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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Münster's Sturz.
Ende zu machen wählte der Arme die Begnadigung, obgleich er sich keiner
Schuld bewußt war. Viele der Studenten betrachteten den Einzug der
Truppen mit Selbstgefühl und rühmten sich: das ist schon gut genug, daß
wir so viele Soldaten auf die Beine gebracht haben; durch die vorläufige
Schließung der Universität wurden sie indeß alle schwer bestraft. Die
großen Tage der Georgia Augusta waren dahin, niemals konnte sie ihren
alten aristokratischen Glanz wieder erlangen.

Wohl mochte Jakob Grimm über diesen "dürren und widerwärtigen
Aufstand" klagen; dem Lande brachte der kindische Spuk doch Segen, denn
er öffnete dem Generalgouverneur die Augen, den Bürgern die Lippen.
Der gutmüthige Herzog entdeckte mit einem male, wie wenig er die Zu-
stände gekannt hatte; er bereiste das Land, hörte in Münden die bitteren
Klagen der zinspflichtigen Bauern, ließ sich von den Clausthaler Berg-
leuten in rührsamen Versen schildern: wie schlecht man jetzt auf dem
Harze lebt

und mit thränenvollem Herzen
trocknes Brot halb kalt genießt.
Zugleich liefen aus Lüneburg "der Erbstadt des Reichs" und vielen an-
deren Städten Bittschriften ein, die allesammt "eine freie Volksvertretung"
forderten; "so gewiß ein Gott über uns Alle wacht, schrieb der radicale
Advokat Gans in Celle -- so gewiß wird auch für sämmtliche Staaten
Europas diese Herrlichkeit, diese Krone aller Wohlfahrt aufgehen". Hier
wie in Sachsen verkettete sich mit der Volksbewegung ein Parteikampf
innerhalb der Regierung. Der Minister Graf Bremer, Cabinetsrath
Rose und die anderen arbeitenden bürgerlichen Räthe waren es längst
müde von der Deutschen Kanzlei in London gegängelt zu werden, sie
beschlossen sich an den Monarchen zu wenden; aber noch ehe ihre Ver-
trauensmänner bei Hofe eintrafen, hatte König Wilhelm schon den Vor-
stellungen des Herzogs von Cambridge nachgegeben und die Entlassung
des Grafen Münster verfügt (12. Februar). Die unheilvolle Doppel-
regierung konnte freilich so lange die Fremdherrschaft bestand nicht gänzlich
verschwinden; an Münster's Stelle trat Ludwig v. Ompteda, jener treue
Mann, der in den napoleonischen Tagen so rastlos für die Befreiung
Deutschlands gearbeitet hatte, ein ehrenhafter Aristokrat von gemäßigten
Grundsätzen. Indeß der Schwerpunkt des Regiments lag fortan in Han-
nover, der Herzog wurde zum Vicekönig erhoben und mit erweiterter Voll-
macht ausgestattet.

Der Schöpfer der Welfenkrone ertrug seinen Sturz mit unverhohlener
Entrüstung; die glänzenden Ehren, mit denen ihn der freundliche Monarch
zum Abschied noch auszeichnete, vermochten nicht, ihn über den welfischen
Undank, der doch fast unvermeidlich war, zu trösten. Auf Dr. König's
Schmähungen antwortete er mit einer "Erklärung", die noch einmal das
unermeßliche Selbstgefühl des welfischen Staatsmannes bekundete: nichts,

Münſter’s Sturz.
Ende zu machen wählte der Arme die Begnadigung, obgleich er ſich keiner
Schuld bewußt war. Viele der Studenten betrachteten den Einzug der
Truppen mit Selbſtgefühl und rühmten ſich: das iſt ſchon gut genug, daß
wir ſo viele Soldaten auf die Beine gebracht haben; durch die vorläufige
Schließung der Univerſität wurden ſie indeß alle ſchwer beſtraft. Die
großen Tage der Georgia Auguſta waren dahin, niemals konnte ſie ihren
alten ariſtokratiſchen Glanz wieder erlangen.

Wohl mochte Jakob Grimm über dieſen „dürren und widerwärtigen
Aufſtand“ klagen; dem Lande brachte der kindiſche Spuk doch Segen, denn
er öffnete dem Generalgouverneur die Augen, den Bürgern die Lippen.
Der gutmüthige Herzog entdeckte mit einem male, wie wenig er die Zu-
ſtände gekannt hatte; er bereiſte das Land, hörte in Münden die bitteren
Klagen der zinspflichtigen Bauern, ließ ſich von den Clausthaler Berg-
leuten in rührſamen Verſen ſchildern: wie ſchlecht man jetzt auf dem
Harze lebt

