Wache heran, und während des Getümmels versuchten sämmtliche Ge- fangene auszubrechen. Die betrunkenen Soldaten stürzten an die Gewehre und schossen blindlings unter den Haufen; ein Bürger fiel, mehrere wurden verwundet. Von den Studenten entkam nur einer, ein anderer ward getödet, zwei hatten sich beim Sprunge verletzt, die übrigen wurden auf der Flucht wieder eingefangen. Die so schmählich beschämten Frank- furter Behörden rächten sich dann durch grausame Mißhandlungen; sie ließen den Gefangenen Ketten anlegen, sogar dem armen Eimer, der sich das Bein gebrochen hatte und erst nach Monaten wieder gehen lernte.
Mit Wohlbehagen betrachteten die liberalen Westmächte dies deutsche Gezänk. Der Frankfurter Nationalstolz stand gerade jetzt in seiner Blüthe. Soeben hatte der Senat einen Handelsvertrag mit England abgeschlossen, um dem bedrohlichen Fortschreiten des preußischen Zollvereins freundnach- barlich einen Riegel vorzuschieben, und von selbst verstand sich's, daß Frankfurts uneigennütziger Zollverbündeter nun auch für die Souveränität der freien Stadt eine Lanze brach. Der Gesandte Cartwright, das Urbild des beschränkten britischen Dünkels, überreichte am 24. Mai dem Präsidial- gesandten eine Verbalnote, deren Unverschämtheit sogar in den Annalen der englischen Diplomatie ihres gleichen suchte. Sie erklärte: ohnehin durch die Wiener Verträge zum Einspruch berechtigt, betrachte England "die Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit selbst des kleinsten europäischen Staates als ein britisches Interesse" und könne in dem jüngsten Bundes- beschlusse nur "eine gewaltsame Verletzung (a violent infringement) der Rechte eines unabhängigen Staates sehen". Nun drängte sich auch Alleye wieder vor, ungeschreckt durch die kürzlich erlittene Zurückweisung. Seine Verbalnote begann in dem väterlichen, sanft aufreizenden Tone der alt- bourbonischen Zeiten: "Die französische Regierung vermag kaum zu glauben, daß Souveräne, welche ohne Zweifel auf ihre Unabhängigkeit ebenso viel Werth legen wie die anderen europäischen Mächte, den Untergang dieser Unabhängigkeit vorbereiten könnten durch einen Präcedenzfall, dessen man sich unfehlbar bei Gelegenheit zu ihrem eigenen Schaden bedienen wird. Darum ist sie überzeugt, daß die deutschen Fürsten die Augen öffnen und sich besinnen werden bevor sie einen so entscheidenden Schritt thun". Zum Schlusse stand aber die wenig verblümte Drohung: "Niemals wird Frank- reich zugeben, daß man das Recht habe die deutsche Unabhängigkeit (l'in- dependence Germanique) zu einem leeren Worte zu machen."
Die Westmächte hatten falsch gerechnet; sie hofften ihren Frankfurter Schützling in seinem Widerstande zu bestärken und bauten ihm selber nur die Brücke zum Rückzuge. Sobald die beiden Noten dem Bundestage vor- gelesen waren, sah sich der Vertreter der freien Stadt von allen Seiten mit Vorwürfen überschüttet, und Nagler, der Vorsitzende, fragte amtlich, ob Frankfurt diese Einmischung des Auslandes veranlaßt habe. Die Römerherren erschraken und betheuerten heilig ihre Unschuld. Nagler ver-
IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
Wache heran, und während des Getümmels verſuchten ſämmtliche Ge- fangene auszubrechen. Die betrunkenen Soldaten ſtürzten an die Gewehre und ſchoſſen blindlings unter den Haufen; ein Bürger fiel, mehrere wurden verwundet. Von den Studenten entkam nur einer, ein anderer ward getödet, zwei hatten ſich beim Sprunge verletzt, die übrigen wurden auf der Flucht wieder eingefangen. Die ſo ſchmählich beſchämten Frank- furter Behörden rächten ſich dann durch grauſame Mißhandlungen; ſie ließen den Gefangenen Ketten anlegen, ſogar dem armen Eimer, der ſich das Bein gebrochen hatte und erſt nach Monaten wieder gehen lernte.
