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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 7. Altständisches Stillleben in Norddeutschland.
allerdings dem Unwetter der neuen Zeit nicht Stand gehalten. Nachdem
Napoleon im Posener Frieden den Katholiken die bürgerliche Gleichberech-
tigung geschenkt, waren bald darauf die Reformirten -- nicht ohne die
landesüblichen Douceurs -- derselben Gunst theilhaftig geworden. Dann
gab der Gouverneur Repnin auch den griechischen Katholiken die Rechts-
gleichheit, und der Leipziger Judenschaft, die bisher ihre Todten hatte
nach Dessau fahren müssen, gestattete er mindestens sich einen eigenen
Friedhof anzulegen. Der russische General erschien in diesem Lande, be-
zeichnend genug, überall als ein Bahnbrecher der Reform. Dabei blieb
es freilich, daß die Juden nur in Leipzig und Dresden wohnen durften.

Die starren Formen des alten Zunftwesens wurden durch Adel und
Bürgerthum im Wetteifer behütet. Während die Städte beharrlich über
den Mitbewerb der Landkrämer klagten und das Heirathen der Gesellen
zu verhindern suchten, hielt die Ritterschaft streng darauf, daß kein Bauern-
sohn zu einem Handwerker in die Lehre ging, wenn er nicht zuvor vier
Jahre in der Landwirthschaft, zwei Jahre davon im Gesindedienste der
Gutsherrschaft, verbracht hatte. Uneheliche Kinder blieben anrüchig und
von den Zünften wie von jedem anderen ehrenhaften Erwerbe ausge-
schlossen, falls sie nicht durch den König, gegen hohe Gebühren, legitimirt
wurden.

Eine durchdachte Handelspolitik war seit dem alten Kurfürsten August
nicht mehr versucht worden. Das Mercantilsystem drang in Sachsen
niemals ein und ward auch nicht vermißt, da der kräftige heimische
Gewerbfleiß des Schutzes entrathen konnte. Die polnischen Auguste wirth-
schafteten lustig darauf los, in dem angenehmen Wahne, daß die Ver-
schwendung des Landesvaters das Geld unter die Leute bringe, und
auch als die Ordnung dann endlich wiederkehrte, blieb dies mächtige
Industrieland ohne geregelte Grenzbewachung. Seine Volkswirthschafts-
politik trachtete nur dahin, den Leipziger Messen starke Zufuhr, dem con-
sumirenden Adel wohlfeile Waaren zu verschaffen. Darum wurde die
Einfuhr durch einen sehr niedrigen Grenzzoll begünstigt, der inländische
Verkehr durch Accisen und Geleitsgelder -- in Leipzig auch noch durch
das Stapelrecht und bis 1823 durch eine lästige Thorsperre -- erschwert.
Die Verbrauchssteuern waren ungleich für Stadt und Land, die Ritter-
güter und die Geistlichen genossen mannichfache Begünstigungen. Und dies
gedankenlose fiscalische System, das für die Lebensbedürfnisse der heimi-
schen Industrie gar kein Auge hatte, pries man als die weise "sächsische
Handelsfreiheit". Als nun Preußen dicht an den Grenzen des Leipziger
Weichbildes seine Zollhäuser errichtete, die Ausfuhr nach Norden erschwert
und in manchen Industriezweigen der preußische Mitbewerb schon bemerk-
bar wurde, da fühlte man sich freilich beunruhigt. Jedoch der Zorn richtete
sich allein gegen Preußen, nicht gegen die väterliche Regierung, der man
es auch geduldig nachsah, daß sie an den schweren alten Conventions-

III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
allerdings dem Unwetter der neuen Zeit nicht Stand gehalten. Nachdem
Napoleon im Poſener Frieden den Katholiken die bürgerliche Gleichberech-
tigung geſchenkt, waren bald darauf die Reformirten — nicht ohne die
landesüblichen Douceurs — derſelben Gunſt theilhaftig geworden. Dann
gab der Gouverneur Repnin auch den griechiſchen Katholiken die Rechts-
gleichheit, und der Leipziger Judenſchaft, die bisher ihre Todten hatte
nach Deſſau fahren müſſen, geſtattete er mindeſtens ſich einen eigenen
Friedhof anzulegen. Der ruſſiſche General erſchien in dieſem Lande, be-
zeichnend genug, überall als ein Bahnbrecher der Reform. Dabei blieb
es freilich, daß die Juden nur in Leipzig und Dresden wohnen durften.

Die ſtarren Formen des alten Zunftweſens wurden durch Adel und
Bürgerthum im Wetteifer behütet. Während die Städte beharrlich über
den Mitbewerb der Landkrämer klagten und das Heirathen der Geſellen
zu verhindern ſuchten, hielt die Ritterſchaft ſtreng darauf, daß kein Bauern-
ſohn zu einem Handwerker in die Lehre ging, wenn er nicht zuvor vier
Jahre in der Landwirthſchaft, zwei Jahre davon im Geſindedienſte der
Gutsherrſchaft, verbracht hatte. Uneheliche Kinder blieben anrüchig und
von den Zünften wie von jedem anderen ehrenhaften Erwerbe ausge-
ſchloſſen, falls ſie nicht durch den König, gegen hohe Gebühren, legitimirt
wurden.

