Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

Bild:
<< vorherige Seite

III. 7. Altständisches Stillleben in Norddeutschland.
kriege, da der Ertrag der Zölle sich vervierfacht, die Häusermiethe sich ver-
achtfacht hatte und die Zahl der eingelaufenen Schiffe in acht Jahren
von 1504 auf 1960 gestiegen war. Zudem war Hamburg eine Stadt
des Genusses -- in scharfem Gegensatze zu dem ehrbar nüchternen Bremen.
Die Reize seiner Austerkeller, die Schaubuden und Tanzsäle des Ham-
burger Bergs lockten weither aus Niederdeutschland Vergnügungslustige
herbei; der reichsstädtische Freiheitsstolz seiner Bürger war von jeher mit
einem Gefühle angenehmer Sättigung unzertrennlich verbunden. Ein Lied,
das in den glücklichen Zeiten der Neutralität viel gesungen wurde, rühmte:

Wir sind ganz frei! Wir klirren nicht mit Ketten
Des Elends und der Sklaverei.
Wir ruhen sanft auf federreichen Betten
Und achten nicht der Tyrannei.
Wir sind ganz frei!

Durch die Heimsuchungen der Fremdherrschaft wurde dies selbstgenüg-
same Bürgerthum dann sehr fühlbar an sein großes Vaterland erinnert.
Bei der Befreiung im Frühjahr 1813 regte sich mächtig das deutsche Blut,
der wackere Mettlerkamp und die hanseatische Legion schlugen sich nach
alter Hansenart, aber die Schlaffheit des kaufmännischen Regiments war
den Anforderungen des kriegerischen Zeitalters nicht gewachsen. In zehn
kostbaren Wochen that der wiederhergestellte Senat sehr wenig für die
Vertheidigung des Platzes, die befreite Stadt gerieth noch einmal unter
das französische Joch, und mit Recht sagte Niebuhr, selber ein Holste:
mit dem tiefen Ernst der preußischen Anstrengungen dürfe die Hamburger
Erhebung nicht verglichen werden. Unbarmherzig hielt er in einem schönen
Aufsatze des Preußischen Correspondenten dieser staatlosen Bürgerherr-
lichkeit den Spiegel vor: "Schon längst hatte Hamburg wie alle seine
Schwestern kein anderes als ein gefristetes Leben ohne alle politischen
Regungen gehabt. Solche Bürgerschaften waren mit dem Glücke des
Schilfes sehr zufrieden und sahen es als ein Vorrecht an sich vor dem
Winde zu beugen. Männlichkeit besteht nur bei den Bürgern eines Staates
voll freien Lebens, der als Gesammtheit mit eigener Kraft sich behaupten
kann." Er wagte die dem Particularismus so widerwärtige Wahrheit
auszusprechen, Bristol und Liverpool würden als abgesonderte Städte tief
unter dem stehen, was sie jetzt als freie Municipalstädte seien, und ver-
hehlte nicht seine Herzensmeinung, daß Hamburg und Schleswigholstein
nur unter Preußens Herrschaft zur vollen Entwicklung ihrer natürlichen
Kräfte gelangen könnten.

Die kühnen Gedanken des Historikers eilten der Zeit weit voraus.
Die freie Stadt wurde mitsammt ihrem alten Gebiete wiederhergestellt,
und jeder Hamburger pries diese Wendung, obgleich sich der Unsegen
der deutschen Vielstaaterei grade hier mit Händen greifen ließ. Noch
abenteuerlicher fast als in der Frankfurter Gegend liefen die Landesgrenzen

III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
kriege, da der Ertrag der Zölle ſich vervierfacht, die Häuſermiethe ſich ver-
achtfacht hatte und die Zahl der eingelaufenen Schiffe in acht Jahren
von 1504 auf 1960 geſtiegen war. Zudem war Hamburg eine Stadt
des Genuſſes — in ſcharfem Gegenſatze zu dem ehrbar nüchternen Bremen.
Die Reize ſeiner Auſterkeller, die Schaubuden und Tanzſäle des Ham-
burger Bergs lockten weither aus Niederdeutſchland Vergnügungsluſtige
herbei; der reichsſtädtiſche Freiheitsſtolz ſeiner Bürger war von jeher mit
einem Gefühle angenehmer Sättigung unzertrennlich verbunden. Ein Lied,
das in den glücklichen Zeiten der Neutralität viel geſungen wurde, rühmte:

Wir ſind ganz frei! Wir klirren nicht mit Ketten
Des Elends und der Sklaverei.
Wir ruhen ſanft auf federreichen Betten
Und achten nicht der Tyrannei.
Wir ſind ganz frei!

