Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

Bild:
<< vorherige Seite

IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
worten prunkender Rationalismus, der, ganz in Nicolai's Weise, an alle
Werke des Genius den Zollstock der Nützlichkeit, diesmal des politischen
Nutzens, legte und die Lehrer der Nation nur nach ihrer zeitgemäßen Ge-
sinnung beurtheilte. Wüster Radicalismus, zuchtlose Leidenschaft, hohler
Wortschwall und dann wieder harte Verfolgung schändeten das deutsche Leben.

Gleichwohl hat selbst in diesem Jahrzehnte widerwärtiger Verirrungen
die still wirkende Macht des nationalen Gedankens, die unser Volk zur
Einheit drängte, unwiderstehlich gewaltet. Nach dem tiefen Schlummer
der letzten Jahre war eine Aufrüttelung doch nothwendig, wenn die zähe
Masse der deutschen Politik wieder in Fluß kommen sollte; und wer durfte
die unerfahrenen Deutschen schelten, wenn sie, gleich allen anderen Völkern,
das Land überschätzten, das ihnen das Signal gegeben hatte? Die kleinen
Volksaufläufe und Straßenkämpfe in den Residenzen unseres Nordens
mochten den Fremden nur wie ein kindisches Nachspiel der großen Woche
erscheinen; doch ihr Ergebniß war dauerhafter als das Julikönigthum
der Franzosen. Sie führten die wichtigsten der norddeutschen Kleinstaaten
in das constitutionelle Lager hinüber; so ward der Gegensatz von Nord
und Süd gemildert, ein gemeinsamer Boden gewonnen für die politische
Arbeit der Nation. Alle diese winzigen Umwälzungen waren durch ört-
liche Beschwerden veranlaßt, sie verfolgten nur den Zweck, die altständische
oder höfische Willkürherrschaft in dem heimischen Kleinstaate durch ein
liberaleres Regiment zu verdrängen; aber die reife Frucht der partikula-
ristischen Revolutionen fiel der Einheitspolitik der Krone Preußen zu. Als
Sachsen und Kurhessen die in Preußen und Süddeutschland längst ver-
wirklichten modernen Grundsätze der Staatseinheit und des gemeinen
Rechtes anerkennen mußten, da wurden sie erst fähig mit den deutschen
Nachbarn in Zollgemeinschaft zu treten, und nun erst schloß sich der Ring,
welchen Preußens Handelsverträge um Deutschland geschlungen hatten.
Die Siege der liberalen Parteien ermöglichten erst die Gründung des
großen Deutschen Zollvereins, den die Mehrzahl der Liberalen leidenschaft-
lich bekämpfte; und seitdem blieb es ein Menschenalter hindurch das selt-
same Schicksal des deutschen Liberalismus, daß alle großen Erfolge unserer
nationalen Politik nicht durch ihn, aber auch nicht ohne ihn errungen
wurden. Der Zollverein war die größte politische That des Jahrzehnts,
folgenreicher für Europas Zukunft als alle die vielbewunderten Partei-
kämpfe in den Nachbarlanden, das letzte köstliche Vermächtniß des alten
unbeschränkten preußischen Königthums an die deutsche Nation.

Auch das zerfahrene deutsche Parteileben ward durch den scharfen
Luftzug dieser Jahre etwas gekräftigt. Klarer, bewußter denn zuvor traten
die Gegensätze auseinander seit in Frankreich das Banner der Volks-
souveränität erhoben wurde. Die Conservativen hatten bisher, vertrauend
auf ihre Machtstellung in den Landtagen und auf die Gunst der Höfe,
den Federkrieg gegen die liberale Presse sorglos den Regierungsblättern

IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
worten prunkender Rationalismus, der, ganz in Nicolai’s Weiſe, an alle
Werke des Genius den Zollſtock der Nützlichkeit, diesmal des politiſchen
Nutzens, legte und die Lehrer der Nation nur nach ihrer zeitgemäßen Ge-
ſinnung beurtheilte. Wüſter Radicalismus, zuchtloſe Leidenſchaft, hohler
Wortſchwall und dann wieder harte Verfolgung ſchändeten das deutſche Leben.

