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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Neunter Abschnitt.

Literarische Vorboten einer neuen Zeit.

Der Vertrag zwischen den beiden Zollvereinen des Südens und des
Nordens eröffnete den Deutschen die Aussicht auf ein nationales Markt-
gebiet, das ihnen seit Jahrhunderten gefehlt hatte, und also auf einen
unerhörten Aufschwung ihrer wirthschaftlichen Kräfte. Aber Jahre ver-
liefen noch bis aus jener ersten Verständigung ein dauernder Verein her-
vorging, und dann nochmals Jahre, bis unter dem Schutze der neuen
Zolllinien eine mächtige Großindustrie emporblühte. Erst um das Jahr
1840 begannen mit den Fabriken und den Börsen, den Eisenbahnen und
den Zeitungen auch die Klassenkämpfe, die unstete Hast und das wage-
lustige Selbstgefühl der modernen Volkswirthschaft in das deutsche Leben
einzudringen. Bis dahin verharrte die Mehrheit des Volkes noch in den
kleinstädtischen Gewohnheiten der ersten Friedenszeiten, seßhaft auf der
väterlichen Scholle, im hergebrachten Handwerk still geschäftig, zufrieden
mit den bescheidenen Genüssen des ungeschmückten Hauses. Schon gegen
das Ende der zwanziger Jahre verriethen jedoch manche Anzeichen, daß
eine große Wandelung der nationalen Gesittung im Anzuge war. Wie
auf die goldenen Tage der Dichtung unseres Mittelalters, so sollte auch
auf die Zeiten von Jena und Weimar eine prosaische Epoche folgen, die
ihre Thatkraft zumeist nach außen, auf die Kämpfe des Staates, der
Kirche, der Volkswirtschaft richtete.

Die Vorboten dieses Umschwungs wurden in der Literatur, die so
lange der treue Spiegel aller deutschen Herzensgeheimnisse gewesen war,
früher bemerkbar als im praktischen Leben. Die Dichtung behauptete nicht
mehr den Herrschersitz im Reiche der Geister. Wie einst der Verfall der
italienischen Architektur sich grade in der massenhaften und doch un-
fruchtbaren Bauthätigkeit des achtzehnten Jahrhunderts bekundet hatte,
so bewies jetzt die unübersehbare Menge der gehaltlosen Unterhaltungs-
romane und Taschenbuchsgedichte, welche den deutschen Büchermarkt über-
füllten, daß unsere Poesie ins Kraut schoß und nur noch selten süße
Trauben trug. Ein schlimmes Zeichen der Zeit war die zunehmende
Schreiblust der Frauen. Gleich allen großen Epochen der Kunst war auch

Neunter Abſchnitt.

Literariſche Vorboten einer neuen Zeit.

Der Vertrag zwiſchen den beiden Zollvereinen des Südens und des
Nordens eröffnete den Deutſchen die Ausſicht auf ein nationales Markt-
gebiet, das ihnen ſeit Jahrhunderten gefehlt hatte, und alſo auf einen
unerhörten Aufſchwung ihrer wirthſchaftlichen Kräfte. Aber Jahre ver-
liefen noch bis aus jener erſten Verſtändigung ein dauernder Verein her-
vorging, und dann nochmals Jahre, bis unter dem Schutze der neuen
Zolllinien eine mächtige Großinduſtrie emporblühte. Erſt um das Jahr
1840 begannen mit den Fabriken und den Börſen, den Eiſenbahnen und
den Zeitungen auch die Klaſſenkämpfe, die unſtete Haſt und das wage-
luſtige Selbſtgefühl der modernen Volkswirthſchaft in das deutſche Leben
einzudringen. Bis dahin verharrte die Mehrheit des Volkes noch in den
kleinſtädtiſchen Gewohnheiten der erſten Friedenszeiten, ſeßhaft auf der
väterlichen Scholle, im hergebrachten Handwerk ſtill geſchäftig, zufrieden
mit den beſcheidenen Genüſſen des ungeſchmückten Hauſes. Schon gegen
das Ende der zwanziger Jahre verriethen jedoch manche Anzeichen, daß
eine große Wandelung der nationalen Geſittung im Anzuge war. Wie
auf die goldenen Tage der Dichtung unſeres Mittelalters, ſo ſollte auch
auf die Zeiten von Jena und Weimar eine proſaiſche Epoche folgen, die
ihre Thatkraft zumeiſt nach außen, auf die Kämpfe des Staates, der
Kirche, der Volkswirtſchaft richtete.

