Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.Holländer und Belgier. Krone eigenmächtig eingeführt. Da beide Landestheile durch die gleicheStimmenzahl in den Generalstaaten vertreten waren, die Holländer mit dem Stolze des Herrenvolkes einmüthig zusammenhielten, unter den bel- gischen Stimmen aber immer einzelne den Winken der Regierung folgten, so wurde die belgische Mehrheit von der holländischen Minderheit regel- mäßig überstimmt. Holländer bekleideten weitaus die meisten wichtigen Stellen im Staatsdienst; alle Oberbehörden, sogar die Verwaltung der den Holländern ganz unbekannten Bergwerke erhielten ihren Sitz in Holland. Durch rücksichtslose Einführung der holländischen Staatssprache verdarb man sich sogar unbedachtsam die köstliche Gelegenheit, dies Land der ewigen Sprachenkämpfe friedlich zu germanisiren, den flamischen Dialekt, der dem holländischen so nahe stand, zur Würde einer Schriftsprache zu erheben. Den alten stürmischen Freiheitstrotz der Genter und der Brüggelinge hatten die Jahrhunderte der Fremdherrschaft längst gezähmt; aber ge- blieben war den Belgiern ein störrisches Mißtrauen gegen jede Regierung. Wie sollten sie sich auch ein Herz fassen zu diesem Könige Wilhelm I., der, vom Wirbel bis zur Zehe ein protestantischer Holländer, mit dem Dünkel seines harten Verstandes auf den Aberglauben seiner katholischen Unterthanen herabschaute und zudem, unbekümmert um die moderne Lehre von der Verantwortlichkeit der Minister, nach der Weise seiner oranischen Vorfahren persönlich regierte? Das wohlhabende Bürgerthum hielt sich lange still, da der Wohl- Endlich, in denselben verhängnißschweren Tagen, da das Ministerium Treitschke, Deutsche Geschichte. IV. 3
Holländer und Belgier. Krone eigenmächtig eingeführt. Da beide Landestheile durch die gleicheStimmenzahl in den Generalſtaaten vertreten waren, die Holländer mit dem Stolze des Herrenvolkes einmüthig zuſammenhielten, unter den bel- giſchen Stimmen aber immer einzelne den Winken der Regierung folgten, ſo wurde die belgiſche Mehrheit von der holländiſchen Minderheit regel- mäßig überſtimmt. Holländer bekleideten weitaus die meiſten wichtigen Stellen im Staatsdienſt; alle Oberbehörden, ſogar die Verwaltung der den Holländern ganz unbekannten Bergwerke erhielten ihren Sitz in Holland. Durch rückſichtsloſe Einführung der holländiſchen Staatsſprache verdarb man ſich ſogar unbedachtſam die köſtliche Gelegenheit, dies Land der ewigen Sprachenkämpfe friedlich zu germaniſiren, den flamiſchen Dialekt, der dem holländiſchen ſo nahe ſtand, zur Würde einer Schriftſprache zu erheben. Den alten ſtürmiſchen Freiheitstrotz der Genter und der Brüggelinge hatten die Jahrhunderte der Fremdherrſchaft längſt gezähmt; aber ge- blieben war den Belgiern ein ſtörriſches Mißtrauen gegen jede Regierung. Wie ſollten ſie ſich auch ein Herz faſſen zu dieſem Könige Wilhelm I., der, vom Wirbel bis zur Zehe ein proteſtantiſcher Holländer, mit dem Dünkel ſeines harten Verſtandes auf den Aberglauben ſeiner katholiſchen Unterthanen herabſchaute und zudem, unbekümmert um die moderne Lehre von der Verantwortlichkeit der Miniſter, nach der Weiſe ſeiner oraniſchen Vorfahren perſönlich regierte? Das wohlhabende Bürgerthum hielt ſich lange ſtill, da der Wohl- Endlich, in denſelben verhängnißſchweren Tagen, da das Miniſterium Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 3
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Holländer und Belgier.
