überlassen; jetzt schaarten sie sich fester zusammen und bekämpften die Lehren der Revolution in unabhängigen Zeitschriften. Bald darauf trat die ultramontane Partei, eine geschlossene, weithin über Deutschland verzweigte Macht, mit einem Schlage auf den Kampfplatz. In der liberalen Welt wogten die Wünsche und Gedanken noch wirr durch ein- ander, aber einzelne Sätze der Parteidoctrin wurden allmählich zum Gemeingut Aller, und selbst dem noch völlig unklaren Einheitsdrange der Nation zeigte sich in weiter Ferne endlich ein erkennbares Ziel seit süddeutsche Liberale zuerst von einem deutschen Parlamente und von der preußischen Hegemonie zu reden wagten.
In so krankhaft erregter Zeit mußte die Dichtung verwildern. Der gespreizte, grelle und dennoch kraftlose Feuilletonstil verdrängte den Adel der Form, die rohe Tendenz den künstlerischen Gedanken, Alles was deutschen Herzen heilig, wurde von den literarischen Helden des Tages beschmutzt und verhöhnt. Doch bis zu den Höhen der deutschen Bildung schlugen die schlammigen Wellen dieses Radicalismus nicht empor. Eben jetzt erschien Goethe's letzte und tiefsinnigste Dichtung; unbeirrt durch das Ge- schrei des Marktes schritten Böckh und Ritter, die Brüderpaare Grimm und Humboldt ihre Bahn; in Ranke's Werken bewährte die Kunst der Geschichtschreibung ihre Meisterschaft; Dahlmann vertiefte die liberale Parteidoctrin und befruchtete sie mit den Ideen der historischen Rechts- schule; die Theologie wurde durch einen leidenschaftlichen Parteikampf aufgerüttelt und gezwungen, den historischen Unterbau ihrer Lehren einer schonungslosen Kritik zu unterwerfen; auch in den exacten Wissenschaften traten junge Talente auf, den Wettlauf mit dem Auslande zu wagen. Also blieben auch in diesem Jahrzehnt, das selber friedlos so viel Un- frieden säte, die schöpferischen Kräfte unserer Geschichte noch immer wirksam. --
Das Nahen einer großen Umwälzung war von einsichtigen Be- obachtern der französischen Zustände längst vorausgesehen. Sobald König Karl X. das gemäßigte Ministerium Martignac hatte berufen müssen, erlangte der Liberalismus wieder die Herrschaft über die öffentliche Meinung, und er griff um sich mit unwiderstehlicher Gewalt; denn eine gänzlich demokratisirte Gesellschaft gleicht einer Heerde, die beiden lebendigsten Kräfte des modernen französischen Charakters, der Nationalstolz und die sittliche Feigheit, führen jeder augenblicklich obenauf kommenden Partei täglich neue Anhänger zu. Damals schon schrieb der preußische Gesandte v. Werther: "Jetzt die ultramontane Partei zur Macht berufen, das heißt Frankreich einen unverzeihlichen und ungeheueren Schritt zur Re- volution hin machen lassen; denn diese Partei würde, verabscheut von der Nation und unfähig sich am Ruder zu halten, bald gezwungen sein, ent- weder einem ultraliberalen Ministerium zu weichen oder dem Könige den Umsturz der gegenwärtigen Verfassung anzurathen. Eine solche That
Der Umſchwung in Deutſchland.
überlaſſen; jetzt ſchaarten ſie ſich feſter zuſammen und bekämpften die Lehren der Revolution in unabhängigen Zeitſchriften. Bald darauf trat die ultramontane Partei, eine geſchloſſene, weithin über Deutſchland verzweigte Macht, mit einem Schlage auf den Kampfplatz. In der liberalen Welt wogten die Wünſche und Gedanken noch wirr durch ein- ander, aber einzelne Sätze der Parteidoctrin wurden allmählich zum Gemeingut Aller, und ſelbſt dem noch völlig unklaren Einheitsdrange der Nation zeigte ſich in weiter Ferne endlich ein erkennbares Ziel ſeit ſüddeutſche Liberale zuerſt von einem deutſchen Parlamente und von der preußiſchen Hegemonie zu reden wagten.
