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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Die Sechs Artikel.
sich ja unablässig über die polenfreundliche Haltung der Berliner Blätter.
Wie das Preßgesetz in Berlin zu Falle kam, so in Wien der Vorschlag
die Bundesprotokolle wieder zu veröffentlichen. In einer langen, ängst-
lichen Denkschrift setzte Metternich auseinander, welche Gefahren dem
Bundestage bereitet werden könnten, nicht blos von Journalen und Flug-
schriften, sondern auch von den falschen Theorien der Lehrbücher. Bern-
storff erwiderte durch Eichhorn's Feder: niemals könne der Bundestag
Ansehen gewinnen "so lange seine Wirksamkeit etwas Unbekanntes und
eben dadurch den mannichfaltigsten Mißdeutungen ausgesetzt bleibe"; der
den Deutschen "unentbehrliche Nationalsinn" müsse erschlaffen, wenn sie
nicht einmal ein treues Bild von ihrem gemeinsamen politischen Leben
gewännen; die Wissenschaft des Bundesrechts werde sich in leere Ab-
straktionen verlieren, wenn man ihr allen positiven Stoff entziehe.*)
Lauter vortreffliche Gründe, aber wenig geeignet den Wiener Hof zu über-
zeugen, der ja den "unentbehrlichen Nationalsinn" der Deutschen als
seinen gefährlichsten Feind betrachtete. Metternich verblieb bei seinem
Widerspruche, und Bernstorff mußte schließlich (18. April 1832) den
Bundesgesandten anweisen, die aussichtslose Sache in Frankfurt vorläufig
ruhen zu lassen.

Im Verlaufe dieser langwierigen Unterhandlungen wurden auch die
Gesandten Baierns und Württembergs hinzugezogen. König Wilhelm
nahm die Sechs Artikel unbedenklich an; er war längst der Meinung, daß
man der einreißenden Anarchie Halt gebieten müsse.**) Etwas langsamer
entschloß sich der bairische Hof. Das in München beliebte "Isolirungs-
und Puissancirungssystem", wie Blittersdorff es nannte, vertrug sich schwer
mit strengen Bundesbeschlüssen; doch da Oesterreich bestimmt versicherte,
daß man keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Königreichs
beabsichtige, so gab auch Baiern seine Einwilligung.***) Nunmehr theilte
Metternich durch ein ausführliches Rundschreiben die Sechs Artikel auch
den übrigen Höfen mit (12. April), und nirgends erhob sich ein Wider-
spruch. Die sächsische Regierung hegte anfangs Bedenken wegen ihres
Staatsgrundgesetzes, ließ sich aber bald beschwichtigen+); der Karlsruher
Hof war schon seit Monaten entschlossen, allen Vorschlägen der Großmächte
zuzustimmen, falls sie nur nicht gradeswegs in die badische Verfassung
eingriffen. Unterdessen kam die erschreckende Kunde von dem Hambacher
Feste. Metternich frohlockte über "diesen unerhörten Skandal"; er sah
voraus, jetzt würde die Angst auch die Zaudernden fortreißen, und er
täuschte sich nicht. Nachdem Münch in einem langen Vortrage die Schreck-

*) Beide Denkschriften bei Kombst, der deutsche Bundestag gegen Ende des Jahres
1832 S. 107 f.
**) Berichte von Blittersdorff, 9. Jan., von Nagler, 22. Febr. 1832.
***) Berichte von Blittersdorff, 19. Jan., von Fahnenberg, München 18. Febr. 1832.
+) Berichte aus Dresden: von Buch 19. Mai, Jordan 1. Juni 1832.

Die Sechs Artikel.
ſich ja unabläſſig über die polenfreundliche Haltung der Berliner Blätter.
Wie das Preßgeſetz in Berlin zu Falle kam, ſo in Wien der Vorſchlag
die Bundesprotokolle wieder zu veröffentlichen. In einer langen, ängſt-
lichen Denkſchrift ſetzte Metternich auseinander, welche Gefahren dem
Bundestage bereitet werden könnten, nicht blos von Journalen und Flug-
ſchriften, ſondern auch von den falſchen Theorien der Lehrbücher. Bern-
ſtorff erwiderte durch Eichhorn’s Feder: niemals könne der Bundestag
Anſehen gewinnen „ſo lange ſeine Wirkſamkeit etwas Unbekanntes und
eben dadurch den mannichfaltigſten Mißdeutungen ausgeſetzt bleibe“; der
den Deutſchen „unentbehrliche Nationalſinn“ müſſe erſchlaffen, wenn ſie
nicht einmal ein treues Bild von ihrem gemeinſamen politiſchen Leben
gewännen; die Wiſſenſchaft des Bundesrechts werde ſich in leere Ab-
ſtraktionen verlieren, wenn man ihr allen poſitiven Stoff entziehe.*)
Lauter vortreffliche Gründe, aber wenig geeignet den Wiener Hof zu über-
zeugen, der ja den „unentbehrlichen Nationalſinn“ der Deutſchen als
ſeinen gefährlichſten Feind betrachtete. Metternich verblieb bei ſeinem
Widerſpruche, und Bernſtorff mußte ſchließlich (18. April 1832) den
Bundesgeſandten anweiſen, die ausſichtsloſe Sache in Frankfurt vorläufig
ruhen zu laſſen.

