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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Nachgiebigkeit des Großherzogs.
sogar zu der hochconservativen Partei und hatte sich in Gießen als uner-
bittlicher Verfolger der Demagogen einen schlimmen Leumund erworben.
Gleichwohl vereinigten sie sich allesammt in der Erkenntniß, daß die Gäh-
rung im Lande allein durch eine Constitution beschworen werden könne.

Der Großherzog ertheilte seine Genehmigung, und am 14. Oktober
überraschte Hofmann den Landtag durch die Aufforderung: die Stände
möchten nur Alles was sie noch zur Vervollständigung des März-Edikts
wünschten, der Regierung vorschlagen; dann sollten die vereinbarten Punkte
in einer Verfassungsurkunde zusammengestellt werden und mit deren Ver-
kündigung das März-Edikt außer Wirksamkeit treten. Der Erfolg bewies
augenblicklich, wie richtig Grolmann gerechnet hatte. Das den Herzen
dieses Geschlechts so unwiderstehliche Wort "Verfassung" wirkte wie ein
Zauberschlag: nun waren die Hessen doch ebenso frei wie die Baiern,
Badener und Württemberger! Der Saal erdröhnte von Freudenrufen.
In tiefer Bewegung sprach der Präsident Eigenbrodt: "sie ist nun da,
die Morgenröthe eines schönen Tages, der das Band der Liebe und des
Zutrauens zwischen einem edlen Fürsten und einem biedern Volke be-
festigen, noch fester knüpfen wird." Dann schloß er die Sitzung, damit
der große Tag nicht durch andere Geschäfte entweiht würde. Welch ein
Jubel sodann, als der Großherzog Abends im Theater unter seinem ge-
treuen Volke erschien! Ueberall im Lande die gleiche Begeisterung, überall,
wie das Stichwort des Tages lautete, die gerührte Dankbarkeit glücklicher
Kinder gegen den allgeliebten Vater.

An den Höfen fand der Freudenrausch des hessischen Volkes wenig
Widerhall. Wie hart war schon der König von Württemberg getadelt
worden, weil er seiner Verfassung die Form eines Vertrags gegeben
hatte, und er konnte sich doch auf das alte Recht seiner Schwaben be-
rufen. Jetzt aber erbot sich ein zweiter deutscher Fürst freiwillig zu einer
Vereinbarung mit seinen Ständen, obgleich diesen ein historischer Rechts-
anspruch unzweifelhaft nicht zur Seite stand. Cine solche Verletzung des
monarchischen Princips schien hochgefährlich. Der Erbgroßherzog und sein
Bruder Prinz Emil hatten ihres Unmuths kein Hehl und beschuldigten
den Minister, daß er hinter ihrem Rücken die Gutherzigkeit ihres altern-
den Vaters mißbraucht habe. "Wenn Ihr Schwager seinen Frieden mit
den Jakobinern schließen will -- sagte Prinz Emil dem Kanzler Arens ins
Gesicht -- dann will ich den Krieg mit ihm. Mag Grolmann in den
Koth stürzen, das ist mir sehr gleichgiltig; aber daß er meinen Vater mit
hineinreißt, das werde ich ihm nie verzeihen."*) Prinz Emil hatte neuer-
dings die bonapartistischen Ideale seiner Jugendjahre allmählich aufge-
geben und sich auf dem Aachener Congresse persönlich mit den neuen
Gebietern Europas ausgesöhnt. Ein ausgezeichneter Soldat, klug, unter-

*) Prinz Emil v. Hessen an Otterstedt, 14. Okt. 1820.

Nachgiebigkeit des Großherzogs.
ſogar zu der hochconſervativen Partei und hatte ſich in Gießen als uner-
bittlicher Verfolger der Demagogen einen ſchlimmen Leumund erworben.
Gleichwohl vereinigten ſie ſich alleſammt in der Erkenntniß, daß die Gäh-
rung im Lande allein durch eine Conſtitution beſchworen werden könne.

Der Großherzog ertheilte ſeine Genehmigung, und am 14. Oktober
überraſchte Hofmann den Landtag durch die Aufforderung: die Stände
möchten nur Alles was ſie noch zur Vervollſtändigung des März-Edikts
wünſchten, der Regierung vorſchlagen; dann ſollten die vereinbarten Punkte
in einer Verfaſſungsurkunde zuſammengeſtellt werden und mit deren Ver-
kündigung das März-Edikt außer Wirkſamkeit treten. Der Erfolg bewies
augenblicklich, wie richtig Grolmann gerechnet hatte. Das den Herzen
dieſes Geſchlechts ſo unwiderſtehliche Wort „Verfaſſung“ wirkte wie ein
Zauberſchlag: nun waren die Heſſen doch ebenſo frei wie die Baiern,
Badener und Württemberger! Der Saal erdröhnte von Freudenrufen.
In tiefer Bewegung ſprach der Präſident Eigenbrodt: „ſie iſt nun da,
die Morgenröthe eines ſchönen Tages, der das Band der Liebe und des
Zutrauens zwiſchen einem edlen Fürſten und einem biedern Volke be-
feſtigen, noch feſter knüpfen wird.“ Dann ſchloß er die Sitzung, damit
der große Tag nicht durch andere Geſchäfte entweiht würde. Welch ein
Jubel ſodann, als der Großherzog Abends im Theater unter ſeinem ge-
treuen Volke erſchien! Ueberall im Lande die gleiche Begeiſterung, überall,
wie das Stichwort des Tages lautete, die gerührte Dankbarkeit glücklicher
Kinder gegen den allgeliebten Vater.

