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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 2. Die constitutionelle Bewegung in Norddeutschland.
war auch gern bereit, die Statthalterschaft im Namen seines Bruders förm-
lich anzutreten, da dessen Vollmacht mittlerweile aus London eingetroffen
war. Aber die Minister, die Landstände, die Stadträthe und viele andere
ungebetene Rathgeber stellten ihm ernst, fast drohend vor, nimmermehr
dürfe der Name des Vertriebenen erwähnt werden, sonst breche der Auf-
ruhr von Neuem los. Am Abend strömte wieder ein Volkshaufen auf
dem Burgplatze zusammen; ein Redner kletterte auf das alte Löwendenk-
mal hinauf und ließ die Versammlung ein Pereat auf Karl, ein Hoch
auf den neuen Herzog Wilhelm ausbringen.

Eingeschüchtert durch diese Kundgebungen des Volkswillens, verkündigte
Wilhelm am 28. September, er habe sich "veranlaßt gefunden, die Re-
gierung bis auf Weiteres zu übernehmen"; von der Vollmacht seines
Bruders sagte er in seinem Patent kein Wort. Aus Furcht und jugend-
licher Unerfahrenheit, keineswegs aus Ehrgeiz, that er also den ersten
rechtswidrigen Schritt. Dem Könige von Preußen wagte er sein Unrecht
nicht einzugestehen, sondern zeigte ihm nur an, daß er "in Uebereinstim-
mung mit seinem Bruder" die Regierung vorläufig übernommen habe.
Seinem englischen Oheim gegenüber ging er freier mit der Sprache
heraus: er habe, so schrieb er ihm, die Vollmacht seines Bruders ver-
öffentlichen wollen und viele Vertrauensmänner darüber befragt; aber
"einmüthig ward es ausgesprochen, daß eine solche Verkündigung den
Zweck meiner provisorischen Regierungs-Uebernahme gänzlich vereiteln,
ja von Neuem eine allgemeine Gährung veranlassen und die gefähr-
lichsten Folgen für das Wohl des Landes auch in Rücksicht meiner Person
haben würde."*) Die Entschuldigung war so schwächlich wie sein ganzes
Verfahren; denn fand er den Muth bei seinem ersten Entschlusse zu
beharren, dann konnte er als unbestreitbar rechtmäßiger Statthalter
mit Sicherheit auf die Waffenhilfe Preußens, Hannovers, ja selbst des
Deutschen Bundes zählen, und gegen preußische Bataillone hätten die
Heerschaaren des Bürgerwehr-Majors Löbbecke ihren "freien Gehorsam"
schwerlich bethätigt. Den Landständen erwiderte Herzog Wilhelm: er werde
versuchen seinen Bruder zur Abdankung zu bewegen; mißlinge dies, so
wolle er sie nicht hindern, sich an den wohlwollenden König von England-
Hannover zu wenden. Der Wink ward sofort verstanden. Noch am
selben Tage riefen die Stände die Vermittlung Wilhelm's IV. an: wenn
nur Karl erst die Krone niedergelegt habe, dann sei sein Bruder recht-
mäßiger Landesherr.**)

In Berlin wie in London mußte man sich sagen, daß Herzog Wilhelm's
eigenmächtige That nicht mehr zurückgenommen werden konnte. Ohne

*) H. Wilhelm an K. Friedrich Wilhelm 28. September, an K. Wilhelm IV.
29. Sept. 1830.
**) Herzog Wilhelm, Schreiben an die Landschaft, 28. Sept. Eingabe der Land-
schaft an König Wilhelm IV., 28. Sept. 1830.

IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
war auch gern bereit, die Statthalterſchaft im Namen ſeines Bruders förm-
lich anzutreten, da deſſen Vollmacht mittlerweile aus London eingetroffen
war. Aber die Miniſter, die Landſtände, die Stadträthe und viele andere
ungebetene Rathgeber ſtellten ihm ernſt, faſt drohend vor, nimmermehr
dürfe der Name des Vertriebenen erwähnt werden, ſonſt breche der Auf-
ruhr von Neuem los. Am Abend ſtrömte wieder ein Volkshaufen auf
dem Burgplatze zuſammen; ein Redner kletterte auf das alte Löwendenk-
mal hinauf und ließ die Verſammlung ein Pereat auf Karl, ein Hoch
auf den neuen Herzog Wilhelm ausbringen.