Gleichwohl hat ſelbſt in dieſem Jahrzehnte widerwärtiger Verirrungen
die ſtill wirkende Macht des nationalen Gedankens, die unſer Volk zur
Einheit drängte, unwiderſtehlich gewaltet. Nach dem tiefen Schlummer
der letzten Jahre war eine Aufrüttelung doch nothwendig, wenn die zähe
Maſſe der deutſchen Politik wieder in Fluß kommen ſollte; und wer durfte
die unerfahrenen Deutſchen ſchelten, wenn ſie, gleich allen anderen Völkern,
das Land überſchätzten, das ihnen das Signal gegeben hatte? Die kleinen
Volksaufläufe und Straßenkämpfe in den Reſidenzen unſeres Nordens
mochten den Fremden nur wie ein kindiſches Nachſpiel der großen Woche
erſcheinen; doch ihr Ergebniß war dauerhafter als das Julikönigthum
der Franzoſen. Sie führten die wichtigſten der norddeutſchen Kleinſtaaten
in das conſtitutionelle Lager hinüber; ſo ward der Gegenſatz von Nord
und Süd gemildert, ein gemeinſamer Boden gewonnen für die politiſche
Arbeit der Nation. Alle dieſe winzigen Umwälzungen waren durch ört-
liche Beſchwerden veranlaßt, ſie verfolgten nur den Zweck, die altſtändiſche
oder höfiſche Willkürherrſchaft in dem heimiſchen Kleinſtaate durch ein
liberaleres Regiment zu verdrängen; aber die reife Frucht der partikula-
riſtiſchen Revolutionen fiel der Einheitspolitik der Krone Preußen zu. Als
Sachſen und Kurheſſen die in Preußen und Süddeutſchland längſt ver-
wirklichten modernen Grundſätze der Staatseinheit und des gemeinen
Rechtes anerkennen mußten, da wurden ſie erſt fähig mit den deutſchen
Nachbarn in Zollgemeinſchaft zu treten, und nun erſt ſchloß ſich der Ring,
welchen Preußens Handelsverträge um Deutſchland geſchlungen hatten.
Die Siege der liberalen Parteien ermöglichten erſt die Gründung des
großen Deutſchen Zollvereins, den die Mehrzahl der Liberalen leidenſchaft-
lich bekämpfte; und ſeitdem blieb es ein Menſchenalter hindurch das ſelt-
ſame Schickſal des deutſchen Liberalismus, daß alle großen Erfolge unſerer
nationalen Politik nicht durch ihn, aber auch nicht ohne ihn errungen
wurden. Der Zollverein war die größte politiſche That des Jahrzehnts,
folgenreicher für Europas Zukunft als alle die vielbewunderten Partei-
kämpfe in den Nachbarlanden, das letzte köſtliche Vermächtniß des alten
unbeſchränkten preußiſchen Königthums an die deutſche Nation.

Auch das zerfahrene deutſche Parteileben ward durch den ſcharfen
Luftzug dieſer Jahre etwas gekräftigt. Klarer, bewußter denn zuvor traten
die Gegenſätze auseinander ſeit in Frankreich das Banner der Volks-
ſouveränität erhoben wurde. Die Conſervativen hatten bisher, vertrauend
auf ihre Machtſtellung in den Landtagen und auf die Gunſt der Höfe,
den Federkrieg gegen die liberale Preſſe ſorglos den Regierungsblättern

