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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 7. Altständisches Stillleben in Norddeutschland.
ihres unverbildeten Gemüthes den teutonischen Schwärmern an, Binzer
und Lornsen standen unter den Führern der Burschenschaft.

Der Widerstand gegen die dänischen Uebergriffe ging zunächst von der
Kieler Universität aus. Zum zweiten male seit der Stiftung des Deut-
schen Bundes trat das Professorenthum auf die politische Bühne; doch
während die Jenenser Gelehrten in ihrer Isis und Nemesis neben manchen
guten Gedanken auch viele Thorheit zu Tage förderten, war der politische
Kampf der Kieler Professoren durchaus berechtigt und heilsam. Sie weckten
dem schlummernden Volke der deutschen Nordmark das helle Bewußtsein
seines Volksthums; sie gaben, indem sie das historische Recht vertheidigten,
der nationalen Bewegung in Schleswigholstein jenen Charakter besonnener
Mäßigung, der sie so auffällig von den anderen nationalen Erhebungen des
Jahrhunderts unterscheidet. Das Haupt dieser streitbaren Gelehrten war
Dahlmann. In Wismar als schwedischer Unterthan geboren hatte er
den Unsegen der Fremdherrschaft von Kindesbeinen an kennen gelernt und
hoffte schon damals, daß ganz Schleswigholstein dereinst in den Deutschen
Bund eintreten werde. Zugleich wünschte er, dies geliebte Land, das ihm
theurer war als seine Heimath, möge den Deutschen vorangehen mit dem
Beispiele einer wohlgeordneten, auf dem festen Grunde des historischen
Rechtes stehenden Repräsentativverfassung, wie er sie selber soeben in
seinem "Worte über Verfassung" geschildert hatte; denn nirgends sei der
Boden so günstig für ein solches, dem englischen verwandtes Staatswesen,
wie bei dem Sachsenstamme, "dem volksfreiesten von Altersher in Deutsch-
land." Aber nicht von fern dachte er an eine Trennung von Dänemark.
Die Verschiedenheit des Erbfolgerechts in den Theilen des dänischen Ge-
sammtstaates hatte zur Zeit noch kein deutscher Gelehrter ernstlich er-
forscht; die Frage schien ohne praktischen Werth, da das königliche Haus
noch genug männliche Nachkommen besaß. Nun gar eine gewaltsame Los-
reißung wäre diesem abgesagten Feinde der Revolution ein Gräuel ge-
wesen. Gemessen und ernsthaft in Allem, eine erwägsame niederdeutsche
Natur, ein makelloser, der Eitelkeit wie der Menschenfurcht gleich unzu-
gänglicher Charakter, erschien er den Freunden schon jetzt in seinen jungen
Jahren wie ein treuer Eckart, und nur durch die ungeheuere Rechtsver-
wirrung in den norddeutschen Kleinstaaten ward es möglich, daß dieser
Mann zweimal, in Schleswigholstein und Hannover, als ein Revolutionär
verrufen werden konnte. Was er für Recht erkannt hatte, das verthei-
digte er mit dem Freimuthe des guten Gewissens, mit einer markigen,
eindringlichen Beredsamkeit, die ihre Wirkung nie verfehlte, weil sie aus
den Tiefen eines gesammelten Gemüthes aufstieg.

Nicht ganz ohne Grund höhnten späterhin die Dänen, Dahlmann
habe die schleswigholsteinische Frage erfunden; denn sein Wort über Ver-
fassung gab den Gebildeten des Landes zuerst wieder ein Verständniß für
die halbvergessene Verfassungsgeschichte der Heimath. Dann veröffent-

III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
ihres unverbildeten Gemüthes den teutoniſchen Schwärmern an, Binzer
und Lornſen ſtanden unter den Führern der Burſchenſchaft.

Der Widerſtand gegen die däniſchen Uebergriffe ging zunächſt von der
Kieler Univerſität aus. Zum zweiten male ſeit der Stiftung des Deut-
ſchen Bundes trat das Profeſſorenthum auf die politiſche Bühne; doch
während die Jenenſer Gelehrten in ihrer Iſis und Nemeſis neben manchen
guten Gedanken auch viele Thorheit zu Tage förderten, war der politiſche
Kampf der Kieler Profeſſoren durchaus berechtigt und heilſam. Sie weckten
dem ſchlummernden Volke der deutſchen Nordmark das helle Bewußtſein
ſeines Volksthums; ſie gaben, indem ſie das hiſtoriſche Recht vertheidigten,
der nationalen Bewegung in Schleswigholſtein jenen Charakter beſonnener
Mäßigung, der ſie ſo auffällig von den anderen nationalen Erhebungen des
Jahrhunderts unterſcheidet. Das Haupt dieſer ſtreitbaren Gelehrten war
Dahlmann. In Wismar als ſchwediſcher Unterthan geboren hatte er
den Unſegen der Fremdherrſchaft von Kindesbeinen an kennen gelernt und
hoffte ſchon damals, daß ganz Schleswigholſtein dereinſt in den Deutſchen
Bund eintreten werde. Zugleich wünſchte er, dies geliebte Land, das ihm
theurer war als ſeine Heimath, möge den Deutſchen vorangehen mit dem
Beiſpiele einer wohlgeordneten, auf dem feſten Grunde des hiſtoriſchen
Rechtes ſtehenden Repräſentativverfaſſung, wie er ſie ſelber ſoeben in
ſeinem „Worte über Verfaſſung“ geſchildert hatte; denn nirgends ſei der
Boden ſo günſtig für ein ſolches, dem engliſchen verwandtes Staatsweſen,
wie bei dem Sachſenſtamme, „dem volksfreieſten von Altersher in Deutſch-
land.“ Aber nicht von fern dachte er an eine Trennung von Dänemark.
Die Verſchiedenheit des Erbfolgerechts in den Theilen des däniſchen Ge-
ſammtſtaates hatte zur Zeit noch kein deutſcher Gelehrter ernſtlich er-
forſcht; die Frage ſchien ohne praktiſchen Werth, da das königliche Haus
noch genug männliche Nachkommen beſaß. Nun gar eine gewaltſame Los-
reißung wäre dieſem abgeſagten Feinde der Revolution ein Gräuel ge-
weſen. Gemeſſen und ernſthaft in Allem, eine erwägſame niederdeutſche
Natur, ein makelloſer, der Eitelkeit wie der Menſchenfurcht gleich unzu-
gänglicher Charakter, erſchien er den Freunden ſchon jetzt in ſeinen jungen
Jahren wie ein treuer Eckart, und nur durch die ungeheuere Rechtsver-
wirrung in den norddeutſchen Kleinſtaaten ward es möglich, daß dieſer
Mann zweimal, in Schleswigholſtein und Hannover, als ein Revolutionär
verrufen werden konnte. Was er für Recht erkannt hatte, das verthei-
digte er mit dem Freimuthe des guten Gewiſſens, mit einer markigen,
eindringlichen Beredſamkeit, die ihre Wirkung nie verfehlte, weil ſie aus
den Tiefen eines geſammelten Gemüthes aufſtieg.

