der heiligen Geschichte verständliches Leben giebt, so weiß er auch durch Gretchens Erscheinen die Idee der Liebe künstlerisch zu veranschaulichen. In der Wiedervereinigung der beiden Liebenden verwirklicht sich der be- seligende Traum, der, seit Dante ihn zuerst besang, in der christlichen Dich- tung immer wiederiehrt: wie die irdische Liebe sich zur himmlischen verklärt. Faust's Unsterbliches wird zum Himmel getragen und die Engel singen:
Gerettet ist das edle Glied Der Geisterwelt vom Bösen. Wer immer strebend sich bemüht, Den können wir erlösen. Und hat an ihm die Liebe gar Von oben theilgenommen, Begegnet ihm die sel'ge Schaar Mit herzlichem Willkommen.
Also nahm unsere classische Dichtung bei ihrem letzten Ausgange die beiden Grundwahrheiten der Reformation wieder auf. In freierer, milderer Form wiederholte Goethe den kühnen und doch so zermalmend schweren Ausspruch Martin Luther's "gute Werke machen nimmermehr einen guten Mann, sondern ein guter Mann machet gute Werke", und bekannte sich zugleich zum Glauben an die erlösende Macht der göttlichen Barmherzigkeit.
Das junge Geschlecht lebte am Tage den Tag; ihm fehlte die Samm- lung des Geistes um ein Werk zu würdigen, das über die gerühmte "Jetzt- zeit" der Zeitungsschreiber so weit hinausragte. Längst stand ihm fest, daß die burschikosen Witze von Heine's Harzreise mehr bedeuteten als Goethe's Italienische Reise, ein beliebiger Tendenzroman zur Verherrlichung des freien Weibes mehr als Wilhelm Meister. Nun gar der mystische Schluß des Gedichts galt den radicalen Poeten für eine frostige Allegorie; denn so tief waren sie schon von französischer Verbildung angefressen, daß sie den eigensten Vorzug der protestantischen deutschen Cultur, die Versöhnung von Freiheit und Frömmigkeit, gar nicht mehr kannten und schlechterdings nicht begreifen wollten, wie ein starker Geist religiös empfinden könne. Zu allem Unglück begann nun auch die Zunft der Goetheforscher ihre pedan- tische Arbeit, eine neue wenig erfreuliche Spielart des deutschen gelehrten Philisterthums. Göschel, Hinrichs, Rötscher und andere Hegelianer, dann Philologen und Literarhistoriker in langer Reihe bemächtigten sich des Faust um in alexandrinischen Commentaren ihre Auslegungskünste zu zeigen; sie warfen sich mit Vorliebe auf die schwächsten, die dunkelsten Stellen des Werkes und suchten zu ergründen, was der alte Herr in seine symbolischen Andeutungen wohl Alles hineingeheimnißt habe. So ward die Dichtung der Jugend vollends verleidet, und lange blieb die Welt der Ansicht, mit diesem Buche hätte Goethe doch dem Alter seinen Zoll entrichtet.
Die schöpferischen Köpfe der deutschen Kunst haben diese Meinung nie getheilt; wie oft saß Schinkel in Rauch's Werkstatt, mit dem Faust in der Hand, um dem dankbaren Freunde den Born neuer künstlerischer An-
Goethe’s Vermächtniß.
der heiligen Geſchichte verſtändliches Leben giebt, ſo weiß er auch durch Gretchens Erſcheinen die Idee der Liebe künſtleriſch zu veranſchaulichen. In der Wiedervereinigung der beiden Liebenden verwirklicht ſich der be- ſeligende Traum, der, ſeit Dante ihn zuerſt beſang, in der chriſtlichen Dich- tung immer wiederiehrt: wie die irdiſche Liebe ſich zur himmliſchen verklärt. Fauſt’s Unſterbliches wird zum Himmel getragen und die Engel ſingen:
Gerettet iſt das edle Glied Der Geiſterwelt vom Böſen. Wer immer ſtrebend ſich bemüht, Den können wir erlöſen. Und hat an ihm die Liebe gar Von oben theilgenommen, Begegnet ihm die ſel’ge Schaar Mit herzlichem Willkommen.
Alſo nahm unſere claſſiſche Dichtung bei ihrem letzten Ausgange die beiden Grundwahrheiten der Reformation wieder auf. In freierer, milderer Form wiederholte Goethe den kühnen und doch ſo zermalmend ſchweren Ausſpruch Martin Luther’s „gute Werke machen nimmermehr einen guten Mann, ſondern ein guter Mann machet gute Werke“, und bekannte ſich zugleich zum Glauben an die erlöſende Macht der göttlichen Barmherzigkeit.