Durch die Heimſuchungen der Fremdherrſchaft wurde dies ſelbſtgenüg-
ſame Bürgerthum dann ſehr fühlbar an ſein großes Vaterland erinnert.
Bei der Befreiung im Frühjahr 1813 regte ſich mächtig das deutſche Blut,
der wackere Mettlerkamp und die hanſeatiſche Legion ſchlugen ſich nach
alter Hanſenart, aber die Schlaffheit des kaufmänniſchen Regiments war
den Anforderungen des kriegeriſchen Zeitalters nicht gewachſen. In zehn
koſtbaren Wochen that der wiederhergeſtellte Senat ſehr wenig für die
Vertheidigung des Platzes, die befreite Stadt gerieth noch einmal unter
das franzöſiſche Joch, und mit Recht ſagte Niebuhr, ſelber ein Holſte:
mit dem tiefen Ernſt der preußiſchen Anſtrengungen dürfe die Hamburger
Erhebung nicht verglichen werden. Unbarmherzig hielt er in einem ſchönen
Aufſatze des Preußiſchen Correſpondenten dieſer ſtaatloſen Bürgerherr-
lichkeit den Spiegel vor: „Schon längſt hatte Hamburg wie alle ſeine
Schweſtern kein anderes als ein gefriſtetes Leben ohne alle politiſchen
Regungen gehabt. Solche Bürgerſchaften waren mit dem Glücke des
Schilfes ſehr zufrieden und ſahen es als ein Vorrecht an ſich vor dem
Winde zu beugen. Männlichkeit beſteht nur bei den Bürgern eines Staates
voll freien Lebens, der als Geſammtheit mit eigener Kraft ſich behaupten
kann.“ Er wagte die dem Particularismus ſo widerwärtige Wahrheit
auszuſprechen, Briſtol und Liverpool würden als abgeſonderte Städte tief
unter dem ſtehen, was ſie jetzt als freie Municipalſtädte ſeien, und ver-
hehlte nicht ſeine Herzensmeinung, daß Hamburg und Schleswigholſtein
nur unter Preußens Herrſchaft zur vollen Entwicklung ihrer natürlichen
Kräfte gelangen könnten.