In ſo krankhaft erregter Zeit mußte die Dichtung verwildern. Der geſpreizte, grelle und dennoch kraftloſe Feuilletonſtil verdrängte den Adel der Form, die rohe Tendenz den künſtleriſchen Gedanken, Alles was deutſchen Herzen heilig, wurde von den literariſchen Helden des Tages beſchmutzt und verhöhnt. Doch bis zu den Höhen der deutſchen Bildung ſchlugen die ſchlammigen Wellen dieſes Radicalismus nicht empor. Eben jetzt erſchien Goethe’s letzte und tiefſinnigſte Dichtung; unbeirrt durch das Ge- ſchrei des Marktes ſchritten Böckh und Ritter, die Brüderpaare Grimm und Humboldt ihre Bahn; in Ranke’s Werken bewährte die Kunſt der Geſchichtſchreibung ihre Meiſterſchaft; Dahlmann vertiefte die liberale Parteidoctrin und befruchtete ſie mit den Ideen der hiſtoriſchen Rechts- ſchule; die Theologie wurde durch einen leidenſchaftlichen Parteikampf aufgerüttelt und gezwungen, den hiſtoriſchen Unterbau ihrer Lehren einer ſchonungsloſen Kritik zu unterwerfen; auch in den exacten Wiſſenſchaften traten junge Talente auf, den Wettlauf mit dem Auslande zu wagen. Alſo blieben auch in dieſem Jahrzehnt, das ſelber friedlos ſo viel Un- frieden ſäte, die ſchöpferiſchen Kräfte unſerer Geſchichte noch immer wirkſam. —
Das Nahen einer großen Umwälzung war von einſichtigen Be- obachtern der franzöſiſchen Zuſtände längſt vorausgeſehen. Sobald König Karl X. das gemäßigte Miniſterium Martignac hatte berufen müſſen, erlangte der Liberalismus wieder die Herrſchaft über die öffentliche Meinung, und er griff um ſich mit unwiderſtehlicher Gewalt; denn eine gänzlich demokratiſirte Geſellſchaft gleicht einer Heerde, die beiden lebendigſten Kräfte des modernen franzöſiſchen Charakters, der Nationalſtolz und die ſittliche Feigheit, führen jeder augenblicklich obenauf kommenden Partei täglich neue Anhänger zu. Damals ſchon ſchrieb der preußiſche Geſandte v. Werther: „Jetzt die ultramontane Partei zur Macht berufen, das heißt Frankreich einen unverzeihlichen und ungeheueren Schritt zur Re- volution hin machen laſſen; denn dieſe Partei würde, verabſcheut von der Nation und unfähig ſich am Ruder zu halten, bald gezwungen ſein, ent- weder einem ultraliberalen Miniſterium zu weichen oder dem Könige den Umſturz der gegenwärtigen Verfaſſung anzurathen. Eine ſolche That
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[7/0021]
Der Umſchwung in Deutſchland.
überlaſſen; jetzt ſchaarten ſie ſich feſter zuſammen und bekämpften die
Lehren der Revolution in unabhängigen Zeitſchriften. Bald darauf
trat die ultramontane Partei, eine geſchloſſene, weithin über Deutſchland
verzweigte Macht, mit einem Schlage auf den Kampfplatz. In der
liberalen Welt wogten die Wünſche und Gedanken noch wirr durch ein-
ander, aber einzelne Sätze der Parteidoctrin wurden allmählich zum
Gemeingut Aller, und ſelbſt dem noch völlig unklaren Einheitsdrange
der Nation zeigte ſich in weiter Ferne endlich ein erkennbares Ziel ſeit
ſüddeutſche Liberale zuerſt von einem deutſchen Parlamente und von der
preußiſchen Hegemonie zu reden wagten.
In ſo krankhaft erregter Zeit mußte die Dichtung verwildern. Der
geſpreizte, grelle und dennoch kraftloſe Feuilletonſtil verdrängte den Adel der
Form, die rohe Tendenz den künſtleriſchen Gedanken, Alles was deutſchen
Herzen heilig, wurde von den literariſchen Helden des Tages beſchmutzt
und verhöhnt. Doch bis zu den Höhen der deutſchen Bildung ſchlugen
die ſchlammigen Wellen dieſes Radicalismus nicht empor. Eben jetzt
erſchien Goethe’s letzte und tiefſinnigſte Dichtung; unbeirrt durch das Ge-
ſchrei des Marktes ſchritten Böckh und Ritter, die Brüderpaare Grimm
und Humboldt ihre Bahn; in Ranke’s Werken bewährte die Kunſt der
Geſchichtſchreibung ihre Meiſterſchaft; Dahlmann vertiefte die liberale
Parteidoctrin und befruchtete ſie mit den Ideen der hiſtoriſchen Rechts-
ſchule; die Theologie wurde durch einen leidenſchaftlichen Parteikampf
aufgerüttelt und gezwungen, den hiſtoriſchen Unterbau ihrer Lehren einer
ſchonungsloſen Kritik zu unterwerfen; auch in den exacten Wiſſenſchaften
traten junge Talente auf, den Wettlauf mit dem Auslande zu wagen.
Alſo blieben auch in dieſem Jahrzehnt, das ſelber friedlos ſo viel Un-
frieden ſäte, die ſchöpferiſchen Kräfte unſerer Geſchichte noch immer
wirkſam. —
Das Nahen einer großen Umwälzung war von einſichtigen Be-
obachtern der franzöſiſchen Zuſtände längſt vorausgeſehen. Sobald König
Karl X. das gemäßigte Miniſterium Martignac hatte berufen müſſen,
erlangte der Liberalismus wieder die Herrſchaft über die öffentliche
Meinung, und er griff um ſich mit unwiderſtehlicher Gewalt; denn eine
gänzlich demokratiſirte Geſellſchaft gleicht einer Heerde, die beiden lebendigſten
Kräfte des modernen franzöſiſchen Charakters, der Nationalſtolz und die
ſittliche Feigheit, führen jeder augenblicklich obenauf kommenden Partei
täglich neue Anhänger zu. Damals ſchon ſchrieb der preußiſche Geſandte
v. Werther: „Jetzt die ultramontane Partei zur Macht berufen, das
heißt Frankreich einen unverzeihlichen und ungeheueren Schritt zur Re-
volution hin machen laſſen; denn dieſe Partei würde, verabſcheut von der
Nation und unfähig ſich am Ruder zu halten, bald gezwungen ſein, ent-
weder einem ultraliberalen Miniſterium zu weichen oder dem Könige den
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/21>, abgerufen am 24.11.2024.
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