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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 10. Preußen und die orientalische Frage.
spanischen Erfolge, ihre napoleonischen Erinnerungen allmählich zu ver-
gessen.

Diese Gunst der Umstände ward denn auch von Villele geschickt aus-
gebeutet, und noch im ersten Regierungsjahre des neuen Königs kam das
Gesetz zu Stande, das den Emigranten eine Milliarde zur Entschädigung
für ihre geraubten Güter gewährte -- das folgenreichste und wohlthätigste
Gesetz der Restauration; denn nun erst wurden die Grundlagen der neuen
Gesellschaft, die veränderten Besitzverhältnisse, von allen Parteien ohne Rück-
sicht anerkannt, nun erst war die Möglichkeit gegeben, daß die Parteien, die
sich conservativ nannten, auch conservativ denken konnten. Aber Villele
fühlte sich der Gunst des Königs nicht sicher; er wußte, daß Karls Herz nach
wie vor den Ultras angehörte. Um sich zu behaupten, näherte er sich,
wider seine bessere Einsicht, dieser verblendeten Partei und ließ sich durch
sie von einem Mißgriff zum andern verleiten. Die Kluft zwischen dem
alten und dem neuen Frankreich that sich wieder auf. Das Gesetz über
die Kirchenschändung widersprach den Anschauungen der modernen Gesell-
schaft so gänzlich, daß Niemand an seine Ausführung zu denken wagte;
selbst wohlgemeinte Gesetzentwürfe stießen auf Widerstand, weil tausend
unheimliche Gerüchte von der geplanten Wiederherstellung der feudalen
Gesellschaftsordnung erzählten. Zugleich warnte Graf Montlosier in einer
feurigen Flugschrift vor der drohenden Herrschaft der Jesuiten.

Endlich (1827) erreichten die Ultras sogar einen Pärschub und die
Auflösung des Abgeordnetenhauses, das trotz seiner royalistischen Mehrheit
ihnen noch nicht gefügig genug schien. Ein großer Wahlsieg der Opposition
war die Antwort des Landes. Villele trat zurück, König Karl aber fügte sich
den Thatsachen und berief das gemäßigt-conservative Ministerium Martignac
(Jan. 1828). Allgemein war die Freude. Zum zweiten male, wie schon
im Jahre 1819, gab sich Frankreich der Hoffnung hin, seine alte Krone
werde sich mit dem neuen Staatsrechte endgiltig aussöhnen. Die neue
Regierung bestand, obwohl sie kein Talent von Villele's Feinheit besaß,
durchweg aus wohlmeinenden, gemäßigten Männern, und als sie das alte,
niemals ausgeführte Verbot des Jesuitenordens erneuert hatte, schien sie
in der Gunst der öffentlichen Meinung festzustehen. Aber das Vertrauen
des Königs gewann sie niemals. König Karl konnte sich zu diesen Ge-
mäßigten kein Herz fassen, er bereute bitterlich die Vertreibung der Jesuiten.
Der alte Emigrantenführer, Graf Blacas, der päpstliche Nuntius und
der österreichische Gesandte Graf Apponyi setzten alle Hebel ein um Mar-
tignac zu stürzen. Schon im Spätjahr 1828 kam des Königs Vertrauter,
der Blindeste aller Ultras, Fürst Polignac von seinem Londoner Bot-
schafterposten herüber und versuchte unter der Hand ein neues Cabinet
zu bilden. Diesmal noch vergeblich.*)

*) Werther's Berichte, Paris 6. Febr., 2. Mai, 16. Decbr. 1828.

III. 10. Preußen und die orientaliſche Frage.
ſpaniſchen Erfolge, ihre napoleoniſchen Erinnerungen allmählich zu ver-
geſſen.

Dieſe Gunſt der Umſtände ward denn auch von Villele geſchickt aus-
gebeutet, und noch im erſten Regierungsjahre des neuen Königs kam das
Geſetz zu Stande, das den Emigranten eine Milliarde zur Entſchädigung
für ihre geraubten Güter gewährte — das folgenreichſte und wohlthätigſte
Geſetz der Reſtauration; denn nun erſt wurden die Grundlagen der neuen
Geſellſchaft, die veränderten Beſitzverhältniſſe, von allen Parteien ohne Rück-
ſicht anerkannt, nun erſt war die Möglichkeit gegeben, daß die Parteien, die
ſich conſervativ nannten, auch conſervativ denken konnten. Aber Villele
fühlte ſich der Gunſt des Königs nicht ſicher; er wußte, daß Karls Herz nach
wie vor den Ultras angehörte. Um ſich zu behaupten, näherte er ſich,
wider ſeine beſſere Einſicht, dieſer verblendeten Partei und ließ ſich durch
ſie von einem Mißgriff zum andern verleiten. Die Kluft zwiſchen dem
alten und dem neuen Frankreich that ſich wieder auf. Das Geſetz über
die Kirchenſchändung widerſprach den Anſchauungen der modernen Geſell-
ſchaft ſo gänzlich, daß Niemand an ſeine Ausführung zu denken wagte;
ſelbſt wohlgemeinte Geſetzentwürfe ſtießen auf Widerſtand, weil tauſend
unheimliche Gerüchte von der geplanten Wiederherſtellung der feudalen
Geſellſchaftsordnung erzählten. Zugleich warnte Graf Montloſier in einer
feurigen Flugſchrift vor der drohenden Herrſchaft der Jeſuiten.