Die Vorboten dieſes Umſchwungs wurden in der Literatur, die ſo
lange der treue Spiegel aller deutſchen Herzensgeheimniſſe geweſen war,
früher bemerkbar als im praktiſchen Leben. Die Dichtung behauptete nicht
mehr den Herrſcherſitz im Reiche der Geiſter. Wie einſt der Verfall der
italieniſchen Architektur ſich grade in der maſſenhaften und doch un-
fruchtbaren Bauthätigkeit des achtzehnten Jahrhunderts bekundet hatte,
ſo bewies jetzt die unüberſehbare Menge der gehaltloſen Unterhaltungs-
romane und Taſchenbuchsgedichte, welche den deutſchen Büchermarkt über-
füllten, daß unſere Poeſie ins Kraut ſchoß und nur noch ſelten ſüße
Trauben trug. Ein ſchlimmes Zeichen der Zeit war die zunehmende
Schreibluſt der Frauen. Gleich allen großen Epochen der Kunſt war auch

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[[682]/0698] Neunter Abſchnitt. Literariſche Vorboten einer neuen Zeit. Der Vertrag zwiſchen den beiden Zollvereinen des Südens und des Nordens eröffnete den Deutſchen die Ausſicht auf ein nationales Markt- gebiet, das ihnen ſeit Jahrhunderten gefehlt hatte, und alſo auf einen unerhörten Aufſchwung ihrer wirthſchaftlichen Kräfte. Aber Jahre ver- liefen noch bis aus jener erſten Verſtändigung ein dauernder Verein her- vorging, und dann nochmals Jahre, bis unter dem Schutze der neuen Zolllinien eine mächtige Großinduſtrie emporblühte. Erſt um das Jahr 1840 begannen mit den Fabriken und den Börſen, den Eiſenbahnen und den Zeitungen auch die Klaſſenkämpfe, die unſtete Haſt und das wage- luſtige Selbſtgefühl der modernen Volkswirthſchaft in das deutſche Leben einzudringen. Bis dahin verharrte die Mehrheit des Volkes noch in den kleinſtädtiſchen Gewohnheiten der erſten Friedenszeiten, ſeßhaft auf der väterlichen Scholle, im hergebrachten Handwerk ſtill geſchäftig, zufrieden mit den beſcheidenen Genüſſen des ungeſchmückten Hauſes. Schon gegen das Ende der zwanziger Jahre verriethen jedoch manche Anzeichen, daß eine große Wandelung der nationalen Geſittung im Anzuge war. Wie auf die goldenen Tage der Dichtung unſeres Mittelalters, ſo ſollte auch auf die Zeiten von Jena und Weimar eine proſaiſche Epoche folgen, die ihre Thatkraft zumeiſt nach außen, auf die Kämpfe des Staates, der Kirche, der Volkswirtſchaft richtete. Die Vorboten dieſes Umſchwungs wurden in der Literatur, die ſo lange der treue Spiegel aller deutſchen Herzensgeheimniſſe geweſen war, früher bemerkbar als im praktiſchen Leben. Die Dichtung behauptete nicht mehr den Herrſcherſitz im Reiche der Geiſter. Wie einſt der Verfall der italieniſchen Architektur ſich grade in der maſſenhaften und doch un- fruchtbaren Bauthätigkeit des achtzehnten Jahrhunderts bekundet hatte, ſo bewies jetzt die unüberſehbare Menge der gehaltloſen Unterhaltungs- romane und Taſchenbuchsgedichte, welche den deutſchen Büchermarkt über- füllten, daß unſere Poeſie ins Kraut ſchoß und nur noch ſelten ſüße Trauben trug. Ein ſchlimmes Zeichen der Zeit war die zunehmende Schreibluſt der Frauen. Gleich allen großen Epochen der Kunſt war auch

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. [682]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/698>, abgerufen am 24.11.2024.