und mit thränenvollem Herzen
trocknes Brot halb kalt genießt.
Zugleich liefen aus Lüneburg „der Erbſtadt des Reichs“ und vielen an-
deren Städten Bittſchriften ein, die alleſammt „eine freie Volksvertretung“
forderten; „ſo gewiß ein Gott über uns Alle wacht, ſchrieb der radicale
Advokat Gans in Celle — ſo gewiß wird auch für ſämmtliche Staaten
Europas dieſe Herrlichkeit, dieſe Krone aller Wohlfahrt aufgehen“. Hier
wie in Sachſen verkettete ſich mit der Volksbewegung ein Parteikampf
innerhalb der Regierung. Der Miniſter Graf Bremer, Cabinetsrath
Roſe und die anderen arbeitenden bürgerlichen Räthe waren es längſt
müde von der Deutſchen Kanzlei in London gegängelt zu werden, ſie
beſchloſſen ſich an den Monarchen zu wenden; aber noch ehe ihre Ver-
trauensmänner bei Hofe eintrafen, hatte König Wilhelm ſchon den Vor-
ſtellungen des Herzogs von Cambridge nachgegeben und die Entlaſſung
des Grafen Münſter verfügt (12. Februar). Die unheilvolle Doppel-
regierung konnte freilich ſo lange die Fremdherrſchaft beſtand nicht gänzlich
verſchwinden; an Münſter’s Stelle trat Ludwig v. Ompteda, jener treue
Mann, der in den napoleoniſchen Tagen ſo raſtlos für die Befreiung
Deutſchlands gearbeitet hatte, ein ehrenhafter Ariſtokrat von gemäßigten
Grundſätzen. Indeß der Schwerpunkt des Regiments lag fortan in Han-
nover, der Herzog wurde zum Vicekönig erhoben und mit erweiterter Voll-
macht ausgeſtattet.

Der Schöpfer der Welfenkrone ertrug ſeinen Sturz mit unverhohlener
Entrüſtung; die glänzenden Ehren, mit denen ihn der freundliche Monarch
zum Abſchied noch auszeichnete, vermochten nicht, ihn über den welfiſchen
Undank, der doch faſt unvermeidlich war, zu tröſten. Auf Dr. König’s
Schmähungen antwortete er mit einer „Erklärung“, die noch einmal das
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[157/0171] Münſter’s Sturz. Ende zu machen wählte der Arme die Begnadigung, obgleich er ſich keiner Schuld bewußt war. Viele der Studenten betrachteten den Einzug der Truppen mit Selbſtgefühl und rühmten ſich: das iſt ſchon gut genug, daß wir ſo viele Soldaten auf die Beine gebracht haben; durch die vorläufige Schließung der Univerſität wurden ſie indeß alle ſchwer beſtraft. Die großen Tage der Georgia Auguſta waren dahin, niemals konnte ſie ihren alten ariſtokratiſchen Glanz wieder erlangen. Wohl mochte Jakob Grimm über dieſen „dürren und widerwärtigen Aufſtand“ klagen; dem Lande brachte der kindiſche Spuk doch Segen, denn er öffnete dem Generalgouverneur die Augen, den Bürgern die Lippen. Der gutmüthige Herzog entdeckte mit einem male, wie wenig er die Zu- ſtände gekannt hatte; er bereiſte das Land, hörte in Münden die bitteren Klagen der zinspflichtigen Bauern, ließ ſich von den Clausthaler Berg- leuten in rührſamen Verſen ſchildern: wie ſchlecht man jetzt auf dem Harze lebt und mit thränenvollem Herzen trocknes Brot halb kalt genießt. Zugleich liefen aus Lüneburg „der Erbſtadt des Reichs“ und vielen an- deren Städten Bittſchriften ein, die alleſammt „eine freie Volksvertretung“ forderten; „ſo gewiß ein Gott über uns Alle wacht, ſchrieb der radicale Advokat Gans in Celle — ſo gewiß wird auch für ſämmtliche Staaten Europas dieſe Herrlichkeit, dieſe Krone aller Wohlfahrt aufgehen“. Hier wie in Sachſen verkettete ſich mit der Volksbewegung ein Parteikampf innerhalb der Regierung. Der Miniſter Graf Bremer, Cabinetsrath Roſe und die anderen arbeitenden bürgerlichen Räthe waren es längſt müde von der Deutſchen Kanzlei in London gegängelt zu werden, ſie beſchloſſen ſich an den Monarchen zu wenden; aber noch ehe ihre Ver- trauensmänner bei Hofe eintrafen, hatte König Wilhelm ſchon den Vor- ſtellungen des Herzogs von Cambridge nachgegeben und die Entlaſſung des Grafen Münſter verfügt (12. Februar). Die unheilvolle Doppel- regierung konnte freilich ſo lange die Fremdherrſchaft beſtand nicht gänzlich verſchwinden; an Münſter’s Stelle trat Ludwig v. Ompteda, jener treue Mann, der in den napoleoniſchen Tagen ſo raſtlos für die Befreiung Deutſchlands gearbeitet hatte, ein ehrenhafter Ariſtokrat von gemäßigten Grundſätzen. Indeß der Schwerpunkt des Regiments lag fortan in Han- nover, der Herzog wurde zum Vicekönig erhoben und mit erweiterter Voll- macht ausgeſtattet. Der Schöpfer der Welfenkrone ertrug ſeinen Sturz mit unverhohlener Entrüſtung; die glänzenden Ehren, mit denen ihn der freundliche Monarch zum Abſchied noch auszeichnete, vermochten nicht, ihn über den welfiſchen Undank, der doch faſt unvermeidlich war, zu tröſten. Auf Dr. König’s Schmähungen antwortete er mit einer „Erklärung“, die noch einmal das unermeßliche Selbſtgefühl des welfiſchen Staatsmannes bekundete: nichts,

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/171>, abgerufen am 05.12.2024.