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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
angegriffenen Theile; nachher wurde unter der Oberaufsicht von Commis-
sären der Schutzmächte die völlig zerrüttete bürgerliche Ordnung in dem
kleinen Staate nothdürftig wiederhergestellt.*)

Der verblendete Trotz der Polen bewirkte indessen, daß die erweiterte
Amnestie ihnen wenig Vortheil brachte. Die Einen wollten den Ver-
heißungen des erzürnten Czaren keinen Glauben schenken, Andere bauten
noch immer auf die leeren Verheißungen Lafayette's und hofften über
kurz oder lang mit Hilfe der französischen Radicalen den allgemeinen
Umsturz herbeizuführen. Diese Fanatiker, Allen voran der nach Dresden
geflüchtete tapfere General Bem, übten die Künste des allen Polen ge-
läufigen Parteiterrorismus mit solchem Erfolge, daß die Mehrzahl der
Harmlosen eingeschüchtert und die Heimkehr von den Offizieren bald als
Verrath angesehen wurde. Tausende freiwilliger Auswanderer, die sich
fälschlich für Verbannte ausgaben, überschwemmten Westeuropa; sie ver-
schmähten daheim friedlich für ihr Vaterland zu arbeiten, was den Meisten
straflos gestattet war, und verfielen dem schlechten Handwerke der Ver-
schwörer. Die tragische Schuld der Theilungen Polens suchte den Welt-
theil mit immer neuen Leiden heim. Die polnische Emigration ward ein
Fluch Europas, ein Heerd des Unfriedens, wie die preußische Regierung
vorausgesagt. Zwei Jahrzehnte hindurch bildeten die polnischen Flüchtlinge
die verbindende Kette zwischen den radicalen Parteien aller Länder; sie
schürten jeden Aufruhr und fochten auf jeder Barrikade.

Czar Nikolaus aber blieb fortan neben Metternich der verhaßteste
Mann Europas. Er verdankte diesen Ruf zum Theil den ungeheuer-
lichen Märchen der polnischen Flüchtlinge, mehr noch dem harten Straf-
gerichte, das er über die Unterworfenen verhängte. Nach seiner Ueber-
zeugung waren alle Freiheiten der Polen durch die Empörung verwirkt,
und ihm allein stand es zu, einen neuen Rechtszustand anzubefehlen.
Einige der Aufständischen mußten am Galgen, viele in Sibirien büßen;
die Verfassung ward vernichtet, das Heer und die Universität aufgehoben,
das herrliche Schloß der Czartoryskis in Pulawy seiner Kunstschätze
beraubt. Polnische Orden belohnten die Sieger für die Vernichtung der
polnischen Unabhängigkeit; auf dem Hauptplatze Warschaus erhob sich ein
Obelisk zu Ehren der im November ermordeten Generale. Seit dem
Organischen Statut vom Februar 1832 war das Land nur noch eine
russische Provinz mit eigener Verwaltung und Rechtspflege. Hatten die
Polen ihre constitutionellen Rechte nur zu Ränken und Verschwörungen
mißbraucht, so erwies sich die neue Ordnung fast noch unheilvoller, sie
konnte allein durch einen beständigen Belagerungszustand aufrecht erhalten

*) Metternich an Maltzahn, 14. Sept. Protokoll über die Verhandlung zwischen
Metternich, Maltzahn, Tatistschew 6. October. Weisungen an Maltzahn 27. September,
13. October 1831.

IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
angegriffenen Theile; nachher wurde unter der Oberaufſicht von Commiſ-
ſären der Schutzmächte die völlig zerrüttete bürgerliche Ordnung in dem
kleinen Staate nothdürftig wiederhergeſtellt.*)

Der verblendete Trotz der Polen bewirkte indeſſen, daß die erweiterte
Amneſtie ihnen wenig Vortheil brachte. Die Einen wollten den Ver-
heißungen des erzürnten Czaren keinen Glauben ſchenken, Andere bauten
noch immer auf die leeren Verheißungen Lafayette’s und hofften über
kurz oder lang mit Hilfe der franzöſiſchen Radicalen den allgemeinen
Umſturz herbeizuführen. Dieſe Fanatiker, Allen voran der nach Dresden
geflüchtete tapfere General Bem, übten die Künſte des allen Polen ge-
läufigen Parteiterrorismus mit ſolchem Erfolge, daß die Mehrzahl der
Harmloſen eingeſchüchtert und die Heimkehr von den Offizieren bald als
Verrath angeſehen wurde. Tauſende freiwilliger Auswanderer, die ſich
fälſchlich für Verbannte ausgaben, überſchwemmten Weſteuropa; ſie ver-
ſchmähten daheim friedlich für ihr Vaterland zu arbeiten, was den Meiſten
ſtraflos geſtattet war, und verfielen dem ſchlechten Handwerke der Ver-
ſchwörer. Die tragiſche Schuld der Theilungen Polens ſuchte den Welt-
theil mit immer neuen Leiden heim. Die polniſche Emigration ward ein
Fluch Europas, ein Heerd des Unfriedens, wie die preußiſche Regierung
vorausgeſagt. Zwei Jahrzehnte hindurch bildeten die polniſchen Flüchtlinge
die verbindende Kette zwiſchen den radicalen Parteien aller Länder; ſie
ſchürten jeden Aufruhr und fochten auf jeder Barrikade.