An den Höfen fand der Freudenrauſch des heſſiſchen Volkes wenig
Widerhall. Wie hart war ſchon der König von Württemberg getadelt
worden, weil er ſeiner Verfaſſung die Form eines Vertrags gegeben
hatte, und er konnte ſich doch auf das alte Recht ſeiner Schwaben be-
rufen. Jetzt aber erbot ſich ein zweiter deutſcher Fürſt freiwillig zu einer
Vereinbarung mit ſeinen Ständen, obgleich dieſen ein hiſtoriſcher Rechts-
anſpruch unzweifelhaft nicht zur Seite ſtand. Cine ſolche Verletzung des
monarchiſchen Princips ſchien hochgefährlich. Der Erbgroßherzog und ſein
Bruder Prinz Emil hatten ihres Unmuths kein Hehl und beſchuldigten
den Miniſter, daß er hinter ihrem Rücken die Gutherzigkeit ihres altern-
den Vaters mißbraucht habe. „Wenn Ihr Schwager ſeinen Frieden mit
den Jakobinern ſchließen will — ſagte Prinz Emil dem Kanzler Arens ins
Geſicht — dann will ich den Krieg mit ihm. Mag Grolmann in den
Koth ſtürzen, das iſt mir ſehr gleichgiltig; aber daß er meinen Vater mit
hineinreißt, das werde ich ihm nie verzeihen.“*) Prinz Emil hatte neuer-
dings die bonapartiſtiſchen Ideale ſeiner Jugendjahre allmählich aufge-
geben und ſich auf dem Aachener Congreſſe perſönlich mit den neuen
Gebietern Europas ausgeſöhnt. Ein ausgezeichneter Soldat, klug, unter-

*) Prinz Emil v. Heſſen an Otterſtedt, 14. Okt. 1820.
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[63/0079] Nachgiebigkeit des Großherzogs. ſogar zu der hochconſervativen Partei und hatte ſich in Gießen als uner- bittlicher Verfolger der Demagogen einen ſchlimmen Leumund erworben. Gleichwohl vereinigten ſie ſich alleſammt in der Erkenntniß, daß die Gäh- rung im Lande allein durch eine Conſtitution beſchworen werden könne. Der Großherzog ertheilte ſeine Genehmigung, und am 14. Oktober überraſchte Hofmann den Landtag durch die Aufforderung: die Stände möchten nur Alles was ſie noch zur Vervollſtändigung des März-Edikts wünſchten, der Regierung vorſchlagen; dann ſollten die vereinbarten Punkte in einer Verfaſſungsurkunde zuſammengeſtellt werden und mit deren Ver- kündigung das März-Edikt außer Wirkſamkeit treten. Der Erfolg bewies augenblicklich, wie richtig Grolmann gerechnet hatte. Das den Herzen dieſes Geſchlechts ſo unwiderſtehliche Wort „Verfaſſung“ wirkte wie ein Zauberſchlag: nun waren die Heſſen doch ebenſo frei wie die Baiern, Badener und Württemberger! Der Saal erdröhnte von Freudenrufen. In tiefer Bewegung ſprach der Präſident Eigenbrodt: „ſie iſt nun da, die Morgenröthe eines ſchönen Tages, der das Band der Liebe und des Zutrauens zwiſchen einem edlen Fürſten und einem biedern Volke be- feſtigen, noch feſter knüpfen wird.“ Dann ſchloß er die Sitzung, damit der große Tag nicht durch andere Geſchäfte entweiht würde. Welch ein Jubel ſodann, als der Großherzog Abends im Theater unter ſeinem ge- treuen Volke erſchien! Ueberall im Lande die gleiche Begeiſterung, überall, wie das Stichwort des Tages lautete, die gerührte Dankbarkeit glücklicher Kinder gegen den allgeliebten Vater. An den Höfen fand der Freudenrauſch des heſſiſchen Volkes wenig Widerhall. Wie hart war ſchon der König von Württemberg getadelt worden, weil er ſeiner Verfaſſung die Form eines Vertrags gegeben hatte, und er konnte ſich doch auf das alte Recht ſeiner Schwaben be- rufen. Jetzt aber erbot ſich ein zweiter deutſcher Fürſt freiwillig zu einer Vereinbarung mit ſeinen Ständen, obgleich dieſen ein hiſtoriſcher Rechts- anſpruch unzweifelhaft nicht zur Seite ſtand. Cine ſolche Verletzung des monarchiſchen Princips ſchien hochgefährlich. Der Erbgroßherzog und ſein Bruder Prinz Emil hatten ihres Unmuths kein Hehl und beſchuldigten den Miniſter, daß er hinter ihrem Rücken die Gutherzigkeit ihres altern- den Vaters mißbraucht habe. „Wenn Ihr Schwager ſeinen Frieden mit den Jakobinern ſchließen will — ſagte Prinz Emil dem Kanzler Arens ins Geſicht — dann will ich den Krieg mit ihm. Mag Grolmann in den Koth ſtürzen, das iſt mir ſehr gleichgiltig; aber daß er meinen Vater mit hineinreißt, das werde ich ihm nie verzeihen.“ *) Prinz Emil hatte neuer- dings die bonapartiſtiſchen Ideale ſeiner Jugendjahre allmählich aufge- geben und ſich auf dem Aachener Congreſſe perſönlich mit den neuen Gebietern Europas ausgeſöhnt. Ein ausgezeichneter Soldat, klug, unter- *) Prinz Emil v. Heſſen an Otterſtedt, 14. Okt. 1820.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/79>, abgerufen am 22.11.2024.