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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Bedeutung des Zollvereins.
Zollvereine beitreten solle. Preußen wies den Gedanken zurück, und auch
späterhin, als das unreife Nationalgefühl deutscher Publicisten wiederholt
für einen Handelsbund mit der Schweiz oder mit Holland sich erwärmte,
wahrte Preußen unbeirrt den nationalen Charakter des Zollvereins. Also
entstanden zwei Gemeinwesen im Deutschen Bunde: ein Deutschland des
Scheines, das in Frankfurt, ein Deutschland der ehrlichen Arbeit, das in
Berlin seinen Mittelpunkt fand. Der preußische Staat erfüllte, indem er
Deutschlands Handelspolitik leitete, einen Theil der Pflichten, welche dem
Deutschen Bunde oblagen, wie er zugleich allein durch sein Heer die
Grenzen des Vaterlandes sicherte. So ist er durch redlichen Fleiß langsam
emporgewachsen zur führenden Macht des Vaterlandes; und nur weil die
europäische Welt es nicht der Mühe werth hielt, das Heerwesen und die
Handelspolitik Preußens ernstlich kennen zu lernen, bemerkte sie nicht das
stille Erstarken der Mitte des Festlandes.

Die wirthschaftliche und die politische Einigung Deutschlands zeigen
eine überraschende Verwandtschaft in ihrer Geschichte. Beide Bewegungen
gleichen einem großen dialektischen Processe: erst nachdem durch wieder-
holte vergebliche Versuche die Unmöglichkeit jeder andern Form der Ein-
heit zweifellos erwiesen war, errang die preußische Hegemonie den Sieg.
Ein reiches Erbe monarchischer und im guten Sinne föderalistischer Ueber-
lieferungen ist aus den Erfahrungen des Zollvereins übergegangen auf
den Norddeutschen Bund und das Deutsche Reich. In dem Zollvereine
lernte Preußen, einen vielköpfigen, fast formlosen Bund, der sich in keine
Kategorie des Staatsrechts einfügen wollte, monarchisch zu leiten, mehr
durch Einsicht und Wohlwollen und durch das natürliche Uebergewicht der
Macht als durch förmliches Vorrecht. Zwei grundverschiedene Schulen
deutscher Staatsmänner wuchsen auf seit den dreißiger Jahren. Auf der
einen Seite die Politiker des Bundestags, diese bejammernswerthen Ge-
schöpfe, denen die Erbsünde der Diplomatie, die Verwechslung von Ge-
schäft und Klatscherei, zur anderen Natur geworden war, diese durch die
condensirte Milch der Augsburger Allgemeinen und der Frankfurter Ober-
Postamts-Zeitung mühsam am Leben erhaltenen politischen Kinder, die
mit so feierlichem Ernst von den Formen und Formeln des hohlen Bun-
desrechts zu reden wußten. Und daneben die Geschäftsmänner des Zoll-
vereins, nüchterne praktische Leute, gewohnt, ernsthafte Interessenfragen
umsichtig zu erwägen, die Wünsche und Bedürfnisse der Nachbarn mit
Gerechtigkeit und Milde zu beachten. Auf der hohen Schule der Zoll-
conferenzen und der mannichfachen Berathungen über die Fragen des
Verkehrs, lernten Preußens Staatsmänner die Methode neuer deutscher
Politik: die Kunst, reizbare kleine Bundesgenossen ohne Gehässigkeit und
Gewaltthat zu leiten, unter bündischen Formen das Wesen der Monarchie
zu wahren.

Der Gedanke des Zollvereins war nicht eines Mannes Eigenthum,

Bedeutung des Zollvereins.
Zollvereine beitreten ſolle. Preußen wies den Gedanken zurück, und auch
ſpäterhin, als das unreife Nationalgefühl deutſcher Publiciſten wiederholt
für einen Handelsbund mit der Schweiz oder mit Holland ſich erwärmte,
wahrte Preußen unbeirrt den nationalen Charakter des Zollvereins. Alſo
entſtanden zwei Gemeinweſen im Deutſchen Bunde: ein Deutſchland des
Scheines, das in Frankfurt, ein Deutſchland der ehrlichen Arbeit, das in
Berlin ſeinen Mittelpunkt fand. Der preußiſche Staat erfüllte, indem er
Deutſchlands Handelspolitik leitete, einen Theil der Pflichten, welche dem
Deutſchen Bunde oblagen, wie er zugleich allein durch ſein Heer die
Grenzen des Vaterlandes ſicherte. So iſt er durch redlichen Fleiß langſam
emporgewachſen zur führenden Macht des Vaterlandes; und nur weil die
europäiſche Welt es nicht der Mühe werth hielt, das Heerweſen und die
Handelspolitik Preußens ernſtlich kennen zu lernen, bemerkte ſie nicht das
ſtille Erſtarken der Mitte des Feſtlandes.