Die kühnen Gedanken des Hiſtorikers eilten der Zeit weit voraus.
Die freie Stadt wurde mitſammt ihrem alten Gebiete wiederhergeſtellt,
und jeder Hamburger pries dieſe Wendung, obgleich ſich der Unſegen
der deutſchen Vielſtaaterei grade hier mit Händen greifen ließ. Noch
abenteuerlicher faſt als in der Frankfurter Gegend liefen die Landesgrenzen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0598" n="582"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">III.</hi> 7. Alt&#x017F;tändi&#x017F;ches Stillleben in Norddeut&#x017F;chland.</fw><lb/>
kriege, da der Ertrag der Zölle &#x017F;ich vervierfacht, die Häu&#x017F;ermiethe &#x017F;ich ver-<lb/>
achtfacht hatte und die Zahl der eingelaufenen Schiffe in acht Jahren<lb/>
von 1504 auf 1960 ge&#x017F;tiegen war. Zudem war Hamburg eine Stadt<lb/>
des Genu&#x017F;&#x017F;es &#x2014; in &#x017F;charfem Gegen&#x017F;atze zu dem ehrbar nüchternen Bremen.<lb/>
Die Reize &#x017F;einer Au&#x017F;terkeller, die Schaubuden und Tanz&#x017F;äle des Ham-<lb/>
burger Bergs lockten weither aus Niederdeut&#x017F;chland Vergnügungslu&#x017F;tige<lb/>
herbei; der reichs&#x017F;tädti&#x017F;che Freiheits&#x017F;tolz &#x017F;einer Bürger war von jeher mit<lb/>
einem Gefühle angenehmer Sättigung unzertrennlich verbunden. Ein Lied,<lb/>
das in den glücklichen Zeiten der Neutralität viel ge&#x017F;ungen wurde, rühmte:</p><lb/>
          <lg type="poem">
            <l>Wir &#x017F;ind ganz frei! Wir klirren nicht mit Ketten</l><lb/>
            <l>Des Elends und der Sklaverei.</l><lb/>
            <l>Wir ruhen &#x017F;anft auf federreichen Betten</l><lb/>
            <l>Und achten nicht der Tyrannei.</l><lb/>
            <l>Wir &#x017F;ind ganz frei!</l>
          </lg><lb/>
          <p>Durch die Heim&#x017F;uchungen der Fremdherr&#x017F;chaft wurde dies &#x017F;elb&#x017F;tgenüg-<lb/>
&#x017F;ame Bürgerthum dann &#x017F;ehr fühlbar an &#x017F;ein großes Vaterland erinnert.<lb/>
Bei der Befreiung im Frühjahr 1813 regte &#x017F;ich mächtig das deut&#x017F;che Blut,<lb/>
der wackere Mettlerkamp und die han&#x017F;eati&#x017F;che Legion &#x017F;chlugen &#x017F;ich nach<lb/>
alter Han&#x017F;enart, aber die Schlaffheit des kaufmänni&#x017F;chen Regiments war<lb/>
den Anforderungen des kriegeri&#x017F;chen Zeitalters nicht gewach&#x017F;en. In zehn<lb/>
ko&#x017F;tbaren Wochen that der wiederherge&#x017F;tellte Senat &#x017F;ehr wenig für die<lb/>
Vertheidigung des Platzes, die befreite Stadt gerieth noch einmal unter<lb/>
das franzö&#x017F;i&#x017F;che Joch, und mit Recht &#x017F;agte Niebuhr, &#x017F;elber ein Hol&#x017F;te:<lb/>
mit dem tiefen Ern&#x017F;t der preußi&#x017F;chen An&#x017F;trengungen dürfe die Hamburger<lb/>
Erhebung nicht verglichen werden. Unbarmherzig hielt er in einem &#x017F;chönen<lb/>
Auf&#x017F;atze des Preußi&#x017F;chen Corre&#x017F;pondenten die&#x017F;er &#x017F;taatlo&#x017F;en Bürgerherr-<lb/>
lichkeit den Spiegel vor: &#x201E;Schon läng&#x017F;t hatte Hamburg wie alle &#x017F;eine<lb/>
Schwe&#x017F;tern kein anderes als ein gefri&#x017F;tetes Leben ohne alle politi&#x017F;chen<lb/>
Regungen gehabt. Solche Bürger&#x017F;chaften waren mit dem Glücke des<lb/>
Schilfes &#x017F;ehr zufrieden und &#x017F;ahen es als ein Vorrecht an &#x017F;ich vor dem<lb/>
Winde zu beugen. Männlichkeit be&#x017F;teht nur bei den Bürgern eines Staates<lb/>
voll freien Lebens, der als Ge&#x017F;ammtheit mit eigener Kraft &#x017F;ich behaupten<lb/>
kann.&#x201C; Er wagte die dem Particularismus &#x017F;o widerwärtige Wahrheit<lb/>
auszu&#x017F;prechen, Bri&#x017F;tol und Liverpool würden als abge&#x017F;onderte Städte tief<lb/>
unter dem &#x017F;tehen, was &#x017F;ie jetzt als freie Municipal&#x017F;tädte &#x017F;eien, und ver-<lb/>
