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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Meisters Wanderjahre.
aneinander, was er so viele Jahre hindurch über das Problem der Men-
schenbildung gedichtet und gedacht hatte. Die Leser vermochten sich in dem
Irrgarten nicht zurechtzufinden.

Zum ersten male rief eine Dichtung Goethe's allgemeine Enttäu-
schung hervor, und nun kamen gute Tage für alle die kleinen Leute, die
dem Dichter seine Größe nicht verzeihen konnten. Während der letzten
Jahre, so lange die Nation noch unter dem frischen Eindruck von Dich-
tung und Wahrheit stand, hatten sich die Neider selten herausgewagt.
Jetzt fanden die falschen Wanderjahre, welche der westphälische Pfarrer
Pustkuchen gleichzeitig mit dem Anfang der echten (1821) in der berüch-
tigten Basse'schen Buchhandlung zu Quedlinburg erschienen ließ, starken
Absatz und selbst in geachteten Zeitschriften ernsthafte Besprechung. Das
boshafte Machwerk ahmte den umständlichen Stil des alten Herrn nicht
ohne Geschick nach, und bekämpfte seine Unsittlichkeit mit den Gemeinplätzen
der platten Moral. Dann ließ auch Hengstenberg's Kirchenzeitung die Kar-
thaunen ihres allein wahren Christenthums gegen den großen Heiden spielen,
und in gleichem Sinne schrieb Wolfgang Menzel, der Herausgeber des mit
dem Cotta'schen Morgenblatte verbundenen Literaturblattes. Der blieb
sein Lebelang der alte christlich-germanische Burschenschafter und rügte
mit achtungswerthem Muthe die Verirrungen des weltbürgerlichen, glau-
benlosen Radicalismus. Aber die Grazien hatten nicht an der Wiege
des unliebenswürdigen Mannes gestanden; das classische Alterthum war
ihm nur eine Welt der Sünde, und niemals wollte er den Päpsten ver-
zeihen, daß sie den Vatikan mit der schönsten Skulpturensammlung der
Welt geschmückt hatten. So hielt er es denn für Christenpflicht, den
Deutschen ihren ersten Dichter zu verleiden und ließ auch nicht ab in
seinem puritanischen Eifer, als seine Todfeinde, die Radicalen in dasselbe
Horn stießen und den geadelten Fürstenknecht in Weimar mit gesinnungs-
tüchtiger Entrüstung brandmarkten.

Wie vormals Luther und Friedrich, so sah auch Goethe seine letzten
Jahre durch die häßlichste aller deutschen Sünden, durch die ungeheuere
Undankbarkeit der Nation getrübt -- eben jetzt, da das Ausland den
Dichter erst zu würdigen begann, da die jungen Schriftsteller des Pariser
Globe die französische Kunst auf die Naturwahrheit Goethe's und Shake-
speare's hinwiesen, und der einzige Brite der Deutschland ganz verstanden
hat, Thomas Carlyle seinen Landsleuten den Sinn des Faust erklärte.
Die radicale deutsche Jugend hörte nur zu willig auf die Stimmen der
Verleumder. Ein Liebling der jungen Männer war Goethe nur zwei-
mal gewesen, in den Tagen des Werther und wieder als der erste Theil
des Faust erschien; was er jetzt noch schrieb, konnte einem grollenden
Geschlechte nicht genügen, das sich nach politischen Kämpfen sehnte und
in seiner Ungeduld den Adel der Form kaum noch zu schätzen wußte.
In der neuen Burschenschaft, unter den Freunden Arnold Ruge's galt

Meiſters Wanderjahre.
aneinander, was er ſo viele Jahre hindurch über das Problem der Men-
ſchenbildung gedichtet und gedacht hatte. Die Leſer vermochten ſich in dem
Irrgarten nicht zurechtzufinden.

Zum erſten male rief eine Dichtung Goethe’s allgemeine Enttäu-
ſchung hervor, und nun kamen gute Tage für alle die kleinen Leute, die
dem Dichter ſeine Größe nicht verzeihen konnten. Während der letzten
Jahre, ſo lange die Nation noch unter dem friſchen Eindruck von Dich-
tung und Wahrheit ſtand, hatten ſich die Neider ſelten herausgewagt.
Jetzt fanden die falſchen Wanderjahre, welche der weſtphäliſche Pfarrer
Puſtkuchen gleichzeitig mit dem Anfang der echten (1821) in der berüch-
tigten Baſſe’ſchen Buchhandlung zu Quedlinburg erſchienen ließ, ſtarken
Abſatz und ſelbſt in geachteten Zeitſchriften ernſthafte Beſprechung. Das
boshafte Machwerk ahmte den umſtändlichen Stil des alten Herrn nicht
ohne Geſchick nach, und bekämpfte ſeine Unſittlichkeit mit den Gemeinplätzen
der platten Moral. Dann ließ auch Hengſtenberg’s Kirchenzeitung die Kar-
thaunen ihres allein wahren Chriſtenthums gegen den großen Heiden ſpielen,
und in gleichem Sinne ſchrieb Wolfgang Menzel, der Herausgeber des mit
dem Cotta’ſchen Morgenblatte verbundenen Literaturblattes. Der blieb
ſein Lebelang der alte chriſtlich-germaniſche Burſchenſchafter und rügte
mit achtungswerthem Muthe die Verirrungen des weltbürgerlichen, glau-
benloſen Radicalismus. Aber die Grazien hatten nicht an der Wiege
des unliebenswürdigen Mannes geſtanden; das claſſiſche Alterthum war
ihm nur eine Welt der Sünde, und niemals wollte er den Päpſten ver-
zeihen, daß ſie den Vatikan mit der ſchönſten Skulpturenſammlung der
Welt geſchmückt hatten. So hielt er es denn für Chriſtenpflicht, den
Deutſchen ihren erſten Dichter zu verleiden und ließ auch nicht ab in
ſeinem puritaniſchen Eifer, als ſeine Todfeinde, die Radicalen in daſſelbe
Horn ſtießen und den geadelten Fürſtenknecht in Weimar mit geſinnungs-
tüchtiger Entrüſtung brandmarkten.

