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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Die Oberschönaer Punctation.
Handelseinheit in aller Stille eingefädelt, harmlos gemüthlich wie eine
Carlowitz'sche Familienangelegenheit. In den letzten Tagen des März 1828
trafen sich der Herzog von Gotha, die beiden Carlowitze und Schweitzer
auf dem Carlowitz'schen Familiengute Oberschöna -- sie Alle noch ohne
eine klare Vorstellung von den schweren Folgen ihres Beginnens. Wir
Deutschen sind Gott sei Dank durch unabweisbare Interessen, durch alle
Lebensgewohnheiten auf einander angewiesen; jeder Versuch offener Feind-
seligkeit von Deutschen gegen Deutsche erscheint als eine Sünde wider
die Natur und bietet darum neben der Entrüstung auch der Lachlust ein
breites Ziel. In denselben Tagen, da in Oberschöna der Zollkrieg gegen
Preußen beschlossen wurde, verhandelte in Berlin der Weimarische Bevoll-
mächtigte Thon wegen freundnachbarlicher Aufhebung der Geleitsgelder.
Mochte man den preußischen Staat bis in der Hölle tiefste Gründe ver-
wünschen, entbehren konnte man ihn nicht. Die in Oberschöna abge-
schlossene Punctation besagte: Es soll ein Handelsverein geschlossen werden
zwischen Sachsen, Kurhessen und Thüringen. Die Theilnehmer "werden
sich bemühen den Beitritt der übrigen zwischen der preußischen und bairi-
schen Zolllinie gelegenen Lande zu erlangen." Sie verpflichten sich "ein-
seitig keinem auswärtigen Zollsysteme beizutreten, noch, ohne Zustimmung
des Vereins, mit einem Staate, in welchem ein solches System besteht,
einen Handels- oder Zoll-Vertrag zu schließen." Sie wollen ihre gegen-
seitigen Unterthanen auf gleichem Fuß behandeln und (Art. 7) die Tran-
sitabgaben im Verkehre zwischen den Vereinsstaaten nicht über das Maß
der sächsischen Transitzölle erhöhen. Sechs Monate nach der Constituirung
des Vereins soll über gemeinsame Handelsverträge und Retorsionen be-
rathen werden.

Es war ein pactum de paciscendo, ein Vertrag ohne positiven In-
halt, eine Verpflichtung, vorläufig nichts zu thun, den bestehenden Zustand
nur nach gemeinsamer Abrede zu verändern. Von einer Zollgemeinschaft
zwischen den Vereinsstaaten, von irgend welchen ernsten Reformen war
gar nicht die Rede. Gleichwohl konnte der "neutrale" Verein dem preu-
ßischen Zollsysteme verderblich werden; er suchte der Handelspolitik Preu-
ßens ihre schärfste Angriffswaffe, die Durchfuhrzölle, aus der Hand zu
winden. Wenn es gelang, alle zwischen den preußischen Provinzen ein-
geklammerten Länder, insbesondere die Küstenstaaten, für den Verein zu
gewinnen, so nahm die gesammte Einfuhr von der See nach dem innern
Deutschland ihren Weg durch die Vereinslande, da die sächsischen Tran-
sitzölle weit niedriger standen als die preußischen. Schritt man darauf
zu den verabredeten "Retorsionen", wurde die Durchfuhr von Baiern nach
Preußen und von einer preußischen Provinz zur anderen mit hohen Zöllen
belastet, dann war Preußen einer reichen Einnahmequelle und seines wirk-
samsten Unterhandlungsmittels zugleich beraubt; nicht blos die Erweite-
rung des preußischen Zollsystems wurde verhindert, der Bestand des

Die Oberſchönaer Punctation.
Handelseinheit in aller Stille eingefädelt, harmlos gemüthlich wie eine
Carlowitz’ſche Familienangelegenheit. In den letzten Tagen des März 1828
trafen ſich der Herzog von Gotha, die beiden Carlowitze und Schweitzer
auf dem Carlowitz’ſchen Familiengute Oberſchöna — ſie Alle noch ohne
eine klare Vorſtellung von den ſchweren Folgen ihres Beginnens. Wir
Deutſchen ſind Gott ſei Dank durch unabweisbare Intereſſen, durch alle
Lebensgewohnheiten auf einander angewieſen; jeder Verſuch offener Feind-
ſeligkeit von Deutſchen gegen Deutſche erſcheint als eine Sünde wider
die Natur und bietet darum neben der Entrüſtung auch der Lachluſt ein
breites Ziel. In denſelben Tagen, da in Oberſchöna der Zollkrieg gegen
Preußen beſchloſſen wurde, verhandelte in Berlin der Weimariſche Bevoll-
mächtigte Thon wegen freundnachbarlicher Aufhebung der Geleitsgelder.
Mochte man den preußiſchen Staat bis in der Hölle tiefſte Gründe ver-
wünſchen, entbehren konnte man ihn nicht. Die in Oberſchöna abge-
ſchloſſene Punctation beſagte: Es ſoll ein Handelsverein geſchloſſen werden
zwiſchen Sachſen, Kurheſſen und Thüringen. Die Theilnehmer „werden
ſich bemühen den Beitritt der übrigen zwiſchen der preußiſchen und bairi-
ſchen Zolllinie gelegenen Lande zu erlangen.“ Sie verpflichten ſich „ein-
ſeitig keinem auswärtigen Zollſyſteme beizutreten, noch, ohne Zuſtimmung
des Vereins, mit einem Staate, in welchem ein ſolches Syſtem beſteht,
einen Handels- oder Zoll-Vertrag zu ſchließen.“ Sie wollen ihre gegen-
ſeitigen Unterthanen auf gleichem Fuß behandeln und (Art. 7) die Tran-
ſitabgaben im Verkehre zwiſchen den Vereinsſtaaten nicht über das Maß
der ſächſiſchen Tranſitzölle erhöhen. Sechs Monate nach der Conſtituirung
des Vereins ſoll über gemeinſame Handelsverträge und Retorſionen be-
rathen werden.