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0020" n="6"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">IV.</hi> 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.</fw><lb/>
worten prunkender Rationalismus, der, ganz in Nicolai&#x2019;s Wei&#x017F;e, an alle<lb/>
Werke des Genius den Zoll&#x017F;tock der Nützlichkeit, diesmal des politi&#x017F;chen<lb/>
Nutzens, legte und die Lehrer der Nation nur nach ihrer zeitgemäßen Ge-<lb/>
&#x017F;innung beurtheilte. Wü&#x017F;ter Radicalismus, zuchtlo&#x017F;e Leiden&#x017F;chaft, hohler<lb/>
Wort&#x017F;chwall und dann wieder harte Verfolgung &#x017F;chändeten das deut&#x017F;che Leben.</p><lb/>
          <p>Gleichwohl hat &#x017F;elb&#x017F;t in die&#x017F;em Jahrzehnte widerwärtiger Verirrungen<lb/>
die &#x017F;till wirkende Macht des nationalen Gedankens, die un&#x017F;er Volk zur<lb/>
Einheit drängte, unwider&#x017F;tehlich gewaltet. Nach dem tiefen Schlummer<lb/>
der letzten Jahre war eine Aufrüttelung doch nothwendig, wenn die zähe<lb/>
Ma&#x017F;&#x017F;e der deut&#x017F;chen Politik wieder in Fluß kommen &#x017F;ollte; und wer durfte<lb/>
die unerfahrenen Deut&#x017F;chen &#x017F;chelten, wenn &#x017F;ie, gleich allen anderen Völkern,<lb/>
das Land über&#x017F;chätzten, das ihnen das Signal gegeben hatte? Die kleinen<lb/>
Volksaufläufe und Straßenkämpfe in den Re&#x017F;idenzen un&#x017F;eres Nordens<lb/>
mochten den Fremden nur wie ein kindi&#x017F;ches Nach&#x017F;piel der großen Woche<lb/>
er&#x017F;cheinen; doch ihr Ergebniß war dauerhafter als das Julikönigthum<lb/>
der Franzo&#x017F;en. Sie führten die wichtig&#x017F;ten der norddeut&#x017F;chen Klein&#x017F;taaten<lb/>
in das con&#x017F;titutionelle Lager hinüber; &#x017F;o ward der Gegen&#x017F;atz von Nord<lb/>
und Süd gemildert, ein gemein&#x017F;amer Boden gewonnen für die politi&#x017F;che<lb/>
Arbeit der Nation. Alle die&#x017F;e winzigen Umwälzungen waren durch ört-<lb/>
liche Be&#x017F;chwerden veranlaßt, &#x017F;ie verfolgten nur den Zweck, die alt&#x017F;tändi&#x017F;che<lb/>
oder höfi&#x017F;che Willkürherr&#x017F;chaft in dem heimi&#x017F;chen Klein&#x017F;taate durch ein<lb/>
liberaleres Regiment zu verdrängen; aber die reife Frucht der partikula-<lb/>
ri&#x017F;ti&#x017F;chen Revolutionen fiel der Einheitspolitik der Krone Preußen zu. Als<lb/>
Sach&#x017F;en und Kurhe&#x017F;&#x017F;en die in Preußen und Süddeut&#x017F;chland läng&#x017F;t ver-<lb/>
wirklichten modernen Grund&#x017F;ätze der Staatseinheit und des gemeinen<lb/>
Rechtes anerkennen mußten, da wurden &#x017F;ie er&#x017F;t fähig mit den deut&#x017F;chen<lb/>
Nachbarn in Zollgemein&#x017F;chaft zu treten, und nun er&#x017F;t &#x017F;chloß &#x017F;ich der Ring,<lb/>
welchen Preußens Handelsverträge um Deut&#x017F;chland ge&#x017F;chlungen hatten.<lb/>
Die Siege der liberalen Parteien ermöglichten er&#x017F;t die Gründung des<lb/>
großen Deut&#x017F;chen Zollvereins, den die Mehrzahl der Liberalen leiden&#x017F;chaft-<lb/>
lich bekämpfte; und &#x017F;eitdem blieb es ein Men&#x017F;chenalter hindurch das &#x017F;elt-<lb/>
&#x017F;ame Schick&#x017F;al des deut&#x017F;chen Liberalismus, daß alle großen Erfolge un&#x017F;erer<lb/>
nationalen Politik nicht durch ihn, aber auch nicht ohne ihn errungen<lb/>
wurden. Der Zollverein war die größte politi&#x017F;che That des Jahrzehnts,<lb/>
folgenreicher für Europas Zukunft als alle die vielbewunderten Partei-<lb/>
kämpfe in den Nachbarlanden, das letzte kö&#x017F;tliche Vermächtniß des alten<lb/>
unbe&#x017F;chränkten preußi&#x017F;chen Königthums an die deut&#x017F;che Nation.</p><lb/>
          <p>Auch das zerfahrene deut&#x017F;che Parteileben ward durch den &#x017F;charfen<lb/>
