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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
es auch nicht zur Kräftigung, daß die constitutionellen Doctrinäre sich
gewöhnten, zu dem vaterlandlosen Leopold wie zu einem Fürsten-Ideal
emporzuschauen.

In allen seinen Wandlungen stand dem Führer der Coburger zuerst
als vertrauter Arzt, dann als diplomatischer Rathgeber sein Landsmann
C. F. v. Stockmar zur Seite, ein hochbegabter Staatsmann, klar, be-
stimmt, weit vorausschauend, kühner und gedankenreicher als Leopold
selber. Während der Londoner Conferenzen führte er die entscheidenden
Verhandlungen mit den Belgiern, und immer gab er den Ausschlag,
wenn sein bedenklicher königlicher Freund einen raschen Entschluß nicht
finden konnte. Seine politischen Ansichten hatte er sich in langjährigem
Verkehre mit den Whigs und den englischen Radicalen gebildet; reich
und unabhängig, fragte er nicht nach Gunst und sparte sobald es noth
that die freimüthigen Vorwürfe nicht. Sein Ehrgeiz war in der Stille
zu wirken; der schmächtige Mann mit den schönen, klugen dunklen Augen
begnügte sich gern mit einer Stelle hinter den Kulissen und hörte mit
dem überlegenen Lächeln des Eingeweihten zu, wenn Andere sich seiner
eigenen Gedanken rühmten. In scharfem Gegensatze zu seinem weltbürger-
lichen Herrn blieb er in der Fremde stets ein deutscher Patriot, warm
begeistert für die Idee der nationalen Einheit; die Erbärmlichkeit unserer
Kleinstaaterei verachtete er gründlich, kein Mittel schien ihm zu scharf,
um dies Elend zu beendigen. Seine Freunde daheim übertraf er alle
durch eine umfassende diplomatische Sachkenntniß, die sich die deutschen
Liberalen in ihren engen Verhältnissen nicht erwerben konnten, und durch
die Nüchternheit seines politischen Urtheils. Die Ueberschätzung der parla-
mentarischen Mehrheitsherrschaft war wohl der einzige doctrinäre Zug in
diesem durchaus praktischen Geiste. Aber welch ein tragischer Widerspruch
blieb es doch, daß ein solcher Mann im Dienste des Vaterlandes keinen
Platz finden konnte und seine reichen Kräfte verschwendete für die Geschäfte
des großen internationalen Heirathsbureaus in Brüssel, Geschäfte, die
mit dem Wohle Deutschlands wenig oder nichts gemein hatten! --

Derweil der belgische Staat sich zu befestigen begann, nahm die Re-
volution im Osten ein jammervolles Ende. Beim Ausbruch des polni-
schen Krieges hatte Nikolaus beschlossen, nach der erhofften raschen Unter-
werfung die polnische Verfassung aufzuheben, "die großen Schuldigen,
Czartoryski, Lelewel und andere ähnliche Schufte (faquins)" furchtbar zu
bestrafen, die Warschauer Studenten "und die andere Canaille" zur
Zwangsarbeit zu verurtheilen. Als die Polen zu unterhandeln ver-
suchten und ihm die Wiedereinsetzung der Romanows anboten, schrieb er
höhnisch: "ich bin sehr gerührt und dankbar!" Wie anders war nun Alles
gekommen. Nach dem unbenutzten Siege von Grochow befand sich Die-
bitsch in peinlicher Bedrängniß. In seinem schlecht verpflegten Heere
wüthete die Cholera, derweil die Zuversicht der Polen durch Skrzynecki's

IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
es auch nicht zur Kräftigung, daß die conſtitutionellen Doctrinäre ſich
gewöhnten, zu dem vaterlandloſen Leopold wie zu einem Fürſten-Ideal
emporzuſchauen.

In allen ſeinen Wandlungen ſtand dem Führer der Coburger zuerſt
als vertrauter Arzt, dann als diplomatiſcher Rathgeber ſein Landsmann
C. F. v. Stockmar zur Seite, ein hochbegabter Staatsmann, klar, be-
ſtimmt, weit vorausſchauend, kühner und gedankenreicher als Leopold
ſelber. Während der Londoner Conferenzen führte er die entſcheidenden
Verhandlungen mit den Belgiern, und immer gab er den Ausſchlag,
wenn ſein bedenklicher königlicher Freund einen raſchen Entſchluß nicht
finden konnte. Seine politiſchen Anſichten hatte er ſich in langjährigem
Verkehre mit den Whigs und den engliſchen Radicalen gebildet; reich
und unabhängig, fragte er nicht nach Gunſt und ſparte ſobald es noth
that die freimüthigen Vorwürfe nicht. Sein Ehrgeiz war in der Stille
zu wirken; der ſchmächtige Mann mit den ſchönen, klugen dunklen Augen
begnügte ſich gern mit einer Stelle hinter den Kuliſſen und hörte mit
dem überlegenen Lächeln des Eingeweihten zu, wenn Andere ſich ſeiner
eigenen Gedanken rühmten. In ſcharfem Gegenſatze zu ſeinem weltbürger-
lichen Herrn blieb er in der Fremde ſtets ein deutſcher Patriot, warm
begeiſtert für die Idee der nationalen Einheit; die Erbärmlichkeit unſerer
Kleinſtaaterei verachtete er gründlich, kein Mittel ſchien ihm zu ſcharf,
um dies Elend zu beendigen. Seine Freunde daheim übertraf er alle
durch eine umfaſſende diplomatiſche Sachkenntniß, die ſich die deutſchen
Liberalen in ihren engen Verhältniſſen nicht erwerben konnten, und durch
die Nüchternheit ſeines politiſchen Urtheils. Die Ueberſchätzung der parla-
mentariſchen Mehrheitsherrſchaft war wohl der einzige doctrinäre Zug in
dieſem durchaus praktiſchen Geiſte. Aber welch ein tragiſcher Widerſpruch
blieb es doch, daß ein ſolcher Mann im Dienſte des Vaterlandes keinen
Platz finden konnte und ſeine reichen Kräfte verſchwendete für die Geſchäfte
des großen internationalen Heirathsbureaus in Brüſſel, Geſchäfte, die
mit dem Wohle Deutſchlands wenig oder nichts gemein hatten! —