Eingeſchüchtert durch dieſe Kundgebungen des Volkswillens, verkündigte
Wilhelm am 28. September, er habe ſich „veranlaßt gefunden, die Re-
gierung bis auf Weiteres zu übernehmen“; von der Vollmacht ſeines
Bruders ſagte er in ſeinem Patent kein Wort. Aus Furcht und jugend-
licher Unerfahrenheit, keineswegs aus Ehrgeiz, that er alſo den erſten
rechtswidrigen Schritt. Dem Könige von Preußen wagte er ſein Unrecht
nicht einzugeſtehen, ſondern zeigte ihm nur an, daß er „in Uebereinſtim-
mung mit ſeinem Bruder“ die Regierung vorläufig übernommen habe.
Seinem engliſchen Oheim gegenüber ging er freier mit der Sprache
heraus: er habe, ſo ſchrieb er ihm, die Vollmacht ſeines Bruders ver-
öffentlichen wollen und viele Vertrauensmänner darüber befragt; aber
„einmüthig ward es ausgeſprochen, daß eine ſolche Verkündigung den
Zweck meiner proviſoriſchen Regierungs-Uebernahme gänzlich vereiteln,
ja von Neuem eine allgemeine Gährung veranlaſſen und die gefähr-
lichſten Folgen für das Wohl des Landes auch in Rückſicht meiner Perſon
haben würde.“*) Die Entſchuldigung war ſo ſchwächlich wie ſein ganzes
Verfahren; denn fand er den Muth bei ſeinem erſten Entſchluſſe zu
beharren, dann konnte er als unbeſtreitbar rechtmäßiger Statthalter
mit Sicherheit auf die Waffenhilfe Preußens, Hannovers, ja ſelbſt des
Deutſchen Bundes zählen, und gegen preußiſche Bataillone hätten die
Heerſchaaren des Bürgerwehr-Majors Löbbecke ihren „freien Gehorſam“
ſchwerlich bethätigt. Den Landſtänden erwiderte Herzog Wilhelm: er werde
verſuchen ſeinen Bruder zur Abdankung zu bewegen; mißlinge dies, ſo
wolle er ſie nicht hindern, ſich an den wohlwollenden König von England-
Hannover zu wenden. Der Wink ward ſofort verſtanden. Noch am
ſelben Tage riefen die Stände die Vermittlung Wilhelm’s IV. an: wenn
nur Karl erſt die Krone niedergelegt habe, dann ſei ſein Bruder recht-
mäßiger Landesherr.**)

In Berlin wie in London mußte man ſich ſagen, daß Herzog Wilhelm’s
eigenmächtige That nicht mehr zurückgenommen werden konnte. Ohne

*) H. Wilhelm an K. Friedrich Wilhelm 28. September, an K. Wilhelm IV.
29. Sept. 1830.
**) Herzog Wilhelm, Schreiben an die Landſchaft, 28. Sept. Eingabe der Land-
ſchaft an König Wilhelm IV., 28. Sept. 1830.
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[106/0120] IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland. war auch gern bereit, die Statthalterſchaft im Namen ſeines Bruders förm- lich anzutreten, da deſſen Vollmacht mittlerweile aus London eingetroffen war. Aber die Miniſter, die Landſtände, die Stadträthe und viele andere ungebetene Rathgeber ſtellten ihm ernſt, faſt drohend vor, nimmermehr dürfe der Name des Vertriebenen erwähnt werden, ſonſt breche der Auf- ruhr von Neuem los. Am Abend ſtrömte wieder ein Volkshaufen auf dem Burgplatze zuſammen; ein Redner kletterte auf das alte Löwendenk- mal hinauf und ließ die Verſammlung ein Pereat auf Karl, ein Hoch auf den neuen Herzog Wilhelm ausbringen. Eingeſchüchtert durch dieſe Kundgebungen des Volkswillens, verkündigte Wilhelm am 28. September, er habe ſich „veranlaßt gefunden, die Re- gierung bis auf Weiteres zu übernehmen“; von der Vollmacht ſeines Bruders ſagte er in ſeinem Patent kein Wort. Aus Furcht und jugend- licher Unerfahrenheit, keineswegs aus Ehrgeiz, that er alſo den erſten rechtswidrigen Schritt. Dem Könige von Preußen wagte er ſein Unrecht nicht einzugeſtehen, ſondern zeigte ihm nur an, daß er „in Uebereinſtim- mung mit ſeinem Bruder“ die Regierung vorläufig übernommen habe. Seinem engliſchen Oheim gegenüber ging er freier mit der Sprache heraus: er habe, ſo ſchrieb er ihm, die Vollmacht ſeines Bruders ver- öffentlichen wollen und viele Vertrauensmänner darüber befragt; aber „einmüthig ward es ausgeſprochen, daß eine ſolche Verkündigung den Zweck meiner proviſoriſchen Regierungs-Uebernahme gänzlich vereiteln, ja von Neuem eine allgemeine Gährung veranlaſſen und die gefähr- lichſten Folgen für das Wohl des Landes auch in Rückſicht meiner Perſon haben würde.“ *) Die Entſchuldigung war ſo ſchwächlich wie ſein ganzes Verfahren; denn fand er den Muth bei ſeinem erſten Entſchluſſe zu beharren, dann konnte er als unbeſtreitbar rechtmäßiger Statthalter mit Sicherheit auf die Waffenhilfe Preußens, Hannovers, ja ſelbſt des Deutſchen Bundes zählen, und gegen preußiſche Bataillone hätten die Heerſchaaren des Bürgerwehr-Majors Löbbecke ihren „freien Gehorſam“ ſchwerlich bethätigt. Den Landſtänden erwiderte Herzog Wilhelm: er werde verſuchen ſeinen Bruder zur Abdankung zu bewegen; mißlinge dies, ſo wolle er ſie nicht hindern, ſich an den wohlwollenden König von England- Hannover zu wenden. Der Wink ward ſofort verſtanden. Noch am ſelben Tage riefen die Stände die Vermittlung Wilhelm’s IV. an: wenn nur Karl erſt die Krone niedergelegt habe, dann ſei ſein Bruder recht- mäßiger Landesherr. **) In Berlin wie in London mußte man ſich ſagen, daß Herzog Wilhelm’s eigenmächtige That nicht mehr zurückgenommen werden konnte. Ohne *) H. Wilhelm an K. Friedrich Wilhelm 28. September, an K. Wilhelm IV. 29. Sept. 1830. **) Herzog Wilhelm, Schreiben an die Landſchaft, 28. Sept. Eingabe der Land- ſchaft an König Wilhelm IV., 28. Sept. 1830.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/120>, abgerufen am 28.03.2024.