durfte. Die Fürsten und Grafen waren mit Alledem nicht befriedigt und blieben, bis auf Einen, sämmtlich dem Landtage fern, obschon sie selbst schon vor Jahren die Berufung der Stände stürmisch verlangt hatten.*) Durch Grolmann's Klugheit wurde die Gefahr noch zur rechten Zeit be- schworen. Nüchtern genug um die Stimmung des Landes richtig zu wür- digen und bescheiden genug um den begangenen Mißgriff einzugestehen, bewog er den Großherzog zur Nachgiebigkeit. In einer gnädigen Antwort gewährte der alte Herr die Bitte der Gagern'schen Partei und versprach, daß den Ständen einige organische Gesetze zur Ergänzung des März-Edikts vorgelegt werden sollten. Nach dieser Zusage ließen auch mehrere Mit- glieder der entschiedenen Opposition ihren Widerspruch fallen, und am 27. Juni konnte der Landtag endlich eröffnet werden. Die unbelehrbaren Eidverweigerer wurden aus der Kammer ausgeschlossen, und die Neu- wahlen vollzogen sich überall ohne Widerstand. Der Landtag errang sich sogleich die Oeffentlichkeit seiner Sitzungen und damit ein großes Ansehen, da das gesammte Volk mit gespannter Aufmerksamkeit den Berathungen folgte; aber er mißbrauchte seine Macht nicht, die Minister kamen ihm willfährig entgegen, und unter der sachkundigen Leitung des Präsidenten Eigenbrodt, des berühmten Forstmannes, nahmen die Verhandlungen anfangs einen friedlichen Verlauf.
Alles schien auf dem besten Wege. Sogar Marschall, der bisher nach seiner Weise die Darmstädter Demagogen bei allen Höfen verlästert hatte, meinte jetzt beruhigt: die Regierung habe das Heft in der Hand behalten, das monarchische Princip sei genugsam gewahrt.**) Grolmann aber mußte bald fühlen, wie schwer es hielt, selbst mit dieser besonnenen Kammer zum Abschluß zu gelangen. Er befand sich in einer unhalt- baren Stellung; denn die Gesetzentwürfe über staatsbürgerliche Rechte, über Ministerverantwortlichkeit und Steuerbewilligungsrecht, welche er jetzt dem Landtage vorlegte, enthielten in Wahrheit nicht die Ergänzung, sondern die Aufhebung des März-Edikts, und unter den Abgeordneten äußerte sich immer vernehmlicher das Verlangen, daß auch Hessen, wie die anderen süddeutschen Staaten eine förmliche, das gesammte Staats- recht umfassende Verfassungsurkunde erhalten müsse. Wie viel einfacher doch, wenn man den Ständen diesen Herzenswunsch erfüllte! Der Mi- nister berieth sich insgeheim mit seinem Schwager, dem Kanzler der Uni- versität Gießen, Arens, einem namhaften Juristen, dann mit Staatsrath Hofmann, der das Finanzwesen sehr geschickt leitete, endlich auch mit einem jüngeren liberalen Beamten, Geh. Rath Jaup. Mit Ausnahme Jaup's war keiner dieser vier Männer constitutionell gesinnt, sie Alle betrachteten eine Verfassung besten Falles als ein nothwendiges Uebel, Arens gehörte
*) Eingabe der Standesherren an den Großherzog, März 1816.
**) Marschall an den Herzog von Nassau, 30. Juni 1820.
III. 1. Die Wiener Conferenzen.
durfte. Die Fürſten und Grafen waren mit Alledem nicht befriedigt und blieben, bis auf Einen, ſämmtlich dem Landtage fern, obſchon ſie ſelbſt ſchon vor Jahren die Berufung der Stände ſtürmiſch verlangt hatten.*) Durch Grolmann’s Klugheit wurde die Gefahr noch zur rechten Zeit be- ſchworen. Nüchtern genug um die Stimmung des Landes richtig zu wür- digen und beſcheiden genug um den begangenen Mißgriff einzugeſtehen, bewog er den Großherzog zur Nachgiebigkeit. In einer gnädigen Antwort gewährte der alte Herr die Bitte der Gagern’ſchen Partei und verſprach, daß den Ständen einige organiſche Geſetze zur Ergänzung des März-Edikts vorgelegt werden ſollten. Nach dieſer Zuſage ließen auch mehrere Mit- glieder der entſchiedenen Oppoſition ihren Widerſpruch fallen, und am 27. Juni konnte der Landtag endlich eröffnet werden. Die unbelehrbaren Eidverweigerer wurden aus der Kammer ausgeſchloſſen, und die Neu- wahlen vollzogen ſich überall ohne Widerſtand. Der Landtag errang ſich ſogleich die Oeffentlichkeit ſeiner Sitzungen und damit ein großes Anſehen, da das geſammte Volk mit geſpannter Aufmerkſamkeit den Berathungen folgte; aber er mißbrauchte ſeine Macht nicht, die Miniſter kamen ihm willfährig entgegen, und unter der ſachkundigen Leitung des Präſidenten Eigenbrodt, des berühmten Forſtmannes, nahmen die Verhandlungen anfangs einen friedlichen Verlauf.