Derweil der belgiſche Staat ſich zu befeſtigen begann, nahm die Re-
volution im Oſten ein jammervolles Ende. Beim Ausbruch des polni-
ſchen Krieges hatte Nikolaus beſchloſſen, nach der erhofften raſchen Unter-
werfung die polniſche Verfaſſung aufzuheben, „die großen Schuldigen,
Czartoryski, Lelewel und andere ähnliche Schufte (faquins)“ furchtbar zu
beſtrafen, die Warſchauer Studenten „und die andere Canaille“ zur
Zwangsarbeit zu verurtheilen. Als die Polen zu unterhandeln ver-
ſuchten und ihm die Wiedereinſetzung der Romanows anboten, ſchrieb er
höhniſch: „ich bin ſehr gerührt und dankbar!“ Wie anders war nun Alles
gekommen. Nach dem unbenutzten Siege von Grochow befand ſich Die-
bitſch in peinlicher Bedrängniß. In ſeinem ſchlecht verpflegten Heere
wüthete die Cholera, derweil die Zuverſicht der Polen durch Skrzynecki’s

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[86/0100] IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede. es auch nicht zur Kräftigung, daß die conſtitutionellen Doctrinäre ſich gewöhnten, zu dem vaterlandloſen Leopold wie zu einem Fürſten-Ideal emporzuſchauen. In allen ſeinen Wandlungen ſtand dem Führer der Coburger zuerſt als vertrauter Arzt, dann als diplomatiſcher Rathgeber ſein Landsmann C. F. v. Stockmar zur Seite, ein hochbegabter Staatsmann, klar, be- ſtimmt, weit vorausſchauend, kühner und gedankenreicher als Leopold ſelber. Während der Londoner Conferenzen führte er die entſcheidenden Verhandlungen mit den Belgiern, und immer gab er den Ausſchlag, wenn ſein bedenklicher königlicher Freund einen raſchen Entſchluß nicht finden konnte. Seine politiſchen Anſichten hatte er ſich in langjährigem Verkehre mit den Whigs und den engliſchen Radicalen gebildet; reich und unabhängig, fragte er nicht nach Gunſt und ſparte ſobald es noth that die freimüthigen Vorwürfe nicht. Sein Ehrgeiz war in der Stille zu wirken; der ſchmächtige Mann mit den ſchönen, klugen dunklen Augen begnügte ſich gern mit einer Stelle hinter den Kuliſſen und hörte mit dem überlegenen Lächeln des Eingeweihten zu, wenn Andere ſich ſeiner eigenen Gedanken rühmten. In ſcharfem Gegenſatze zu ſeinem weltbürger- lichen Herrn blieb er in der Fremde ſtets ein deutſcher Patriot, warm begeiſtert für die Idee der nationalen Einheit; die Erbärmlichkeit unſerer Kleinſtaaterei verachtete er gründlich, kein Mittel ſchien ihm zu ſcharf, um dies Elend zu beendigen. Seine Freunde daheim übertraf er alle durch eine umfaſſende diplomatiſche Sachkenntniß, die ſich die deutſchen Liberalen in ihren engen Verhältniſſen nicht erwerben konnten, und durch die Nüchternheit ſeines politiſchen Urtheils. Die Ueberſchätzung der parla- mentariſchen Mehrheitsherrſchaft war wohl der einzige doctrinäre Zug in dieſem durchaus praktiſchen Geiſte. Aber welch ein tragiſcher Widerſpruch blieb es doch, daß ein ſolcher Mann im Dienſte des Vaterlandes keinen Platz finden konnte und ſeine reichen Kräfte verſchwendete für die Geſchäfte des großen internationalen Heirathsbureaus in Brüſſel, Geſchäfte, die mit dem Wohle Deutſchlands wenig oder nichts gemein hatten! — Derweil der belgiſche Staat ſich zu befeſtigen begann, nahm die Re- volution im Oſten ein jammervolles Ende. Beim Ausbruch des polni- ſchen Krieges hatte Nikolaus beſchloſſen, nach der erhofften raſchen Unter- werfung die polniſche Verfaſſung aufzuheben, „die großen Schuldigen, Czartoryski, Lelewel und andere ähnliche Schufte (faquins)“ furchtbar zu beſtrafen, die Warſchauer Studenten „und die andere Canaille“ zur Zwangsarbeit zu verurtheilen. Als die Polen zu unterhandeln ver- ſuchten und ihm die Wiedereinſetzung der Romanows anboten, ſchrieb er höhniſch: „ich bin ſehr gerührt und dankbar!“ Wie anders war nun Alles gekommen. Nach dem unbenutzten Siege von Grochow befand ſich Die- bitſch in peinlicher Bedrängniß. In ſeinem ſchlecht verpflegten Heere wüthete die Cholera, derweil die Zuverſicht der Polen durch Skrzynecki’s

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/100>, abgerufen am 28.11.2024.