ging es weiter, unaufhaltſam, in raſender Eile. Dieſen Kritikern ſchwieg die Stimme des Gewiſſens; ſie fühlten ſich nie freier, als wenn ſie heute für ſchwarz erklärten, was ſie geſtern für weiß gehalten. In einem diktato- riſchen „Manifeſte“ vernichtete Ruge die Romantik, insbeſondere die hiſto- riſche Schule. Bald darauf ſchleuderte er auch den Proteſtantismus ſelber den Romantikern in den Abgrund nach: nur die Aufklärung ſollte noch wahrer Proteſtantismus ſein und mit ihr die neue Geſchichte anheben. Jeder lebendige Menſch war nur noch ein Princip und wurde in einem der unzähligen Schubfächer, worauf die Begriffe des Syſtems angeſchrieben ſtanden, untergeſteckt und begraben. Gentz verſchwand als Princip der Genußſucht, Tholuck als Princip des Myſticismus, Leo als Princip des hierarchiſchen Pietismus, der wieder „mit dem Jeſuitismus genau zuſammen- treffen“ ſollte; nun gar in dem conſervativen Erdmann zu Halle verkör- perte ſich ſchlechthin „die Verderbniß der Hegel’ſchen Philoſophie“. Nach altem akademiſchem Brauche erhoben ſich alsbald geharniſchte Feinde wider das ſtreitluſtige Blatt. Leo beſchuldigte „die Hegelingen“ der Gottloſigkeit, in einem grimmigen Büchlein, das neben ſtarken Uebertrei- bungen auch manche bittere Wahrheit ſagte. Der Verleger der Jahrbücher aber, der radicale Buchhändler Otto Wigand, gewährte in Leipzig unter dem Schutze der milden ſächſiſchen Cenſur allen Junghegelianern eine Freiſtatt, und eine Zeit lang gewann es den Anſchein, als ſollte die zerfahrene deutſche Publiciſtik ſich an der Pleiße einen neuen unnatürlichen Mittelpunkt ſchaffen. Eine Maſſe von Streitſchriften ergoß ſich über „den verhallerten Pietiſten“ Leo und ſeinen Kampfgenoſſen, den jungen Theologen Kahnis. Die Jahr- bücher ſtimmten tapfer mit ein; ſie verhöhnten die Profeſſoren der mittel- deutſchen Univerſitäten in draſtiſchen Artikeln, die erſichtlich den liebreichen Federn verkannter Privatdocenten entſtammten, und brandmarkten, ganz in Heine’s unritterlicher Weiſe, jede Gegenſchrift als „eine neue, niedrige Denunciation wider die Hegel’ſche Schule“. Schließlich blieb dieſe gewal- tige akademiſche Klopffechterei ebenſo unfruchtbar wie einſt das burſchikoſe Toben der Oken’ſchen Iſis. Aber mit der Hitze des Streites und der Kraft der Schmähworte wuchs der Radicalismus der Ideen; ſchon ließ ſich vorausſehen, daß die abſolute Kritik bald auch Vaterland und Volks-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 486. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/500>, abgerufen am 24.11.2024.