Wie vormals Luther und Friedrich, ſo ſah auch Goethe ſeine letzten
Jahre durch die häßlichſte aller deutſchen Sünden, durch die ungeheuere
Undankbarkeit der Nation getrübt — eben jetzt, da das Ausland den
Dichter erſt zu würdigen begann, da die jungen Schriftſteller des Pariſer
Globe die franzöſiſche Kunſt auf die Naturwahrheit Goethe’s und Shake-
ſpeare’s hinwieſen, und der einzige Brite der Deutſchland ganz verſtanden
hat, Thomas Carlyle ſeinen Landsleuten den Sinn des Fauſt erklärte.
Die radicale deutſche Jugend hörte nur zu willig auf die Stimmen der
Verleumder. Ein Liebling der jungen Männer war Goethe nur zwei-
mal geweſen, in den Tagen des Werther und wieder als der erſte Theil
des Fauſt erſchien; was er jetzt noch ſchrieb, konnte einem grollenden
Geſchlechte nicht genügen, das ſich nach politiſchen Kämpfen ſehnte und
in ſeiner Ungeduld den Adel der Form kaum noch zu ſchätzen wußte.
In der neuen Burſchenſchaft, unter den Freunden Arnold Ruge’s galt

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[685/0701] Meiſters Wanderjahre. aneinander, was er ſo viele Jahre hindurch über das Problem der Men- ſchenbildung gedichtet und gedacht hatte. Die Leſer vermochten ſich in dem Irrgarten nicht zurechtzufinden. Zum erſten male rief eine Dichtung Goethe’s allgemeine Enttäu- ſchung hervor, und nun kamen gute Tage für alle die kleinen Leute, die dem Dichter ſeine Größe nicht verzeihen konnten. Während der letzten Jahre, ſo lange die Nation noch unter dem friſchen Eindruck von Dich- tung und Wahrheit ſtand, hatten ſich die Neider ſelten herausgewagt. Jetzt fanden die falſchen Wanderjahre, welche der weſtphäliſche Pfarrer Puſtkuchen gleichzeitig mit dem Anfang der echten (1821) in der berüch- tigten Baſſe’ſchen Buchhandlung zu Quedlinburg erſchienen ließ, ſtarken Abſatz und ſelbſt in geachteten Zeitſchriften ernſthafte Beſprechung. Das boshafte Machwerk ahmte den umſtändlichen Stil des alten Herrn nicht ohne Geſchick nach, und bekämpfte ſeine Unſittlichkeit mit den Gemeinplätzen der platten Moral. Dann ließ auch Hengſtenberg’s Kirchenzeitung die Kar- thaunen ihres allein wahren Chriſtenthums gegen den großen Heiden ſpielen, und in gleichem Sinne ſchrieb Wolfgang Menzel, der Herausgeber des mit dem Cotta’ſchen Morgenblatte verbundenen Literaturblattes. Der blieb ſein Lebelang der alte chriſtlich-germaniſche Burſchenſchafter und rügte mit achtungswerthem Muthe die Verirrungen des weltbürgerlichen, glau- benloſen Radicalismus. Aber die Grazien hatten nicht an der Wiege des unliebenswürdigen Mannes geſtanden; das claſſiſche Alterthum war ihm nur eine Welt der Sünde, und niemals wollte er den Päpſten ver- zeihen, daß ſie den Vatikan mit der ſchönſten Skulpturenſammlung der Welt geſchmückt hatten. So hielt er es denn für Chriſtenpflicht, den Deutſchen ihren erſten Dichter zu verleiden und ließ auch nicht ab in ſeinem puritaniſchen Eifer, als ſeine Todfeinde, die Radicalen in daſſelbe Horn ſtießen und den geadelten Fürſtenknecht in Weimar mit geſinnungs- tüchtiger Entrüſtung brandmarkten. Wie vormals Luther und Friedrich, ſo ſah auch Goethe ſeine letzten Jahre durch die häßlichſte aller deutſchen Sünden, durch die ungeheuere Undankbarkeit der Nation getrübt — eben jetzt, da das Ausland den Dichter erſt zu würdigen begann, da die jungen Schriftſteller des Pariſer Globe die franzöſiſche Kunſt auf die Naturwahrheit Goethe’s und Shake- ſpeare’s hinwieſen, und der einzige Brite der Deutſchland ganz verſtanden hat, Thomas Carlyle ſeinen Landsleuten den Sinn des Fauſt erklärte. Die radicale deutſche Jugend hörte nur zu willig auf die Stimmen der Verleumder. Ein Liebling der jungen Männer war Goethe nur zwei- mal geweſen, in den Tagen des Werther und wieder als der erſte Theil des Fauſt erſchien; was er jetzt noch ſchrieb, konnte einem grollenden Geſchlechte nicht genügen, das ſich nach politiſchen Kämpfen ſehnte und in ſeiner Ungeduld den Adel der Form kaum noch zu ſchätzen wußte. In der neuen Burſchenſchaft, unter den Freunden Arnold Ruge’s galt

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 685. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/701>, abgerufen am 17.05.2024.