Luftzug die&#x017F;er Jahre etwas gekräftigt. Klarer, bewußter denn zuvor traten<lb/>
die Gegen&#x017F;ätze auseinander &#x017F;eit in Frankreich das Banner der Volks-<lb/>
&#x017F;ouveränität erhoben wurde. Die Con&#x017F;ervativen hatten bisher, vertrauend<lb/>
auf ihre Macht&#x017F;tellung in den Landtagen und auf die Gun&#x017F;t der Höfe,<lb/>
den Federkrieg gegen die liberale Pre&#x017F;&#x017F;e &#x017F;orglos den Regierungsblättern<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[6/0020] IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede. worten prunkender Rationalismus, der, ganz in Nicolai’s Weiſe, an alle Werke des Genius den Zollſtock der Nützlichkeit, diesmal des politiſchen Nutzens, legte und die Lehrer der Nation nur nach ihrer zeitgemäßen Ge- ſinnung beurtheilte. Wüſter Radicalismus, zuchtloſe Leidenſchaft, hohler Wortſchwall und dann wieder harte Verfolgung ſchändeten das deutſche Leben. Gleichwohl hat ſelbſt in dieſem Jahrzehnte widerwärtiger Verirrungen die ſtill wirkende Macht des nationalen Gedankens, die unſer Volk zur Einheit drängte, unwiderſtehlich gewaltet. Nach dem tiefen Schlummer der letzten Jahre war eine Aufrüttelung doch nothwendig, wenn die zähe Maſſe der deutſchen Politik wieder in Fluß kommen ſollte; und wer durfte die unerfahrenen Deutſchen ſchelten, wenn ſie, gleich allen anderen Völkern, das Land überſchätzten, das ihnen das Signal gegeben hatte? Die kleinen Volksaufläufe und Straßenkämpfe in den Reſidenzen unſeres Nordens mochten den Fremden nur wie ein kindiſches Nachſpiel der großen Woche erſcheinen; doch ihr Ergebniß war dauerhafter als das Julikönigthum der Franzoſen. Sie führten die wichtigſten der norddeutſchen Kleinſtaaten in das conſtitutionelle Lager hinüber; ſo ward der Gegenſatz von Nord und Süd gemildert, ein gemeinſamer Boden gewonnen für die politiſche Arbeit der Nation. Alle dieſe winzigen Umwälzungen waren durch ört- liche Beſchwerden veranlaßt, ſie verfolgten nur den Zweck, die altſtändiſche oder höfiſche Willkürherrſchaft in dem heimiſchen Kleinſtaate durch ein liberaleres Regiment zu verdrängen; aber die reife Frucht der partikula- riſtiſchen Revolutionen fiel der Einheitspolitik der Krone Preußen zu. Als Sachſen und Kurheſſen die in Preußen und Süddeutſchland längſt ver- wirklichten modernen Grundſätze der Staatseinheit und des gemeinen Rechtes anerkennen mußten, da wurden ſie erſt fähig mit den deutſchen Nachbarn in Zollgemeinſchaft zu treten, und nun erſt ſchloß ſich der Ring, welchen Preußens Handelsverträge um Deutſchland geſchlungen hatten. Die Siege der liberalen Parteien ermöglichten erſt die Gründung des großen Deutſchen Zollvereins, den die Mehrzahl der Liberalen leidenſchaft- lich bekämpfte; und ſeitdem blieb es ein Menſchenalter hindurch das ſelt- ſame Schickſal des deutſchen Liberalismus, daß alle großen Erfolge unſerer nationalen Politik nicht durch ihn, aber auch nicht ohne ihn errungen wurden. Der Zollverein war die größte politiſche That des Jahrzehnts, folgenreicher für Europas Zukunft als alle die vielbewunderten Partei- kämpfe in den Nachbarlanden, das letzte köſtliche Vermächtniß des alten unbeſchränkten preußiſchen Königthums an die deutſche Nation. Auch das zerfahrene deutſche Parteileben ward durch den ſcharfen Luftzug dieſer Jahre etwas gekräftigt. Klarer, bewußter denn zuvor traten die Gegenſätze auseinander ſeit in Frankreich das Banner der Volks- ſouveränität erhoben wurde. Die Conſervativen hatten bisher, vertrauend auf ihre Machtſtellung in den Landtagen und auf die Gunſt der Höfe, den Federkrieg gegen die liberale Preſſe ſorglos den Regierungsblättern

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/20
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/20>, abgerufen am 24.11.2024.