Die wirthſchaftliche und die politiſche Einigung Deutſchlands zeigen
eine überraſchende Verwandtſchaft in ihrer Geſchichte. Beide Bewegungen
gleichen einem großen dialektiſchen Proceſſe: erſt nachdem durch wieder-
holte vergebliche Verſuche die Unmöglichkeit jeder andern Form der Ein-
heit zweifellos erwieſen war, errang die preußiſche Hegemonie den Sieg.
Ein reiches Erbe monarchiſcher und im guten Sinne föderaliſtiſcher Ueber-
lieferungen iſt aus den Erfahrungen des Zollvereins übergegangen auf
den Norddeutſchen Bund und das Deutſche Reich. In dem Zollvereine
lernte Preußen, einen vielköpfigen, faſt formloſen Bund, der ſich in keine
Kategorie des Staatsrechts einfügen wollte, monarchiſch zu leiten, mehr
durch Einſicht und Wohlwollen und durch das natürliche Uebergewicht der
Macht als durch förmliches Vorrecht. Zwei grundverſchiedene Schulen
deutſcher Staatsmänner wuchſen auf ſeit den dreißiger Jahren. Auf der
einen Seite die Politiker des Bundestags, dieſe bejammernswerthen Ge-
ſchöpfe, denen die Erbſünde der Diplomatie, die Verwechslung von Ge-
ſchäft und Klatſcherei, zur anderen Natur geworden war, dieſe durch die
condenſirte Milch der Augsburger Allgemeinen und der Frankfurter Ober-
Poſtamts-Zeitung mühſam am Leben erhaltenen politiſchen Kinder, die
mit ſo feierlichem Ernſt von den Formen und Formeln des hohlen Bun-
desrechts zu reden wußten. Und daneben die Geſchäftsmänner des Zoll-
vereins, nüchterne praktiſche Leute, gewohnt, ernſthafte Intereſſenfragen
umſichtig zu erwägen, die Wünſche und Bedürfniſſe der Nachbarn mit
Gerechtigkeit und Milde zu beachten. Auf der hohen Schule der Zoll-
conferenzen und der mannichfachen Berathungen über die Fragen des
Verkehrs, lernten Preußens Staatsmänner die Methode neuer deutſcher
Politik: die Kunſt, reizbare kleine Bundesgenoſſen ohne Gehäſſigkeit und
Gewaltthat zu leiten, unter bündiſchen Formen das Weſen der Monarchie
zu wahren.

Der Gedanke des Zollvereins war nicht eines Mannes Eigenthum,

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[405/0419] Bedeutung des Zollvereins. Zollvereine beitreten ſolle. Preußen wies den Gedanken zurück, und auch ſpäterhin, als das unreife Nationalgefühl deutſcher Publiciſten wiederholt für einen Handelsbund mit der Schweiz oder mit Holland ſich erwärmte, wahrte Preußen unbeirrt den nationalen Charakter des Zollvereins. Alſo entſtanden zwei Gemeinweſen im Deutſchen Bunde: ein Deutſchland des Scheines, das in Frankfurt, ein Deutſchland der ehrlichen Arbeit, das in Berlin ſeinen Mittelpunkt fand. Der preußiſche Staat erfüllte, indem er Deutſchlands Handelspolitik leitete, einen Theil der Pflichten, welche dem Deutſchen Bunde oblagen, wie er zugleich allein durch ſein Heer die Grenzen des Vaterlandes ſicherte. So iſt er durch redlichen Fleiß langſam emporgewachſen zur führenden Macht des Vaterlandes; und nur weil die europäiſche Welt es nicht der Mühe werth hielt, das Heerweſen und die Handelspolitik Preußens ernſtlich kennen zu lernen, bemerkte ſie nicht das ſtille Erſtarken der Mitte des Feſtlandes. Die wirthſchaftliche und die politiſche Einigung Deutſchlands zeigen eine überraſchende Verwandtſchaft in ihrer Geſchichte. Beide Bewegungen gleichen einem großen dialektiſchen Proceſſe: erſt nachdem durch wieder- holte vergebliche Verſuche die Unmöglichkeit jeder andern Form der Ein- heit zweifellos erwieſen war, errang die preußiſche Hegemonie den Sieg. Ein reiches Erbe monarchiſcher und im guten Sinne föderaliſtiſcher Ueber- lieferungen iſt aus den Erfahrungen des Zollvereins übergegangen auf den Norddeutſchen Bund und das Deutſche Reich. In dem Zollvereine lernte Preußen, einen vielköpfigen, faſt formloſen Bund, der ſich in keine Kategorie des Staatsrechts einfügen wollte, monarchiſch zu leiten, mehr durch Einſicht und Wohlwollen und durch das natürliche Uebergewicht der Macht als durch förmliches Vorrecht. Zwei grundverſchiedene Schulen deutſcher Staatsmänner wuchſen auf ſeit den dreißiger Jahren. Auf der einen Seite die Politiker des Bundestags, dieſe bejammernswerthen Ge- ſchöpfe, denen die Erbſünde der Diplomatie, die Verwechslung von Ge- ſchäft und Klatſcherei, zur anderen Natur geworden war, dieſe durch die condenſirte Milch der Augsburger Allgemeinen und der Frankfurter Ober- Poſtamts-Zeitung mühſam am Leben erhaltenen politiſchen Kinder, die mit ſo feierlichem Ernſt von den Formen und Formeln des hohlen Bun- desrechts zu reden wußten. Und daneben die Geſchäftsmänner des Zoll- vereins, nüchterne praktiſche Leute, gewohnt, ernſthafte Intereſſenfragen umſichtig zu erwägen, die Wünſche und Bedürfniſſe der Nachbarn mit Gerechtigkeit und Milde zu beachten. Auf der hohen Schule der Zoll- conferenzen und der mannichfachen Berathungen über die Fragen des Verkehrs, lernten Preußens Staatsmänner die Methode neuer deutſcher Politik: die Kunſt, reizbare kleine Bundesgenoſſen ohne Gehäſſigkeit und Gewaltthat zu leiten, unter bündiſchen Formen das Weſen der Monarchie zu wahren. Der Gedanke des Zollvereins war nicht eines Mannes Eigenthum,

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 405. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/419>, abgerufen am 24.11.2024.