Zehnter Abschnitt. Preußen und die orientalische Frage.
Wenn die Flammen des Radicalismus, die schon da und dort in der Literatur emporzüngelten, dereinst mit Macht aus dem Boden auf- schlugen, dann mußten sie an der verabscheuten Bundesverfassung und der Nichtigkeit der meisten Bundesstaaten überreichen Zündstoff finden. Die einzige widerstandsfähige Macht in diesem deutschen Chaos war der preußische Staat. Während er die wirthschaftlichen Kräfte der Nation entschlossen um sich versammelte, trennte er sich zugleich von der euro- päischen Politik des Wiener Hofes und bewies, daß er auch gegen Oester- reichs Willen die deutschen Interessen zu wahren verstand.
Die europäische Lage wurde zunächst durch zwei Thronwechsel ver- ändert. In Frankreich bestieg Karl X. den Thron (September 1824), der jüngste Bruder des enthaupteten Königs, jener verrufene Graf von Artois, der seit mehr als einem Menschenalter fast alle die thörichten Anschläge der Emigranten und der Ultras geleitet hatte. Durch die Jahre war er nicht weiser geworden. Entzückt begrüßten die Priester der Congregation und die Hofleute des Pavillons Marsan das neue Regiment; sie erwar- teten zuversichtlich, mit der wunderlichen altfränkischen Krönungspracht, die sich im Dome zu Rheims entfaltete, würde die ganze Herrlichkeit des alten feudalen Frankreichs wieder aufleben. Indeß die Zeit der Staats- streiche war noch nicht gekommen. Die Charte stand noch fest; die kluge Mäßigung, welche Ludwig XVIII. und sein Minister Villele während der letzten Jahre gezeigt, begann doch ihre Früchte zu tragen. Für eine Politik der Versöhnung lagen alle Anzeichen günstig. König Karl gefiel den Franzosen durch seine ritterliche Liebenswürdigkeit; er vergrub sich nicht, wie sein kranker Bruder, in der Einsamkeit der Tuilerien, sondern zeigte sich gern vor dem Volke, und das neugierige Paris hatte seine Lust an dem Glanze des Hofes. In den Kammern gebot das Ministerium über eine zuverlässige conservative Mehrheit, und ihr Bestand schien auf lange hinaus gesichert, da Villele soeben die siebenjährige Dauer der Wahl- kammer durchgesetzt hatte. Von den Verschwörungen und den politischen Verfolgungen, welche das Land vor Kurzem noch aufgeregt hatten, hörte man nichts mehr. Selbst die Armee schien, froh der neuen wohlfeilen
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Zehnter Abſchnitt. Preußen und die orientaliſche Frage.
Wenn die Flammen des Radicalismus, die ſchon da und dort in der Literatur emporzüngelten, dereinſt mit Macht aus dem Boden auf- ſchlugen, dann mußten ſie an der verabſcheuten Bundesverfaſſung und der Nichtigkeit der meiſten Bundesſtaaten überreichen Zündſtoff finden. Die einzige widerſtandsfähige Macht in dieſem deutſchen Chaos war der preußiſche Staat. Während er die wirthſchaftlichen Kräfte der Nation entſchloſſen um ſich verſammelte, trennte er ſich zugleich von der euro- päiſchen Politik des Wiener Hofes und bewies, daß er auch gegen Oeſter- reichs Willen die deutſchen Intereſſen zu wahren verſtand.