Eine durchdachte Handelspolitik war ſeit dem alten Kurfürſten Auguſt
nicht mehr verſucht worden. Das Mercantilſyſtem drang in Sachſen
niemals ein und ward auch nicht vermißt, da der kräftige heimiſche
Gewerbfleiß des Schutzes entrathen konnte. Die polniſchen Auguſte wirth-
ſchafteten luſtig darauf los, in dem angenehmen Wahne, daß die Ver-
ſchwendung des Landesvaters das Geld unter die Leute bringe, und
auch als die Ordnung dann endlich wiederkehrte, blieb dies mächtige
Induſtrieland ohne geregelte Grenzbewachung. Seine Volkswirthſchafts-
politik trachtete nur dahin, den Leipziger Meſſen ſtarke Zufuhr, dem con-
ſumirenden Adel wohlfeile Waaren zu verſchaffen. Darum wurde die
Einfuhr durch einen ſehr niedrigen Grenzzoll begünſtigt, der inländiſche
Verkehr durch Acciſen und Geleitsgelder — in Leipzig auch noch durch
das Stapelrecht und bis 1823 durch eine läſtige Thorſperre — erſchwert.
Die Verbrauchsſteuern waren ungleich für Stadt und Land, die Ritter-
güter und die Geiſtlichen genoſſen mannichfache Begünſtigungen. Und dies
gedankenloſe fiscaliſche Syſtem, das für die Lebensbedürfniſſe der heimi-
ſchen Induſtrie gar kein Auge hatte, pries man als die weiſe „ſächſiſche
Handelsfreiheit“. Als nun Preußen dicht an den Grenzen des Leipziger
Weichbildes ſeine Zollhäuſer errichtete, die Ausfuhr nach Norden erſchwert
und in manchen Induſtriezweigen der preußiſche Mitbewerb ſchon bemerk-
bar wurde, da fühlte man ſich freilich beunruhigt. Jedoch der Zorn richtete
ſich allein gegen Preußen, nicht gegen die väterliche Regierung, der man
es auch geduldig nachſah, daß ſie an den ſchweren alten Conventions-

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[510/0526] III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland. allerdings dem Unwetter der neuen Zeit nicht Stand gehalten. Nachdem Napoleon im Poſener Frieden den Katholiken die bürgerliche Gleichberech- tigung geſchenkt, waren bald darauf die Reformirten — nicht ohne die landesüblichen Douceurs — derſelben Gunſt theilhaftig geworden. Dann gab der Gouverneur Repnin auch den griechiſchen Katholiken die Rechts- gleichheit, und der Leipziger Judenſchaft, die bisher ihre Todten hatte nach Deſſau fahren müſſen, geſtattete er mindeſtens ſich einen eigenen Friedhof anzulegen. Der ruſſiſche General erſchien in dieſem Lande, be- zeichnend genug, überall als ein Bahnbrecher der Reform. Dabei blieb es freilich, daß die Juden nur in Leipzig und Dresden wohnen durften. Die ſtarren Formen des alten Zunftweſens wurden durch Adel und Bürgerthum im Wetteifer behütet. Während die Städte beharrlich über den Mitbewerb der Landkrämer klagten und das Heirathen der Geſellen zu verhindern ſuchten, hielt die Ritterſchaft ſtreng darauf, daß kein Bauern- ſohn zu einem Handwerker in die Lehre ging, wenn er nicht zuvor vier Jahre in der Landwirthſchaft, zwei Jahre davon im Geſindedienſte der Gutsherrſchaft, verbracht hatte. Uneheliche Kinder blieben anrüchig und von den Zünften wie von jedem anderen ehrenhaften Erwerbe ausge- ſchloſſen, falls ſie nicht durch den König, gegen hohe Gebühren, legitimirt wurden. Eine durchdachte Handelspolitik war ſeit dem alten Kurfürſten Auguſt nicht mehr verſucht worden. Das Mercantilſyſtem drang in Sachſen niemals ein und ward auch nicht vermißt, da der kräftige heimiſche Gewerbfleiß des Schutzes entrathen konnte. Die polniſchen Auguſte wirth- ſchafteten luſtig darauf los, in dem angenehmen Wahne, daß die Ver- ſchwendung des Landesvaters das Geld unter die Leute bringe, und auch als die Ordnung dann endlich wiederkehrte, blieb dies mächtige Induſtrieland ohne geregelte Grenzbewachung. Seine Volkswirthſchafts- politik trachtete nur dahin, den Leipziger Meſſen ſtarke Zufuhr, dem con- ſumirenden Adel wohlfeile Waaren zu verſchaffen. Darum wurde die Einfuhr durch einen ſehr niedrigen Grenzzoll begünſtigt, der inländiſche Verkehr durch Acciſen und Geleitsgelder — in Leipzig auch noch durch das Stapelrecht und bis 1823 durch eine läſtige Thorſperre — erſchwert. Die Verbrauchsſteuern waren ungleich für Stadt und Land, die Ritter- güter und die Geiſtlichen genoſſen mannichfache Begünſtigungen. Und dies gedankenloſe fiscaliſche Syſtem, das für die Lebensbedürfniſſe der heimi- ſchen Induſtrie gar kein Auge hatte, pries man als die weiſe „ſächſiſche Handelsfreiheit“. Als nun Preußen dicht an den Grenzen des Leipziger Weichbildes ſeine Zollhäuſer errichtete, die Ausfuhr nach Norden erſchwert und in manchen Induſtriezweigen der preußiſche Mitbewerb ſchon bemerk- bar wurde, da fühlte man ſich freilich beunruhigt. Jedoch der Zorn richtete ſich allein gegen Preußen, nicht gegen die väterliche Regierung, der man es auch geduldig nachſah, daß ſie an den ſchweren alten Conventions-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 510. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/526>, abgerufen am 27.05.2024.