Nicht ganz ohne Grund höhnten ſpäterhin die Dänen, Dahlmann
habe die ſchleswigholſteiniſche Frage erfunden; denn ſein Wort über Ver-
faſſung gab den Gebildeten des Landes zuerſt wieder ein Verſtändniß für
die halbvergeſſene Verfaſſungsgeſchichte der Heimath. Dann veröffent-

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[594/0610] III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland. ihres unverbildeten Gemüthes den teutoniſchen Schwärmern an, Binzer und Lornſen ſtanden unter den Führern der Burſchenſchaft. Der Widerſtand gegen die däniſchen Uebergriffe ging zunächſt von der Kieler Univerſität aus. Zum zweiten male ſeit der Stiftung des Deut- ſchen Bundes trat das Profeſſorenthum auf die politiſche Bühne; doch während die Jenenſer Gelehrten in ihrer Iſis und Nemeſis neben manchen guten Gedanken auch viele Thorheit zu Tage förderten, war der politiſche Kampf der Kieler Profeſſoren durchaus berechtigt und heilſam. Sie weckten dem ſchlummernden Volke der deutſchen Nordmark das helle Bewußtſein ſeines Volksthums; ſie gaben, indem ſie das hiſtoriſche Recht vertheidigten, der nationalen Bewegung in Schleswigholſtein jenen Charakter beſonnener Mäßigung, der ſie ſo auffällig von den anderen nationalen Erhebungen des Jahrhunderts unterſcheidet. Das Haupt dieſer ſtreitbaren Gelehrten war Dahlmann. In Wismar als ſchwediſcher Unterthan geboren hatte er den Unſegen der Fremdherrſchaft von Kindesbeinen an kennen gelernt und hoffte ſchon damals, daß ganz Schleswigholſtein dereinſt in den Deutſchen Bund eintreten werde. Zugleich wünſchte er, dies geliebte Land, das ihm theurer war als ſeine Heimath, möge den Deutſchen vorangehen mit dem Beiſpiele einer wohlgeordneten, auf dem feſten Grunde des hiſtoriſchen Rechtes ſtehenden Repräſentativverfaſſung, wie er ſie ſelber ſoeben in ſeinem „Worte über Verfaſſung“ geſchildert hatte; denn nirgends ſei der Boden ſo günſtig für ein ſolches, dem engliſchen verwandtes Staatsweſen, wie bei dem Sachſenſtamme, „dem volksfreieſten von Altersher in Deutſch- land.“ Aber nicht von fern dachte er an eine Trennung von Dänemark. Die Verſchiedenheit des Erbfolgerechts in den Theilen des däniſchen Ge- ſammtſtaates hatte zur Zeit noch kein deutſcher Gelehrter ernſtlich er- forſcht; die Frage ſchien ohne praktiſchen Werth, da das königliche Haus noch genug männliche Nachkommen beſaß. Nun gar eine gewaltſame Los- reißung wäre dieſem abgeſagten Feinde der Revolution ein Gräuel ge- weſen. Gemeſſen und ernſthaft in Allem, eine erwägſame niederdeutſche Natur, ein makelloſer, der Eitelkeit wie der Menſchenfurcht gleich unzu- gänglicher Charakter, erſchien er den Freunden ſchon jetzt in ſeinen jungen Jahren wie ein treuer Eckart, und nur durch die ungeheuere Rechtsver- wirrung in den norddeutſchen Kleinſtaaten ward es möglich, daß dieſer Mann zweimal, in Schleswigholſtein und Hannover, als ein Revolutionär verrufen werden konnte. Was er für Recht erkannt hatte, das verthei- digte er mit dem Freimuthe des guten Gewiſſens, mit einer markigen, eindringlichen Beredſamkeit, die ihre Wirkung nie verfehlte, weil ſie aus den Tiefen eines geſammelten Gemüthes aufſtieg. Nicht ganz ohne Grund höhnten ſpäterhin die Dänen, Dahlmann habe die ſchleswigholſteiniſche Frage erfunden; denn ſein Wort über Ver- faſſung gab den Gebildeten des Landes zuerſt wieder ein Verſtändniß für die halbvergeſſene Verfaſſungsgeſchichte der Heimath. Dann veröffent-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 594. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/610>, abgerufen am 23.11.2024.