Alles ſchien auf dem beſten Wege. Sogar Marſchall, der bisher nach ſeiner Weiſe die Darmſtädter Demagogen bei allen Höfen verläſtert hatte, meinte jetzt beruhigt: die Regierung habe das Heft in der Hand behalten, das monarchiſche Princip ſei genugſam gewahrt.**) Grolmann aber mußte bald fühlen, wie ſchwer es hielt, ſelbſt mit dieſer beſonnenen Kammer zum Abſchluß zu gelangen. Er befand ſich in einer unhalt- baren Stellung; denn die Geſetzentwürfe über ſtaatsbürgerliche Rechte, über Miniſterverantwortlichkeit und Steuerbewilligungsrecht, welche er jetzt dem Landtage vorlegte, enthielten in Wahrheit nicht die Ergänzung, ſondern die Aufhebung des März-Edikts, und unter den Abgeordneten äußerte ſich immer vernehmlicher das Verlangen, daß auch Heſſen, wie die anderen ſüddeutſchen Staaten eine förmliche, das geſammte Staats- recht umfaſſende Verfaſſungsurkunde erhalten müſſe. Wie viel einfacher doch, wenn man den Ständen dieſen Herzenswunſch erfüllte! Der Mi- niſter berieth ſich insgeheim mit ſeinem Schwager, dem Kanzler der Uni- verſität Gießen, Arens, einem namhaften Juriſten, dann mit Staatsrath Hofmann, der das Finanzweſen ſehr geſchickt leitete, endlich auch mit einem jüngeren liberalen Beamten, Geh. Rath Jaup. Mit Ausnahme Jaup’s war keiner dieſer vier Männer conſtitutionell geſinnt, ſie Alle betrachteten eine Verfaſſung beſten Falles als ein nothwendiges Uebel, Arens gehörte
*) Eingabe der Standesherren an den Großherzog, März 1816.
**) Marſchall an den Herzog von Naſſau, 30. Juni 1820.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0078"n="62"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">III.</hi> 1. Die Wiener Conferenzen.</fw><lb/>
durfte. Die Fürſten und Grafen waren mit Alledem nicht befriedigt und<lb/>
blieben, bis auf Einen, ſämmtlich dem Landtage fern, obſchon ſie ſelbſt<lb/>ſchon vor Jahren die Berufung der Stände ſtürmiſch verlangt hatten.<noteplace="foot"n="*)">Eingabe der Standesherren an den Großherzog, März 1816.</note><lb/>
Durch Grolmann’s Klugheit wurde die Gefahr noch zur rechten Zeit be-<lb/>ſchworen. Nüchtern genug um die Stimmung des Landes richtig zu wür-<lb/>
digen und beſcheiden genug um den begangenen Mißgriff einzugeſtehen,<lb/>
bewog er den Großherzog zur Nachgiebigkeit. In einer gnädigen Antwort<lb/>
gewährte der alte Herr die Bitte der Gagern’ſchen Partei und verſprach,<lb/>
daß den Ständen einige organiſche Geſetze zur Ergänzung des März-Edikts<lb/>
vorgelegt werden ſollten. Nach dieſer Zuſage ließen auch mehrere Mit-<lb/>
glieder der entſchiedenen Oppoſition ihren Widerſpruch fallen, und am<lb/>
27. Juni konnte der Landtag endlich eröffnet werden. Die unbelehrbaren<lb/>
Eidverweigerer wurden aus der Kammer ausgeſchloſſen, und die Neu-<lb/>
wahlen vollzogen ſich überall ohne Widerſtand. Der Landtag errang ſich<lb/>ſogleich die Oeffentlichkeit ſeiner Sitzungen und damit ein großes Anſehen,<lb/>
da das geſammte Volk mit geſpannter Aufmerkſamkeit den Berathungen<lb/>
folgte; aber er mißbrauchte ſeine Macht nicht, die Miniſter kamen ihm<lb/>
willfährig entgegen, und unter der ſachkundigen Leitung des Präſidenten<lb/>
Eigenbrodt, des berühmten Forſtmannes, nahmen die Verhandlungen<lb/>
anfangs einen friedlichen Verlauf.</p><lb/><p>Alles ſchien auf dem beſten Wege. Sogar Marſchall, der bisher<lb/>
nach ſeiner Weiſe die Darmſtädter Demagogen bei allen Höfen verläſtert<lb/>
hatte, meinte jetzt beruhigt: die Regierung habe das Heft in der Hand<lb/>
behalten, das monarchiſche Princip ſei genugſam gewahrt.<noteplace="foot"n="**)">Marſchall an den Herzog von Naſſau, 30. Juni 1820.</note> Grolmann<lb/>
aber mußte bald fühlen, wie ſchwer es hielt, ſelbſt mit dieſer beſonnenen<lb/>
Kammer zum Abſchluß zu gelangen. Er befand ſich in einer unhalt-<lb/>
baren Stellung; denn die Geſetzentwürfe über ſtaatsbürgerliche Rechte,<lb/>
über Miniſterverantwortlichkeit und Steuerbewilligungsrecht, welche er<lb/>
jetzt dem Landtage vorlegte, enthielten in Wahrheit nicht die Ergänzung,<lb/>ſondern die Aufhebung des März-Edikts, und unter den Abgeordneten<lb/>
äußerte ſich immer vernehmlicher das Verlangen, daß auch Heſſen, wie<lb/>
die anderen ſüddeutſchen Staaten eine förmliche, das geſammte Staats-<lb/>
recht umfaſſende Verfaſſungsurkunde erhalten müſſe. Wie viel einfacher<lb/>
doch, wenn man den Ständen dieſen Herzenswunſch erfüllte! Der Mi-<lb/>
niſter berieth ſich insgeheim mit ſeinem Schwager, dem Kanzler der Uni-<lb/>
verſität Gießen, Arens, einem namhaften Juriſten, dann mit Staatsrath<lb/>
Hofmann, der das Finanzweſen ſehr geſchickt leitete, endlich auch mit einem<lb/>
jüngeren liberalen Beamten, Geh. Rath Jaup. Mit Ausnahme Jaup’s<lb/>
war keiner dieſer vier Männer conſtitutionell geſinnt, ſie Alle betrachteten<lb/>
eine Verfaſſung beſten Falles als ein nothwendiges Uebel, Arens gehörte<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[62/0078]
