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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 7. Altständisches Stillleben in Norddeutschland.
der katholischen Hofkirche die Gläubigen einlud zu den üblichen Gebeten
um die Ausbreitung der katholischen Kirche und das Aufhören der Ketzerei,
da brach rings im Lande der Unwille los. Niemand bemerkte, daß in
allen Kirchen der katholischen Christenheit genau dieselbe altherkömmliche
Einladung zu lesen stand; Niemand bedachte, daß die Protestanten ihren
Gott doch auch um die Ausbreitung des geläuterten evangelischen Glaubens
zu bitten pflegten. Eine Adresse von Dresdener Bürgern fragte ent-
rüstet, wie dergleichen möglich sei "in einer deutschen Provinz, von wel-
cher das Licht der Kirchenverbesserung zuerst ausgegangen."*) Auf den
Kanzeln wurde so leidenschaftlich gezetert, daß der König endlich beiden
Theilen Schweigen gebieten mußte. Neuer Lärm unter den Lutheranern,
als die Krone (1827) gegen den Rath der Stände ein Mandat veröffent-
lichte, das für die Pfarrsprengel der Katholiken und die Einrichtung der
Seelsorge einige ganz unverfängliche Vorschriften gab. Ein anderes Mandat
stellte die religiöse Erziehung der Kinder gemischter Ehen gänzlich der freien
Verabredung der Eltern anheim, und auch dies offenbar wohlgemeinte Gesetz
stachelte die lutherische Unduldsamkeit zu heftigen Angriffen auf. Allge-
mein glaubte man, der Marcolinische Palast sei für ein Jesuitencolleg
bestimmt. Eine Menge ähnlicher Märchen war im Umlauf, und doch stand
im Grunde nur die eine Thatsache fest, daß der König und Graf Ein-
siedel den Bischof Mauermann ihres besonderen Vertrauens würdigten.

Die Unzufriedenheit nahm in der Stille dermaßen überhand, daß
sogar die in Sachsen unerhörte Erscheinung eines Oppositionsblattes mög-
lich wurde. Die "Biene" des Zwickauer Theologen Richter war nicht
eigentlich eine politische Zeitschrift -- denn die Politik blieb durch könig-
liches Privileg allein der vom Staate verpachteten Leipziger Zeitung vor-
behalten -- sondern ein Sprechsaal für örtliche Angelegenheiten. Da
schütteten nachdenkliche Philister dem "lieben Bienchen" und seinem biederen
Bienenvater ihren Kummer aus über den Pennalismus der Fürstenschulen,
über das Ungeziefer im Akademischen Carcer, über die gemeingefährliche
Lage des Leipziger Schießgrabens, über die Möpse der lustwandelnden
Dresdener Damen. Aber neben solchen läppischen Beschwerden standen
auch ernste Klagen des belasteten Landvolks -- zumal aus dem Schön-
burgischen, wo der Bauer vom Getreide den Zehnten, vom Jungvieh den
Siebenten an den Grafen entrichtete -- und scharfe Rügen wider die
Mißbräuche der städtischen Verwaltung, nicht blos gegen den Bierzwang
und das schändliche Dünnbier der Rathskeller, sondern gegen das ganze
System des unverantwortlichen Stadtregiments. Der Ton der Artikel
war zuweilen recht erregt; man hörte heraus, daß der neue König nicht
mehr auf unbedingte Ehrerbietung rechnen konnte. Mit Angst blickten die
Männer der guten alten Zeit auf dies streitbare Thierchen, das "überall

*) Eingabe von Dresdener Bürgern an den Rath, Dec. 1824.

III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
der katholiſchen Hofkirche die Gläubigen einlud zu den üblichen Gebeten
um die Ausbreitung der katholiſchen Kirche und das Aufhören der Ketzerei,
da brach rings im Lande der Unwille los. Niemand bemerkte, daß in
allen Kirchen der katholiſchen Chriſtenheit genau dieſelbe altherkömmliche
Einladung zu leſen ſtand; Niemand bedachte, daß die Proteſtanten ihren
Gott doch auch um die Ausbreitung des geläuterten evangeliſchen Glaubens
zu bitten pflegten. Eine Adreſſe von Dresdener Bürgern fragte ent-
rüſtet, wie dergleichen möglich ſei „in einer deutſchen Provinz, von wel-
cher das Licht der Kirchenverbeſſerung zuerſt ausgegangen.“*) Auf den
Kanzeln wurde ſo leidenſchaftlich gezetert, daß der König endlich beiden
Theilen Schweigen gebieten mußte. Neuer Lärm unter den Lutheranern,
als die Krone (1827) gegen den Rath der Stände ein Mandat veröffent-
lichte, das für die Pfarrſprengel der Katholiken und die Einrichtung der
Seelſorge einige ganz unverfängliche Vorſchriften gab. Ein anderes Mandat
ſtellte die religiöſe Erziehung der Kinder gemiſchter Ehen gänzlich der freien
Verabredung der Eltern anheim, und auch dies offenbar wohlgemeinte Geſetz
ſtachelte die lutheriſche Unduldſamkeit zu heftigen Angriffen auf. Allge-
mein glaubte man, der Marcoliniſche Palaſt ſei für ein Jeſuitencolleg
beſtimmt. Eine Menge ähnlicher Märchen war im Umlauf, und doch ſtand
im Grunde nur die eine Thatſache feſt, daß der König und Graf Ein-
ſiedel den Biſchof Mauermann ihres beſonderen Vertrauens würdigten.