Die europäiſche Lage wurde zunächſt durch zwei Thronwechſel ver- ändert. In Frankreich beſtieg Karl X. den Thron (September 1824), der jüngſte Bruder des enthaupteten Königs, jener verrufene Graf von Artois, der ſeit mehr als einem Menſchenalter faſt alle die thörichten Anſchläge der Emigranten und der Ultras geleitet hatte. Durch die Jahre war er nicht weiſer geworden. Entzückt begrüßten die Prieſter der Congregation und die Hofleute des Pavillons Marſan das neue Regiment; ſie erwar- teten zuverſichtlich, mit der wunderlichen altfränkiſchen Krönungspracht, die ſich im Dome zu Rheims entfaltete, würde die ganze Herrlichkeit des alten feudalen Frankreichs wieder aufleben. Indeß die Zeit der Staats- ſtreiche war noch nicht gekommen. Die Charte ſtand noch feſt; die kluge Mäßigung, welche Ludwig XVIII. und ſein Miniſter Villele während der letzten Jahre gezeigt, begann doch ihre Früchte zu tragen. Für eine Politik der Verſöhnung lagen alle Anzeichen günſtig. König Karl gefiel den Franzoſen durch ſeine ritterliche Liebenswürdigkeit; er vergrub ſich nicht, wie ſein kranker Bruder, in der Einſamkeit der Tuilerien, ſondern zeigte ſich gern vor dem Volke, und das neugierige Paris hatte ſeine Luſt an dem Glanze des Hofes. In den Kammern gebot das Miniſterium über eine zuverläſſige conſervative Mehrheit, und ihr Beſtand ſchien auf lange hinaus geſichert, da Villele ſoeben die ſiebenjährige Dauer der Wahl- kammer durchgeſetzt hatte. Von den Verſchwörungen und den politiſchen Verfolgungen, welche das Land vor Kurzem noch aufgeregt hatten, hörte man nichts mehr. Selbſt die Armee ſchien, froh der neuen wohlfeilen
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Zehnter Abſchnitt.
Preußen und die orientaliſche Frage.
Wenn die Flammen des Radicalismus, die ſchon da und dort in
der Literatur emporzüngelten, dereinſt mit Macht aus dem Boden auf-
ſchlugen, dann mußten ſie an der verabſcheuten Bundesverfaſſung und
der Nichtigkeit der meiſten Bundesſtaaten überreichen Zündſtoff finden.
Die einzige widerſtandsfähige Macht in dieſem deutſchen Chaos war der
preußiſche Staat. Während er die wirthſchaftlichen Kräfte der Nation
entſchloſſen um ſich verſammelte, trennte er ſich zugleich von der euro-
päiſchen Politik des Wiener Hofes und bewies, daß er auch gegen Oeſter-
reichs Willen die deutſchen Intereſſen zu wahren verſtand.
Die europäiſche Lage wurde zunächſt durch zwei Thronwechſel ver-
ändert. In Frankreich beſtieg Karl X. den Thron (September 1824), der
jüngſte Bruder des enthaupteten Königs, jener verrufene Graf von Artois,
der ſeit mehr als einem Menſchenalter faſt alle die thörichten Anſchläge
der Emigranten und der Ultras geleitet hatte. Durch die Jahre war er
nicht weiſer geworden. Entzückt begrüßten die Prieſter der Congregation
und die Hofleute des Pavillons Marſan das neue Regiment; ſie erwar-
teten zuverſichtlich, mit der wunderlichen altfränkiſchen Krönungspracht,
die ſich im Dome zu Rheims entfaltete, würde die ganze Herrlichkeit des
alten feudalen Frankreichs wieder aufleben. Indeß die Zeit der Staats-
ſtreiche war noch nicht gekommen. Die Charte ſtand noch feſt; die kluge
Mäßigung, welche Ludwig XVIII. und ſein Miniſter Villele während der
letzten Jahre gezeigt, begann doch ihre Früchte zu tragen. Für eine Politik
der Verſöhnung lagen alle Anzeichen günſtig. König Karl gefiel den
Franzoſen durch ſeine ritterliche Liebenswürdigkeit; er vergrub ſich nicht,
wie ſein kranker Bruder, in der Einſamkeit der Tuilerien, ſondern zeigte
ſich gern vor dem Volke, und das neugierige Paris hatte ſeine Luſt an
dem Glanze des Hofes. In den Kammern gebot das Miniſterium über
eine zuverläſſige conſervative Mehrheit, und ihr Beſtand ſchien auf lange
hinaus geſichert, da Villele ſoeben die ſiebenjährige Dauer der Wahl-
kammer durchgeſetzt hatte. Von den Verſchwörungen und den politiſchen
Verfolgungen, welche das Land vor Kurzem noch aufgeregt hatten, hörte
man nichts mehr. Selbſt die Armee ſchien, froh der neuen wohlfeilen
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. [723]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/739>, abgerufen am 25.11.2024.
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