Czar Nikolaus aber blieb fortan neben Metternich der verhaßteſte
Mann Europas. Er verdankte dieſen Ruf zum Theil den ungeheuer-
lichen Märchen der polniſchen Flüchtlinge, mehr noch dem harten Straf-
gerichte, das er über die Unterworfenen verhängte. Nach ſeiner Ueber-
zeugung waren alle Freiheiten der Polen durch die Empörung verwirkt,
und ihm allein ſtand es zu, einen neuen Rechtszuſtand anzubefehlen.
Einige der Aufſtändiſchen mußten am Galgen, viele in Sibirien büßen;
die Verfaſſung ward vernichtet, das Heer und die Univerſität aufgehoben,
das herrliche Schloß der Czartoryskis in Pulawy ſeiner Kunſtſchätze
beraubt. Polniſche Orden belohnten die Sieger für die Vernichtung der
polniſchen Unabhängigkeit; auf dem Hauptplatze Warſchaus erhob ſich ein
Obelisk zu Ehren der im November ermordeten Generale. Seit dem
Organiſchen Statut vom Februar 1832 war das Land nur noch eine
ruſſiſche Provinz mit eigener Verwaltung und Rechtspflege. Hatten die
Polen ihre conſtitutionellen Rechte nur zu Ränken und Verſchwörungen
mißbraucht, ſo erwies ſich die neue Ordnung faſt noch unheilvoller, ſie
konnte allein durch einen beſtändigen Belagerungszuſtand aufrecht erhalten

*) Metternich an Maltzahn, 14. Sept. Protokoll über die Verhandlung zwiſchen
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13. October 1831.
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[90/0104] IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede. angegriffenen Theile; nachher wurde unter der Oberaufſicht von Commiſ- ſären der Schutzmächte die völlig zerrüttete bürgerliche Ordnung in dem kleinen Staate nothdürftig wiederhergeſtellt. *) Der verblendete Trotz der Polen bewirkte indeſſen, daß die erweiterte Amneſtie ihnen wenig Vortheil brachte. Die Einen wollten den Ver- heißungen des erzürnten Czaren keinen Glauben ſchenken, Andere bauten noch immer auf die leeren Verheißungen Lafayette’s und hofften über kurz oder lang mit Hilfe der franzöſiſchen Radicalen den allgemeinen Umſturz herbeizuführen. Dieſe Fanatiker, Allen voran der nach Dresden geflüchtete tapfere General Bem, übten die Künſte des allen Polen ge- läufigen Parteiterrorismus mit ſolchem Erfolge, daß die Mehrzahl der Harmloſen eingeſchüchtert und die Heimkehr von den Offizieren bald als Verrath angeſehen wurde. Tauſende freiwilliger Auswanderer, die ſich fälſchlich für Verbannte ausgaben, überſchwemmten Weſteuropa; ſie ver- ſchmähten daheim friedlich für ihr Vaterland zu arbeiten, was den Meiſten ſtraflos geſtattet war, und verfielen dem ſchlechten Handwerke der Ver- ſchwörer. Die tragiſche Schuld der Theilungen Polens ſuchte den Welt- theil mit immer neuen Leiden heim. Die polniſche Emigration ward ein Fluch Europas, ein Heerd des Unfriedens, wie die preußiſche Regierung vorausgeſagt. Zwei Jahrzehnte hindurch bildeten die polniſchen Flüchtlinge die verbindende Kette zwiſchen den radicalen Parteien aller Länder; ſie ſchürten jeden Aufruhr und fochten auf jeder Barrikade. Czar Nikolaus aber blieb fortan neben Metternich der verhaßteſte Mann Europas. Er verdankte dieſen Ruf zum Theil den ungeheuer- lichen Märchen der polniſchen Flüchtlinge, mehr noch dem harten Straf- gerichte, das er über die Unterworfenen verhängte. Nach ſeiner Ueber- zeugung waren alle Freiheiten der Polen durch die Empörung verwirkt, und ihm allein ſtand es zu, einen neuen Rechtszuſtand anzubefehlen. Einige der Aufſtändiſchen mußten am Galgen, viele in Sibirien büßen; die Verfaſſung ward vernichtet, das Heer und die Univerſität aufgehoben, das herrliche Schloß der Czartoryskis in Pulawy ſeiner Kunſtſchätze beraubt. Polniſche Orden belohnten die Sieger für die Vernichtung der polniſchen Unabhängigkeit; auf dem Hauptplatze Warſchaus erhob ſich ein Obelisk zu Ehren der im November ermordeten Generale. Seit dem Organiſchen Statut vom Februar 1832 war das Land nur noch eine ruſſiſche Provinz mit eigener Verwaltung und Rechtspflege. Hatten die Polen ihre conſtitutionellen Rechte nur zu Ränken und Verſchwörungen mißbraucht, ſo erwies ſich die neue Ordnung faſt noch unheilvoller, ſie konnte allein durch einen beſtändigen Belagerungszuſtand aufrecht erhalten *) Metternich an Maltzahn, 14. Sept. Protokoll über die Verhandlung zwiſchen Metternich, Maltzahn, Tatiſtſchew 6. October. Weiſungen an Maltzahn 27. September, 13. October 1831.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/104>, abgerufen am 28.03.2024.