Es war ein pactum de paciscendo, ein Vertrag ohne poſitiven In-
halt, eine Verpflichtung, vorläufig nichts zu thun, den beſtehenden Zuſtand
nur nach gemeinſamer Abrede zu verändern. Von einer Zollgemeinſchaft
zwiſchen den Vereinsſtaaten, von irgend welchen ernſten Reformen war
gar nicht die Rede. Gleichwohl konnte der „neutrale“ Verein dem preu-
ßiſchen Zollſyſteme verderblich werden; er ſuchte der Handelspolitik Preu-
ßens ihre ſchärfſte Angriffswaffe, die Durchfuhrzölle, aus der Hand zu
winden. Wenn es gelang, alle zwiſchen den preußiſchen Provinzen ein-
geklammerten Länder, insbeſondere die Küſtenſtaaten, für den Verein zu
gewinnen, ſo nahm die geſammte Einfuhr von der See nach dem innern
Deutſchland ihren Weg durch die Vereinslande, da die ſächſiſchen Tran-
ſitzölle weit niedriger ſtanden als die preußiſchen. Schritt man darauf
zu den verabredeten „Retorſionen“, wurde die Durchfuhr von Baiern nach
Preußen und von einer preußiſchen Provinz zur anderen mit hohen Zöllen
belaſtet, dann war Preußen einer reichen Einnahmequelle und ſeines wirk-
ſamſten Unterhandlungsmittels zugleich beraubt; nicht blos die Erweite-
rung des preußiſchen Zollſyſtems wurde verhindert, der Beſtand des

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[651/0667] Die Oberſchönaer Punctation. Handelseinheit in aller Stille eingefädelt, harmlos gemüthlich wie eine Carlowitz’ſche Familienangelegenheit. In den letzten Tagen des März 1828 trafen ſich der Herzog von Gotha, die beiden Carlowitze und Schweitzer auf dem Carlowitz’ſchen Familiengute Oberſchöna — ſie Alle noch ohne eine klare Vorſtellung von den ſchweren Folgen ihres Beginnens. Wir Deutſchen ſind Gott ſei Dank durch unabweisbare Intereſſen, durch alle Lebensgewohnheiten auf einander angewieſen; jeder Verſuch offener Feind- ſeligkeit von Deutſchen gegen Deutſche erſcheint als eine Sünde wider die Natur und bietet darum neben der Entrüſtung auch der Lachluſt ein breites Ziel. In denſelben Tagen, da in Oberſchöna der Zollkrieg gegen Preußen beſchloſſen wurde, verhandelte in Berlin der Weimariſche Bevoll- mächtigte Thon wegen freundnachbarlicher Aufhebung der Geleitsgelder. Mochte man den preußiſchen Staat bis in der Hölle tiefſte Gründe ver- wünſchen, entbehren konnte man ihn nicht. Die in Oberſchöna abge- ſchloſſene Punctation beſagte: Es ſoll ein Handelsverein geſchloſſen werden zwiſchen Sachſen, Kurheſſen und Thüringen. Die Theilnehmer „werden ſich bemühen den Beitritt der übrigen zwiſchen der preußiſchen und bairi- ſchen Zolllinie gelegenen Lande zu erlangen.“ Sie verpflichten ſich „ein- ſeitig keinem auswärtigen Zollſyſteme beizutreten, noch, ohne Zuſtimmung des Vereins, mit einem Staate, in welchem ein ſolches Syſtem beſteht, einen Handels- oder Zoll-Vertrag zu ſchließen.“ Sie wollen ihre gegen- ſeitigen Unterthanen auf gleichem Fuß behandeln und (Art. 7) die Tran- ſitabgaben im Verkehre zwiſchen den Vereinsſtaaten nicht über das Maß der ſächſiſchen Tranſitzölle erhöhen. Sechs Monate nach der Conſtituirung des Vereins ſoll über gemeinſame Handelsverträge und Retorſionen be- rathen werden. Es war ein pactum de paciscendo, ein Vertrag ohne poſitiven In- halt, eine Verpflichtung, vorläufig nichts zu thun, den beſtehenden Zuſtand nur nach gemeinſamer Abrede zu verändern. Von einer Zollgemeinſchaft zwiſchen den Vereinsſtaaten, von irgend welchen ernſten Reformen war gar nicht die Rede. Gleichwohl konnte der „neutrale“ Verein dem preu- ßiſchen Zollſyſteme verderblich werden; er ſuchte der Handelspolitik Preu- ßens ihre ſchärfſte Angriffswaffe, die Durchfuhrzölle, aus der Hand zu winden. Wenn es gelang, alle zwiſchen den preußiſchen Provinzen ein- geklammerten Länder, insbeſondere die Küſtenſtaaten, für den Verein zu gewinnen, ſo nahm die geſammte Einfuhr von der See nach dem innern Deutſchland ihren Weg durch die Vereinslande, da die ſächſiſchen Tran- ſitzölle weit niedriger ſtanden als die preußiſchen. Schritt man darauf zu den verabredeten „Retorſionen“, wurde die Durchfuhr von Baiern nach Preußen und von einer preußiſchen Provinz zur anderen mit hohen Zöllen belaſtet, dann war Preußen einer reichen Einnahmequelle und ſeines wirk- ſamſten Unterhandlungsmittels zugleich beraubt; nicht blos die Erweite- rung des preußiſchen Zollſyſtems wurde verhindert, der Beſtand des

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 651. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/667>, abgerufen am 25.11.2024.