Die Unzufriedenheit nahm in der Stille dermaßen überhand, daß
ſogar die in Sachſen unerhörte Erſcheinung eines Oppoſitionsblattes mög-
lich wurde. Die „Biene“ des Zwickauer Theologen Richter war nicht
eigentlich eine politiſche Zeitſchrift — denn die Politik blieb durch könig-
liches Privileg allein der vom Staate verpachteten Leipziger Zeitung vor-
behalten — ſondern ein Sprechſaal für örtliche Angelegenheiten. Da
ſchütteten nachdenkliche Philiſter dem „lieben Bienchen“ und ſeinem biederen
Bienenvater ihren Kummer aus über den Pennalismus der Fürſtenſchulen,
über das Ungeziefer im Akademiſchen Carcer, über die gemeingefährliche
Lage des Leipziger Schießgrabens, über die Möpſe der luſtwandelnden
Dresdener Damen. Aber neben ſolchen läppiſchen Beſchwerden ſtanden
auch ernſte Klagen des belaſteten Landvolks — zumal aus dem Schön-
burgiſchen, wo der Bauer vom Getreide den Zehnten, vom Jungvieh den
Siebenten an den Grafen entrichtete — und ſcharfe Rügen wider die
Mißbräuche der ſtädtiſchen Verwaltung, nicht blos gegen den Bierzwang
und das ſchändliche Dünnbier der Rathskeller, ſondern gegen das ganze
Syſtem des unverantwortlichen Stadtregiments. Der Ton der Artikel
war zuweilen recht erregt; man hörte heraus, daß der neue König nicht
mehr auf unbedingte Ehrerbietung rechnen konnte. Mit Angſt blickten die
Männer der guten alten Zeit auf dies ſtreitbare Thierchen, das „überall

*) Eingabe von Dresdener Bürgern an den Rath, Dec. 1824.
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[516/0532] III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland. der katholiſchen Hofkirche die Gläubigen einlud zu den üblichen Gebeten um die Ausbreitung der katholiſchen Kirche und das Aufhören der Ketzerei, da brach rings im Lande der Unwille los. Niemand bemerkte, daß in allen Kirchen der katholiſchen Chriſtenheit genau dieſelbe altherkömmliche Einladung zu leſen ſtand; Niemand bedachte, daß die Proteſtanten ihren Gott doch auch um die Ausbreitung des geläuterten evangeliſchen Glaubens zu bitten pflegten. Eine Adreſſe von Dresdener Bürgern fragte ent- rüſtet, wie dergleichen möglich ſei „in einer deutſchen Provinz, von wel- cher das Licht der Kirchenverbeſſerung zuerſt ausgegangen.“ *) Auf den Kanzeln wurde ſo leidenſchaftlich gezetert, daß der König endlich beiden Theilen Schweigen gebieten mußte. Neuer Lärm unter den Lutheranern, als die Krone (1827) gegen den Rath der Stände ein Mandat veröffent- lichte, das für die Pfarrſprengel der Katholiken und die Einrichtung der Seelſorge einige ganz unverfängliche Vorſchriften gab. Ein anderes Mandat ſtellte die religiöſe Erziehung der Kinder gemiſchter Ehen gänzlich der freien Verabredung der Eltern anheim, und auch dies offenbar wohlgemeinte Geſetz ſtachelte die lutheriſche Unduldſamkeit zu heftigen Angriffen auf. Allge- mein glaubte man, der Marcoliniſche Palaſt ſei für ein Jeſuitencolleg beſtimmt. Eine Menge ähnlicher Märchen war im Umlauf, und doch ſtand im Grunde nur die eine Thatſache feſt, daß der König und Graf Ein- ſiedel den Biſchof Mauermann ihres beſonderen Vertrauens würdigten. Die Unzufriedenheit nahm in der Stille dermaßen überhand, daß ſogar die in Sachſen unerhörte Erſcheinung eines Oppoſitionsblattes mög- lich wurde. Die „Biene“ des Zwickauer Theologen Richter war nicht eigentlich eine politiſche Zeitſchrift — denn die Politik blieb durch könig- liches Privileg allein der vom Staate verpachteten Leipziger Zeitung vor- behalten — ſondern ein Sprechſaal für örtliche Angelegenheiten. Da ſchütteten nachdenkliche Philiſter dem „lieben Bienchen“ und ſeinem biederen Bienenvater ihren Kummer aus über den Pennalismus der Fürſtenſchulen, über das Ungeziefer im Akademiſchen Carcer, über die gemeingefährliche Lage des Leipziger Schießgrabens, über die Möpſe der luſtwandelnden Dresdener Damen. Aber neben ſolchen läppiſchen Beſchwerden ſtanden auch ernſte Klagen des belaſteten Landvolks — zumal aus dem Schön- burgiſchen, wo der Bauer vom Getreide den Zehnten, vom Jungvieh den Siebenten an den Grafen entrichtete — und ſcharfe Rügen wider die Mißbräuche der ſtädtiſchen Verwaltung, nicht blos gegen den Bierzwang und das ſchändliche Dünnbier der Rathskeller, ſondern gegen das ganze Syſtem des unverantwortlichen Stadtregiments. Der Ton der Artikel war zuweilen recht erregt; man hörte heraus, daß der neue König nicht mehr auf unbedingte Ehrerbietung rechnen konnte. Mit Angſt blickten die Männer der guten alten Zeit auf dies ſtreitbare Thierchen, das „überall *) Eingabe von Dresdener Bürgern an den Rath, Dec. 1824.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 516. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/532>, abgerufen am 22.11.2024.