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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Ausstoßung F. List's.
Enge kleinstaatlicher Zustände nicht entrathen kann; so grausame Artikel,
wie die Gespräche zwischen Minister Großvezier und Gerichtsrath Frech-
stirn wollte ihm Niemand vergeben. Schon zweimal war es der Bureau-
kratie gelungen, ihren Todfeind dem Landtage fern zu halten; diesmal
erschien er rechtmäßig gewählt von den demokratischen Reutlingern und
brachte sofort Alles in Aufruhr durch die sprudelnde Heftigkeit seiner ge-
dankenreichen Reden. Aber auch diesmal fand sich ein Mittel den Stö-
renfried zu beseitigen. List hatte für seine Wähler den Entwurf einer
Adresse ausgearbeitet, die sich in scharfen Worten gegen die Allmacht des
Beamtenthums wendete: "Jammer und Noth überall; nirgends Ehre,
nirgends Einkommen, nirgends Fröhlichkeit denn allein in dem Dienst-
rock!" Alle die Forderungen, welche er einst im "Volksfreund" ver-
treten, kehrten darin wieder: er verlangte öffentliche Rechtspflege, unbe-
schränkte Freiheit der Gemeinden, Verminderung des Beamtenheeres und
dazu -- nach den neuesten Sätzen der national-ökonomischen Doctrin --
Verkauf der Domänen, Einführung einer einzigen direkten Steuer.

Ein wunderliches Gemisch von guten Gedanken und unreifen Einfällen
enthielt die Adresse doch sicherlich nichts Strafbares; der Herrenstand aber
in und außerhalb der Kammer sah die Grundlagen seiner Macht gefährdet.
Sofort mußte das Gericht in Eßlingen eine Untersuchung gegen List be-
ginnen wegen Beleidigung der gesammten Staatsdienerschaft, und Maucler
muthete den Ständen zu, den Angeklagten kurzerhand aus dem Land-
tage auszuschließen, da nach der Verfassung kein Abgeordneter in eine
Criminal-Untersuchung verflochten sein dürfe. Vergeblich wies List nach,
daß er nur eines Vergehens, nicht eines Verbrechens bezichtigt sei; ver-
geblich warnten Uhland und einige seiner Freunde: bei solcher Aus-
legung des Grundgesetzes könne die Regierung nach Belieben jedes miß-
liebige Mitglied aus der Kammer entfernen. Die Mehrheit fügte sich
willig dem mit allem Aufwand sophistischer Künste unterstützten Ansinnen
des Ministers, sie verfuhr dabei mit der ganzen Parteilichkeit einer in
ihrer Herrschaft bedrohten Kaste; eine Adresse aus Heilbronn, die sich
mit reichsstädtischem Freimuth des Bedrängten annahm, wurde aus den
Akten entfernt unter stürmischen Zornreden wider Jakobinismus und
Sansculotterie. Von dem Ausgestoßenen verlangten die Richter nun-
mehr, daß er sich auch wegen der Rede, die er im Landtage zu seiner
Vertheidigung gehalten, rechtfertigen solle, und als er die Aufforderung
zurückwies, bedrohten sie ihn mit den gesetzlichen Zwangsmaßregeln, die
bei andauernder Widerspänstigkeit bis zu fünfundzwanzig Stockstreichen
ansteigen konnten. Den erhebenden Anblick eines in den Bock gespannten
Volksvertreters wollte List dem Herrenstande doch nicht gewähren. Er
ließ sich verhören, wurde zur Festungshaft verurtheilt, nachdem das Ver-
fahren über ein Jahr gewährt hatte, und entzog sich sodann der Strafe
durch die Flucht.

Ausſtoßung F. Liſt’s.
Enge kleinſtaatlicher Zuſtände nicht entrathen kann; ſo grauſame Artikel,
wie die Geſpräche zwiſchen Miniſter Großvezier und Gerichtsrath Frech-
ſtirn wollte ihm Niemand vergeben. Schon zweimal war es der Bureau-
kratie gelungen, ihren Todfeind dem Landtage fern zu halten; diesmal
erſchien er rechtmäßig gewählt von den demokratiſchen Reutlingern und
brachte ſofort Alles in Aufruhr durch die ſprudelnde Heftigkeit ſeiner ge-
dankenreichen Reden. Aber auch diesmal fand ſich ein Mittel den Stö-
renfried zu beſeitigen. Liſt hatte für ſeine Wähler den Entwurf einer
Adreſſe ausgearbeitet, die ſich in ſcharfen Worten gegen die Allmacht des
Beamtenthums wendete: „Jammer und Noth überall; nirgends Ehre,
nirgends Einkommen, nirgends Fröhlichkeit denn allein in dem Dienſt-
rock!“ Alle die Forderungen, welche er einſt im „Volksfreund“ ver-
treten, kehrten darin wieder: er verlangte öffentliche Rechtspflege, unbe-
ſchränkte Freiheit der Gemeinden, Verminderung des Beamtenheeres und
dazu — nach den neueſten Sätzen der national-ökonomiſchen Doctrin —
Verkauf der Domänen, Einführung einer einzigen direkten Steuer.

Ein wunderliches Gemiſch von guten Gedanken und unreifen Einfällen
enthielt die Adreſſe doch ſicherlich nichts Strafbares; der Herrenſtand aber
in und außerhalb der Kammer ſah die Grundlagen ſeiner Macht gefährdet.
Sofort mußte das Gericht in Eßlingen eine Unterſuchung gegen Liſt be-
ginnen wegen Beleidigung der geſammten Staatsdienerſchaft, und Maucler
muthete den Ständen zu, den Angeklagten kurzerhand aus dem Land-
tage auszuſchließen, da nach der Verfaſſung kein Abgeordneter in eine
Criminal-Unterſuchung verflochten ſein dürfe. Vergeblich wies Liſt nach,
daß er nur eines Vergehens, nicht eines Verbrechens bezichtigt ſei; ver-
geblich warnten Uhland und einige ſeiner Freunde: bei ſolcher Aus-
legung des Grundgeſetzes könne die Regierung nach Belieben jedes miß-
liebige Mitglied aus der Kammer entfernen. Die Mehrheit fügte ſich
willig dem mit allem Aufwand ſophiſtiſcher Künſte unterſtützten Anſinnen
des Miniſters, ſie verfuhr dabei mit der ganzen Parteilichkeit einer in
ihrer Herrſchaft bedrohten Kaſte; eine Adreſſe aus Heilbronn, die ſich
mit reichsſtädtiſchem Freimuth des Bedrängten annahm, wurde aus den
Akten entfernt unter ſtürmiſchen Zornreden wider Jakobinismus und
Sansculotterie. Von dem Ausgeſtoßenen verlangten die Richter nun-
mehr, daß er ſich auch wegen der Rede, die er im Landtage zu ſeiner
Vertheidigung gehalten, rechtfertigen ſolle, und als er die Aufforderung
zurückwies, bedrohten ſie ihn mit den geſetzlichen Zwangsmaßregeln, die
bei andauernder Widerſpänſtigkeit bis zu fünfundzwanzig Stockſtreichen
anſteigen konnten. Den erhebenden Anblick eines in den Bock geſpannten
Volksvertreters wollte Liſt dem Herrenſtande doch nicht gewähren. Er
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fahren über ein Jahr gewährt hatte, und entzog ſich ſodann der Strafe
durch die Flucht.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/69>, abgerufen am 05.05.2024.