Im Verlaufe dieſer langwierigen Unterhandlungen wurden auch die
Geſandten Baierns und Württembergs hinzugezogen. König Wilhelm
nahm die Sechs Artikel unbedenklich an; er war längſt der Meinung, daß
man der einreißenden Anarchie Halt gebieten müſſe.**) Etwas langſamer
entſchloß ſich der bairiſche Hof. Das in München beliebte „Iſolirungs-
und Puiſſancirungsſyſtem“, wie Blittersdorff es nannte, vertrug ſich ſchwer
mit ſtrengen Bundesbeſchlüſſen; doch da Oeſterreich beſtimmt verſicherte,
daß man keine Einmiſchung in die inneren Angelegenheiten des Königreichs
beabſichtige, ſo gab auch Baiern ſeine Einwilligung.***) Nunmehr theilte
Metternich durch ein ausführliches Rundſchreiben die Sechs Artikel auch
den übrigen Höfen mit (12. April), und nirgends erhob ſich ein Wider-
ſpruch. Die ſächſiſche Regierung hegte anfangs Bedenken wegen ihres
Staatsgrundgeſetzes, ließ ſich aber bald beſchwichtigen†); der Karlsruher
Hof war ſchon ſeit Monaten entſchloſſen, allen Vorſchlägen der Großmächte
zuzuſtimmen, falls ſie nur nicht gradeswegs in die badiſche Verfaſſung
eingriffen. Unterdeſſen kam die erſchreckende Kunde von dem Hambacher
Feſte. Metternich frohlockte über „dieſen unerhörten Skandal“; er ſah
voraus, jetzt würde die Angſt auch die Zaudernden fortreißen, und er
täuſchte ſich nicht. Nachdem Münch in einem langen Vortrage die Schreck-

*) Beide Denkſchriften bei Kombſt, der deutſche Bundestag gegen Ende des Jahres
1832 S. 107 f.
**) Berichte von Blittersdorff, 9. Jan., von Nagler, 22. Febr. 1832.
***) Berichte von Blittersdorff, 19. Jan., von Fahnenberg, München 18. Febr. 1832.
†) Berichte aus Dresden: von Buch 19. Mai, Jordan 1. Juni 1832.
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[271/0285] Die Sechs Artikel. ſich ja unabläſſig über die polenfreundliche Haltung der Berliner Blätter. Wie das Preßgeſetz in Berlin zu Falle kam, ſo in Wien der Vorſchlag die Bundesprotokolle wieder zu veröffentlichen. In einer langen, ängſt- lichen Denkſchrift ſetzte Metternich auseinander, welche Gefahren dem Bundestage bereitet werden könnten, nicht blos von Journalen und Flug- ſchriften, ſondern auch von den falſchen Theorien der Lehrbücher. Bern- ſtorff erwiderte durch Eichhorn’s Feder: niemals könne der Bundestag Anſehen gewinnen „ſo lange ſeine Wirkſamkeit etwas Unbekanntes und eben dadurch den mannichfaltigſten Mißdeutungen ausgeſetzt bleibe“; der den Deutſchen „unentbehrliche Nationalſinn“ müſſe erſchlaffen, wenn ſie nicht einmal ein treues Bild von ihrem gemeinſamen politiſchen Leben gewännen; die Wiſſenſchaft des Bundesrechts werde ſich in leere Ab- ſtraktionen verlieren, wenn man ihr allen poſitiven Stoff entziehe. *) Lauter vortreffliche Gründe, aber wenig geeignet den Wiener Hof zu über- zeugen, der ja den „unentbehrlichen Nationalſinn“ der Deutſchen als ſeinen gefährlichſten Feind betrachtete. Metternich verblieb bei ſeinem Widerſpruche, und Bernſtorff mußte ſchließlich (18. April 1832) den Bundesgeſandten anweiſen, die ausſichtsloſe Sache in Frankfurt vorläufig ruhen zu laſſen. Im Verlaufe dieſer langwierigen Unterhandlungen wurden auch die Geſandten Baierns und Württembergs hinzugezogen. König Wilhelm nahm die Sechs Artikel unbedenklich an; er war längſt der Meinung, daß man der einreißenden Anarchie Halt gebieten müſſe. **) Etwas langſamer entſchloß ſich der bairiſche Hof. Das in München beliebte „Iſolirungs- und Puiſſancirungsſyſtem“, wie Blittersdorff es nannte, vertrug ſich ſchwer mit ſtrengen Bundesbeſchlüſſen; doch da Oeſterreich beſtimmt verſicherte, daß man keine Einmiſchung in die inneren Angelegenheiten des Königreichs beabſichtige, ſo gab auch Baiern ſeine Einwilligung. ***) Nunmehr theilte Metternich durch ein ausführliches Rundſchreiben die Sechs Artikel auch den übrigen Höfen mit (12. April), und nirgends erhob ſich ein Wider- ſpruch. Die ſächſiſche Regierung hegte anfangs Bedenken wegen ihres Staatsgrundgeſetzes, ließ ſich aber bald beſchwichtigen †); der Karlsruher Hof war ſchon ſeit Monaten entſchloſſen, allen Vorſchlägen der Großmächte zuzuſtimmen, falls ſie nur nicht gradeswegs in die badiſche Verfaſſung eingriffen. Unterdeſſen kam die erſchreckende Kunde von dem Hambacher Feſte. Metternich frohlockte über „dieſen unerhörten Skandal“; er ſah voraus, jetzt würde die Angſt auch die Zaudernden fortreißen, und er täuſchte ſich nicht. Nachdem Münch in einem langen Vortrage die Schreck- *) Beide Denkſchriften bei Kombſt, der deutſche Bundestag gegen Ende des Jahres 1832 S. 107 f. **) Berichte von Blittersdorff, 9. Jan., von Nagler, 22. Febr. 1832. ***) Berichte von Blittersdorff, 19. Jan., von Fahnenberg, München 18. Febr. 1832. †) Berichte aus Dresden: von Buch 19. Mai, Jordan 1. Juni 1832.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 271. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/285>, abgerufen am 24.11.2024.