Krone eigenmächtig eingeführt. Da beide Landestheile durch die gleiche
Stimmenzahl in den Generalſtaaten vertreten waren, die Holländer mit
dem Stolze des Herrenvolkes einmüthig zuſammenhielten, unter den bel-
giſchen Stimmen aber immer einzelne den Winken der Regierung folgten,
ſo wurde die belgiſche Mehrheit von der holländiſchen Minderheit regel-
mäßig überſtimmt. Holländer bekleideten weitaus die meiſten wichtigen
Stellen im Staatsdienſt; alle Oberbehörden, ſogar die Verwaltung der den
Holländern ganz unbekannten Bergwerke erhielten ihren Sitz in Holland.
Durch rückſichtsloſe Einführung der holländiſchen Staatsſprache verdarb
man ſich ſogar unbedachtſam die köſtliche Gelegenheit, dies Land der ewigen
Sprachenkämpfe friedlich zu germaniſiren, den flamiſchen Dialekt, der dem
holländiſchen ſo nahe ſtand, zur Würde einer Schriftſprache zu erheben.
Den alten ſtürmiſchen Freiheitstrotz der Genter und der Brüggelinge
hatten die Jahrhunderte der Fremdherrſchaft längſt gezähmt; aber ge-
blieben war den Belgiern ein ſtörriſches Mißtrauen gegen jede Regierung.
Wie ſollten ſie ſich auch ein Herz faſſen zu dieſem Könige Wilhelm I.,
der, vom Wirbel bis zur Zehe ein proteſtantiſcher Holländer, mit dem
Dünkel ſeines harten Verſtandes auf den Aberglauben ſeiner katholiſchen
Unterthanen herabſchaute und zudem, unbekümmert um die moderne Lehre
von der Verantwortlichkeit der Miniſter, nach der Weiſe ſeiner oraniſchen
Vorfahren perſönlich regierte?
Das wohlhabende Bürgerthum hielt ſich lange ſtill, da der Wohl-
ſtand wuchs und der belgiſche Gewerbfleiß in den holländiſchen Kolonien
lohnenden Abſatz fand. Zuerſt regte ſich der Widerſtand unter dem Adel
und den Geiſtlichen; dann folgten die von ihren Pfarrherren geleiteten
Maſſen. Die Führer der Clericalen blickten hoffend nach Frankreich
hinüber, nach der Congregation des Pavillons Marſan. Der König aber
führte, wenig wähleriſch in den Mitteln, einen geheimen Krieg gegen die
Bourbonen, er begünſtigte unter der Hand die Anſchläge der franzöſiſchen
Unzufriedenen, er gewährte ihren Flüchtlingen jahrelang in Brüſſel eine
Freiſtatt und bewirkte alſo, daß der belgiſche Liberalismus durch dieſe
Gäſte ganz mit franzöſiſchen Gedanken durchtränkt wurde. Der Haß
gegen die Holländer beförderte zugleich die franzöſiſche Bildung und die
Macht der Kirche. Der ſcharf bureaukratiſchen Kirchenpolitik des Königs
trat der Clerus mit offenbarer Unbotmäßigkeit entgegen; wieder wie in
Kaiſer Joſeph’s Tagen klagte er über Glaubensdruck weil die Staatsge-
walt ein geiſtliches Seminar in Löwen errichtet hatte. Den maßloſen
Anklagen der Ultramontanen antworteten in der amtlichen Preſſe der
berüchtigte Libry-Bagnano und ſeine Genoſſen mit einer Roheit, die ein
katholiſches Volk empören mußte.
Endlich, in denſelben verhängnißſchweren Tagen, da das Miniſterium
Martignac zuſammenſtürzte, ſprach der O’Connell Belgiens, Louis de
Potter das entſcheidende Wort: Union der Liberalen und der Katholiken.
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 3
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