Endlich (1827) erreichten die Ultras ſogar einen Pärſchub und die
Auflöſung des Abgeordnetenhauſes, das trotz ſeiner royaliſtiſchen Mehrheit
ihnen noch nicht gefügig genug ſchien. Ein großer Wahlſieg der Oppoſition
war die Antwort des Landes. Villele trat zurück, König Karl aber fügte ſich
den Thatſachen und berief das gemäßigt-conſervative Miniſterium Martignac
(Jan. 1828). Allgemein war die Freude. Zum zweiten male, wie ſchon
im Jahre 1819, gab ſich Frankreich der Hoffnung hin, ſeine alte Krone
werde ſich mit dem neuen Staatsrechte endgiltig ausſöhnen. Die neue
Regierung beſtand, obwohl ſie kein Talent von Villele’s Feinheit beſaß,
durchweg aus wohlmeinenden, gemäßigten Männern, und als ſie das alte,
niemals ausgeführte Verbot des Jeſuitenordens erneuert hatte, ſchien ſie
in der Gunſt der öffentlichen Meinung feſtzuſtehen. Aber das Vertrauen
des Königs gewann ſie niemals. König Karl konnte ſich zu dieſen Ge-
mäßigten kein Herz faſſen, er bereute bitterlich die Vertreibung der Jeſuiten.
Der alte Emigrantenführer, Graf Blacas, der päpſtliche Nuntius und
der öſterreichiſche Geſandte Graf Apponyi ſetzten alle Hebel ein um Mar-
tignac zu ſtürzen. Schon im Spätjahr 1828 kam des Königs Vertrauter,
der Blindeſte aller Ultras, Fürſt Polignac von ſeinem Londoner Bot-
ſchafterpoſten herüber und verſuchte unter der Hand ein neues Cabinet
zu bilden. Diesmal noch vergeblich.*)

*) Werther’s Berichte, Paris 6. Febr., 2. Mai, 16. Decbr. 1828.
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[724/0740] III. 10. Preußen und die orientaliſche Frage. ſpaniſchen Erfolge, ihre napoleoniſchen Erinnerungen allmählich zu ver- geſſen. Dieſe Gunſt der Umſtände ward denn auch von Villele geſchickt aus- gebeutet, und noch im erſten Regierungsjahre des neuen Königs kam das Geſetz zu Stande, das den Emigranten eine Milliarde zur Entſchädigung für ihre geraubten Güter gewährte — das folgenreichſte und wohlthätigſte Geſetz der Reſtauration; denn nun erſt wurden die Grundlagen der neuen Geſellſchaft, die veränderten Beſitzverhältniſſe, von allen Parteien ohne Rück- ſicht anerkannt, nun erſt war die Möglichkeit gegeben, daß die Parteien, die ſich conſervativ nannten, auch conſervativ denken konnten. Aber Villele fühlte ſich der Gunſt des Königs nicht ſicher; er wußte, daß Karls Herz nach wie vor den Ultras angehörte. Um ſich zu behaupten, näherte er ſich, wider ſeine beſſere Einſicht, dieſer verblendeten Partei und ließ ſich durch ſie von einem Mißgriff zum andern verleiten. Die Kluft zwiſchen dem alten und dem neuen Frankreich that ſich wieder auf. Das Geſetz über die Kirchenſchändung widerſprach den Anſchauungen der modernen Geſell- ſchaft ſo gänzlich, daß Niemand an ſeine Ausführung zu denken wagte; ſelbſt wohlgemeinte Geſetzentwürfe ſtießen auf Widerſtand, weil tauſend unheimliche Gerüchte von der geplanten Wiederherſtellung der feudalen Geſellſchaftsordnung erzählten. Zugleich warnte Graf Montloſier in einer feurigen Flugſchrift vor der drohenden Herrſchaft der Jeſuiten. Endlich (1827) erreichten die Ultras ſogar einen Pärſchub und die Auflöſung des Abgeordnetenhauſes, das trotz ſeiner royaliſtiſchen Mehrheit ihnen noch nicht gefügig genug ſchien. Ein großer Wahlſieg der Oppoſition war die Antwort des Landes. Villele trat zurück, König Karl aber fügte ſich den Thatſachen und berief das gemäßigt-conſervative Miniſterium Martignac (Jan. 1828). Allgemein war die Freude. Zum zweiten male, wie ſchon im Jahre 1819, gab ſich Frankreich der Hoffnung hin, ſeine alte Krone werde ſich mit dem neuen Staatsrechte endgiltig ausſöhnen. Die neue Regierung beſtand, obwohl ſie kein Talent von Villele’s Feinheit beſaß, durchweg aus wohlmeinenden, gemäßigten Männern, und als ſie das alte, niemals ausgeführte Verbot des Jeſuitenordens erneuert hatte, ſchien ſie in der Gunſt der öffentlichen Meinung feſtzuſtehen. Aber das Vertrauen des Königs gewann ſie niemals. König Karl konnte ſich zu dieſen Ge- mäßigten kein Herz faſſen, er bereute bitterlich die Vertreibung der Jeſuiten. Der alte Emigrantenführer, Graf Blacas, der päpſtliche Nuntius und der öſterreichiſche Geſandte Graf Apponyi ſetzten alle Hebel ein um Mar- tignac zu ſtürzen. Schon im Spätjahr 1828 kam des Königs Vertrauter, der Blindeſte aller Ultras, Fürſt Polignac von ſeinem Londoner Bot- ſchafterpoſten herüber und verſuchte unter der Hand ein neues Cabinet zu bilden. Diesmal noch vergeblich. *) *) Werther’s Berichte, Paris 6. Febr., 2. Mai, 16. Decbr. 1828.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 724. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/740>, abgerufen am 25.11.2024.