Das junge Geſchlecht lebte am Tage den Tag; ihm fehlte die Samm- lung des Geiſtes um ein Werk zu würdigen, das über die gerühmte „Jetzt- zeit“ der Zeitungsſchreiber ſo weit hinausragte. Längſt ſtand ihm feſt, daß die burſchikoſen Witze von Heine’s Harzreiſe mehr bedeuteten als Goethe’s Italieniſche Reiſe, ein beliebiger Tendenzroman zur Verherrlichung des freien Weibes mehr als Wilhelm Meiſter. Nun gar der myſtiſche Schluß des Gedichts galt den radicalen Poeten für eine froſtige Allegorie; denn ſo tief waren ſie ſchon von franzöſiſcher Verbildung angefreſſen, daß ſie den eigenſten Vorzug der proteſtantiſchen deutſchen Cultur, die Verſöhnung von Freiheit und Frömmigkeit, gar nicht mehr kannten und ſchlechterdings nicht begreifen wollten, wie ein ſtarker Geiſt religiös empfinden könne. Zu allem Unglück begann nun auch die Zunft der Goetheforſcher ihre pedan- tiſche Arbeit, eine neue wenig erfreuliche Spielart des deutſchen gelehrten Philiſterthums. Göſchel, Hinrichs, Rötſcher und andere Hegelianer, dann Philologen und Literarhiſtoriker in langer Reihe bemächtigten ſich des Fauſt um in alexandriniſchen Commentaren ihre Auslegungskünſte zu zeigen; ſie warfen ſich mit Vorliebe auf die ſchwächſten, die dunkelſten Stellen des Werkes und ſuchten zu ergründen, was der alte Herr in ſeine ſymboliſchen Andeutungen wohl Alles hineingeheimnißt habe. So ward die Dichtung der Jugend vollends verleidet, und lange blieb die Welt der Anſicht, mit dieſem Buche hätte Goethe doch dem Alter ſeinen Zoll entrichtet.
Die ſchöpferiſchen Köpfe der deutſchen Kunſt haben dieſe Meinung nie getheilt; wie oft ſaß Schinkel in Rauch’s Werkſtatt, mit dem Fauſt in der Hand, um dem dankbaren Freunde den Born neuer künſtleriſcher An-
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der heiligen Geſchichte verſtändliches Leben giebt, ſo weiß er auch durch
Gretchens Erſcheinen die Idee der Liebe künſtleriſch zu veranſchaulichen.
In der Wiedervereinigung der beiden Liebenden verwirklicht ſich der be-
ſeligende Traum, der, ſeit Dante ihn zuerſt beſang, in der chriſtlichen Dich-
tung immer wiederiehrt: wie die irdiſche Liebe ſich zur himmliſchen verklärt.
Fauſt’s Unſterbliches wird zum Himmel getragen und die Engel ſingen:
Gerettet iſt das edle Glied
Der Geiſterwelt vom Böſen.
Wer immer ſtrebend ſich bemüht,
Den können wir erlöſen.
Und hat an ihm die Liebe gar
Von oben theilgenommen,
Begegnet ihm die ſel’ge Schaar
Mit herzlichem Willkommen.
Alſo nahm unſere claſſiſche Dichtung bei ihrem letzten Ausgange die beiden
Grundwahrheiten der Reformation wieder auf. In freierer, milderer Form
wiederholte Goethe den kühnen und doch ſo zermalmend ſchweren Ausſpruch
Martin Luther’s „gute Werke machen nimmermehr einen guten Mann,
ſondern ein guter Mann machet gute Werke“, und bekannte ſich zugleich
zum Glauben an die erlöſende Macht der göttlichen Barmherzigkeit.
Das junge Geſchlecht lebte am Tage den Tag; ihm fehlte die Samm-
lung des Geiſtes um ein Werk zu würdigen, das über die gerühmte „Jetzt-
zeit“ der Zeitungsſchreiber ſo weit hinausragte. Längſt ſtand ihm feſt, daß
die burſchikoſen Witze von Heine’s Harzreiſe mehr bedeuteten als Goethe’s
Italieniſche Reiſe, ein beliebiger Tendenzroman zur Verherrlichung des
freien Weibes mehr als Wilhelm Meiſter. Nun gar der myſtiſche Schluß
des Gedichts galt den radicalen Poeten für eine froſtige Allegorie; denn
ſo tief waren ſie ſchon von franzöſiſcher Verbildung angefreſſen, daß ſie
den eigenſten Vorzug der proteſtantiſchen deutſchen Cultur, die Verſöhnung
von Freiheit und Frömmigkeit, gar nicht mehr kannten und ſchlechterdings
nicht begreifen wollten, wie ein ſtarker Geiſt religiös empfinden könne. Zu
allem Unglück begann nun auch die Zunft der Goetheforſcher ihre pedan-
tiſche Arbeit, eine neue wenig erfreuliche Spielart des deutſchen gelehrten
Philiſterthums. Göſchel, Hinrichs, Rötſcher und andere Hegelianer, dann
Philologen und Literarhiſtoriker in langer Reihe bemächtigten ſich des Fauſt
um in alexandriniſchen Commentaren ihre Auslegungskünſte zu zeigen; ſie
warfen ſich mit Vorliebe auf die ſchwächſten, die dunkelſten Stellen des
Werkes und ſuchten zu ergründen, was der alte Herr in ſeine ſymboliſchen
Andeutungen wohl Alles hineingeheimnißt habe. So ward die Dichtung
der Jugend vollends verleidet, und lange blieb die Welt der Anſicht, mit
dieſem Buche hätte Goethe doch dem Alter ſeinen Zoll entrichtet.
Die ſchöpferiſchen Köpfe der deutſchen Kunſt haben dieſe Meinung
nie getheilt; wie oft ſaß Schinkel in Rauch’s Werkſtatt, mit dem Fauſt in
der Hand, um dem dankbaren Freunde den Born neuer künſtleriſcher An-
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 415. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/429>, abgerufen am 24.11.2024.
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