Mit Wohlbehagen betrachteten die liberalen Weſtmächte dies deutſche Gezänk. Der Frankfurter Nationalſtolz ſtand gerade jetzt in ſeiner Blüthe. Soeben hatte der Senat einen Handelsvertrag mit England abgeſchloſſen, um dem bedrohlichen Fortſchreiten des preußiſchen Zollvereins freundnach- barlich einen Riegel vorzuſchieben, und von ſelbſt verſtand ſich’s, daß Frankfurts uneigennütziger Zollverbündeter nun auch für die Souveränität der freien Stadt eine Lanze brach. Der Geſandte Cartwright, das Urbild des beſchränkten britiſchen Dünkels, überreichte am 24. Mai dem Präſidial- geſandten eine Verbalnote, deren Unverſchämtheit ſogar in den Annalen der engliſchen Diplomatie ihres gleichen ſuchte. Sie erklärte: ohnehin durch die Wiener Verträge zum Einſpruch berechtigt, betrachte England „die Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit ſelbſt des kleinſten europäiſchen Staates als ein britiſches Intereſſe“ und könne in dem jüngſten Bundes- beſchluſſe nur „eine gewaltſame Verletzung (a violent infringement) der Rechte eines unabhängigen Staates ſehen“. Nun drängte ſich auch Alleye wieder vor, ungeſchreckt durch die kürzlich erlittene Zurückweiſung. Seine Verbalnote begann in dem väterlichen, ſanft aufreizenden Tone der alt- bourboniſchen Zeiten: „Die franzöſiſche Regierung vermag kaum zu glauben, daß Souveräne, welche ohne Zweifel auf ihre Unabhängigkeit ebenſo viel Werth legen wie die anderen europäiſchen Mächte, den Untergang dieſer Unabhängigkeit vorbereiten könnten durch einen Präcedenzfall, deſſen man ſich unfehlbar bei Gelegenheit zu ihrem eigenen Schaden bedienen wird. Darum iſt ſie überzeugt, daß die deutſchen Fürſten die Augen öffnen und ſich beſinnen werden bevor ſie einen ſo entſcheidenden Schritt thun“. Zum Schluſſe ſtand aber die wenig verblümte Drohung: „Niemals wird Frank- reich zugeben, daß man das Recht habe die deutſche Unabhängigkeit (l’in- dépendence Germanique) zu einem leeren Worte zu machen.“
Die Weſtmächte hatten falſch gerechnet; ſie hofften ihren Frankfurter Schützling in ſeinem Widerſtande zu beſtärken und bauten ihm ſelber nur die Brücke zum Rückzuge. Sobald die beiden Noten dem Bundestage vor- geleſen waren, ſah ſich der Vertreter der freien Stadt von allen Seiten mit Vorwürfen überſchüttet, und Nagler, der Vorſitzende, fragte amtlich, ob Frankfurt dieſe Einmiſchung des Auslandes veranlaßt habe. Die Römerherren erſchraken und betheuerten heilig ihre Unſchuld. Nagler ver-
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IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
Wache heran, und während des Getümmels verſuchten ſämmtliche Ge-
fangene auszubrechen. Die betrunkenen Soldaten ſtürzten an die Gewehre
und ſchoſſen blindlings unter den Haufen; ein Bürger fiel, mehrere
wurden verwundet. Von den Studenten entkam nur einer, ein anderer
ward getödet, zwei hatten ſich beim Sprunge verletzt, die übrigen wurden
auf der Flucht wieder eingefangen. Die ſo ſchmählich beſchämten Frank-
furter Behörden rächten ſich dann durch grauſame Mißhandlungen; ſie
ließen den Gefangenen Ketten anlegen, ſogar dem armen Eimer, der ſich
das Bein gebrochen hatte und erſt nach Monaten wieder gehen lernte.
Mit Wohlbehagen betrachteten die liberalen Weſtmächte dies deutſche
Gezänk. Der Frankfurter Nationalſtolz ſtand gerade jetzt in ſeiner Blüthe.
Soeben hatte der Senat einen Handelsvertrag mit England abgeſchloſſen,
um dem bedrohlichen Fortſchreiten des preußiſchen Zollvereins freundnach-
barlich einen Riegel vorzuſchieben, und von ſelbſt verſtand ſich’s, daß
Frankfurts uneigennütziger Zollverbündeter nun auch für die Souveränität
der freien Stadt eine Lanze brach. Der Geſandte Cartwright, das Urbild
des beſchränkten britiſchen Dünkels, überreichte am 24. Mai dem Präſidial-
geſandten eine Verbalnote, deren Unverſchämtheit ſogar in den Annalen
der engliſchen Diplomatie ihres gleichen ſuchte. Sie erklärte: ohnehin
durch die Wiener Verträge zum Einſpruch berechtigt, betrachte England
„die Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit ſelbſt des kleinſten europäiſchen
Staates als ein britiſches Intereſſe“ und könne in dem jüngſten Bundes-
beſchluſſe nur „eine gewaltſame Verletzung (a violent infringement) der
Rechte eines unabhängigen Staates ſehen“. Nun drängte ſich auch Alleye
wieder vor, ungeſchreckt durch die kürzlich erlittene Zurückweiſung. Seine
Verbalnote begann in dem väterlichen, ſanft aufreizenden Tone der alt-
bourboniſchen Zeiten: „Die franzöſiſche Regierung vermag kaum zu glauben,
daß Souveräne, welche ohne Zweifel auf ihre Unabhängigkeit ebenſo viel
Werth legen wie die anderen europäiſchen Mächte, den Untergang dieſer
Unabhängigkeit vorbereiten könnten durch einen Präcedenzfall, deſſen man
ſich unfehlbar bei Gelegenheit zu ihrem eigenen Schaden bedienen wird.
Darum iſt ſie überzeugt, daß die deutſchen Fürſten die Augen öffnen und
ſich beſinnen werden bevor ſie einen ſo entſcheidenden Schritt thun“. Zum
Schluſſe ſtand aber die wenig verblümte Drohung: „Niemals wird Frank-
reich zugeben, daß man das Recht habe die deutſche Unabhängigkeit (l’in-
dépendence Germanique) zu einem leeren Worte zu machen.“
Die Weſtmächte hatten falſch gerechnet; ſie hofften ihren Frankfurter
Schützling in ſeinem Widerſtande zu beſtärken und bauten ihm ſelber nur
die Brücke zum Rückzuge. Sobald die beiden Noten dem Bundestage vor-
geleſen waren, ſah ſich der Vertreter der freien Stadt von allen Seiten
mit Vorwürfen überſchüttet, und Nagler, der Vorſitzende, fragte amtlich,
ob Frankfurt dieſe Einmiſchung des Auslandes veranlaßt habe. Die
Römerherren erſchraken und betheuerten heilig ihre Unſchuld. Nagler ver-
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/320>, abgerufen am 24.11.2024.
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