III. 1. Die Wiener Conferenzen.
durfte. Die Fürſten und Grafen waren mit Alledem nicht befriedigt und
blieben, bis auf Einen, ſämmtlich dem Landtage fern, obſchon ſie ſelbſt
ſchon vor Jahren die Berufung der Stände ſtürmiſch verlangt hatten. *)
Durch Grolmann’s Klugheit wurde die Gefahr noch zur rechten Zeit be-
ſchworen. Nüchtern genug um die Stimmung des Landes richtig zu wür-
digen und beſcheiden genug um den begangenen Mißgriff einzugeſtehen,
bewog er den Großherzog zur Nachgiebigkeit. In einer gnädigen Antwort
gewährte der alte Herr die Bitte der Gagern’ſchen Partei und verſprach,
daß den Ständen einige organiſche Geſetze zur Ergänzung des März-Edikts
vorgelegt werden ſollten. Nach dieſer Zuſage ließen auch mehrere Mit-
glieder der entſchiedenen Oppoſition ihren Widerſpruch fallen, und am
27. Juni konnte der Landtag endlich eröffnet werden. Die unbelehrbaren
Eidverweigerer wurden aus der Kammer ausgeſchloſſen, und die Neu-
wahlen vollzogen ſich überall ohne Widerſtand. Der Landtag errang ſich
ſogleich die Oeffentlichkeit ſeiner Sitzungen und damit ein großes Anſehen,
da das geſammte Volk mit geſpannter Aufmerkſamkeit den Berathungen
folgte; aber er mißbrauchte ſeine Macht nicht, die Miniſter kamen ihm
willfährig entgegen, und unter der ſachkundigen Leitung des Präſidenten
Eigenbrodt, des berühmten Forſtmannes, nahmen die Verhandlungen
anfangs einen friedlichen Verlauf.
Alles ſchien auf dem beſten Wege. Sogar Marſchall, der bisher
nach ſeiner Weiſe die Darmſtädter Demagogen bei allen Höfen verläſtert
hatte, meinte jetzt beruhigt: die Regierung habe das Heft in der Hand
behalten, das monarchiſche Princip ſei genugſam gewahrt. **) Grolmann
aber mußte bald fühlen, wie ſchwer es hielt, ſelbſt mit dieſer beſonnenen
Kammer zum Abſchluß zu gelangen. Er befand ſich in einer unhalt-
baren Stellung; denn die Geſetzentwürfe über ſtaatsbürgerliche Rechte,
über Miniſterverantwortlichkeit und Steuerbewilligungsrecht, welche er
jetzt dem Landtage vorlegte, enthielten in Wahrheit nicht die Ergänzung,
ſondern die Aufhebung des März-Edikts, und unter den Abgeordneten
äußerte ſich immer vernehmlicher das Verlangen, daß auch Heſſen, wie
die anderen ſüddeutſchen Staaten eine förmliche, das geſammte Staats-
recht umfaſſende Verfaſſungsurkunde erhalten müſſe. Wie viel einfacher
doch, wenn man den Ständen dieſen Herzenswunſch erfüllte! Der Mi-
niſter berieth ſich insgeheim mit ſeinem Schwager, dem Kanzler der Uni-
verſität Gießen, Arens, einem namhaften Juriſten, dann mit Staatsrath
Hofmann, der das Finanzweſen ſehr geſchickt leitete, endlich auch mit einem
jüngeren liberalen Beamten, Geh. Rath Jaup. Mit Ausnahme Jaup’s
war keiner dieſer vier Männer conſtitutionell geſinnt, ſie Alle betrachteten
eine Verfaſſung beſten Falles als ein nothwendiges Uebel, Arens gehörte
*) Eingabe der Standesherren an den Großherzog, März 1816.
**) Marſchall an den Herzog von Naſſau, 30. Juni 1820.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/78>, abgerufen am 18.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.