hehlte nicht &#x017F;eine Herzensmeinung, daß Hamburg und Schleswighol&#x017F;tein<lb/>
nur unter Preußens Herr&#x017F;chaft zur vollen Entwicklung ihrer natürlichen<lb/>
Kräfte gelangen könnten.</p><lb/>
          <p>Die kühnen Gedanken des Hi&#x017F;torikers eilten der Zeit weit voraus.<lb/>
Die freie Stadt wurde mit&#x017F;ammt ihrem alten Gebiete wiederherge&#x017F;tellt,<lb/>
und jeder Hamburger pries die&#x017F;e Wendung, obgleich &#x017F;ich der Un&#x017F;egen<lb/>
der deut&#x017F;chen Viel&#x017F;taaterei grade hier mit Händen greifen ließ. Noch<lb/>
abenteuerlicher fa&#x017F;t als in der Frankfurter Gegend liefen die Landesgrenzen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[582/0598] III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland. kriege, da der Ertrag der Zölle ſich vervierfacht, die Häuſermiethe ſich ver- achtfacht hatte und die Zahl der eingelaufenen Schiffe in acht Jahren von 1504 auf 1960 geſtiegen war. Zudem war Hamburg eine Stadt des Genuſſes — in ſcharfem Gegenſatze zu dem ehrbar nüchternen Bremen. Die Reize ſeiner Auſterkeller, die Schaubuden und Tanzſäle des Ham- burger Bergs lockten weither aus Niederdeutſchland Vergnügungsluſtige herbei; der reichsſtädtiſche Freiheitsſtolz ſeiner Bürger war von jeher mit einem Gefühle angenehmer Sättigung unzertrennlich verbunden. Ein Lied, das in den glücklichen Zeiten der Neutralität viel geſungen wurde, rühmte: Wir ſind ganz frei! Wir klirren nicht mit Ketten Des Elends und der Sklaverei. Wir ruhen ſanft auf federreichen Betten Und achten nicht der Tyrannei. Wir ſind ganz frei! Durch die Heimſuchungen der Fremdherrſchaft wurde dies ſelbſtgenüg- ſame Bürgerthum dann ſehr fühlbar an ſein großes Vaterland erinnert. Bei der Befreiung im Frühjahr 1813 regte ſich mächtig das deutſche Blut, der wackere Mettlerkamp und die hanſeatiſche Legion ſchlugen ſich nach alter Hanſenart, aber die Schlaffheit des kaufmänniſchen Regiments war den Anforderungen des kriegeriſchen Zeitalters nicht gewachſen. In zehn koſtbaren Wochen that der wiederhergeſtellte Senat ſehr wenig für die Vertheidigung des Platzes, die befreite Stadt gerieth noch einmal unter das franzöſiſche Joch, und mit Recht ſagte Niebuhr, ſelber ein Holſte: mit dem tiefen Ernſt der preußiſchen Anſtrengungen dürfe die Hamburger Erhebung nicht verglichen werden. Unbarmherzig hielt er in einem ſchönen Aufſatze des Preußiſchen Correſpondenten dieſer ſtaatloſen Bürgerherr- lichkeit den Spiegel vor: „Schon längſt hatte Hamburg wie alle ſeine Schweſtern kein anderes als ein gefriſtetes Leben ohne alle politiſchen Regungen gehabt. Solche Bürgerſchaften waren mit dem Glücke des Schilfes ſehr zufrieden und ſahen es als ein Vorrecht an ſich vor dem Winde zu beugen. Männlichkeit beſteht nur bei den Bürgern eines Staates voll freien Lebens, der als Geſammtheit mit eigener Kraft ſich behaupten kann.“ Er wagte die dem Particularismus ſo widerwärtige Wahrheit auszuſprechen, Briſtol und Liverpool würden als abgeſonderte Städte tief unter dem ſtehen, was ſie jetzt als freie Municipalſtädte ſeien, und ver- hehlte nicht ſeine Herzensmeinung, daß Hamburg und Schleswigholſtein nur unter Preußens Herrſchaft zur vollen Entwicklung ihrer natürlichen Kräfte gelangen könnten. Die kühnen Gedanken des Hiſtorikers eilten der Zeit weit voraus. Die freie Stadt wurde mitſammt ihrem alten Gebiete wiederhergeſtellt, und jeder Hamburger pries dieſe Wendung, obgleich ſich der Unſegen der deutſchen Vielſtaaterei grade hier mit Händen greifen ließ. Noch abenteuerlicher faſt als in der Frankfurter Gegend liefen die Landesgrenzen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/598
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 582. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/598>, abgerufen am 17.05.2024.