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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Die Adelsherrschaft.
der polnischen Auguste, berechtigt von seiner Verwaltung niemals Rechen-
schaft abzulegen, und ein schwermüthiges Sprichwort sagte: wer kann wider
Gott und den Stadtrath von Leipzig? Selbst in dringender Noth wagte
die Regierung nur selten den Trotz dieser selbstherrlichen Magistrate zu
brechen; viele Jahre hindurch mußten die Bewohner der Muldeniederung
auf den Bau der unentbehrlichen Brücke warten, weil der Wurzener Stadt-
rath seine einträgliche Fähre nicht aufgeben wollte. In der Oberlausitz
wurde die Verwaltung, die bisher allein den Landständen zugestanden,
erst 1821 unter die Leitung einer königlichen Oberamtsregierung gestellt.
Nicht ohne starkes Widerstreben; denn dies kleine Land wollte noch immer
eine selbständige Markgrafschaft neben den "Erblanden" bleiben, obgleich
zwei Drittel seines Gebietes an Preußen gefallen waren, und ließ sich
das Recht nicht nehmen, den König-Markgraf nach der Thronbesteigung
an der Landesgrenze, vier Stunden von Dresden, mit seinen blaugelb-
rothen Bannern zu empfangen. Waren doch vier von den stolzen Sechs-
städten der Lausitz bei Sachsen geblieben, und darunter Bautzen, die Haupt-
stadt des streng dynastisch gesinnten Wendenvölkchens.

Dem Adel war ein Theil der Justiz- und Verwaltungsstellen gesetz-
lich vorbehalten, da die Landesregierung und das Appellationsgericht nach
altständischem Brauche noch in eine adliche und eine gelehrte Bank zer-
fielen. Der Regel nach gingen die hohen Staatswürden reihum in einem
kleinen Kreise einflußreicher Adelsfamilien, der seit der Landestheilung sich
noch mehr verengerte und Jedem im Lande wohlbekannt war. Auch in
das Adeliche Cadettencorps durfte der Bürgerliche blos als Volontär ein-
treten, nur der Besuch der Artillerieschule stand ihm frei. Dem entsprach
es auch, daß die Soldaten-Werbung hier erst im Jahre 1825 durch ein
Conscriptionssystem nach französisch-rheinbündischem Muster ersetzt wurde.
Noch länger, bis 1829, erhielten sich die alten Bräuche an der Universität,
die noch aus den vier Nationen der Meißner, Sachsen, Franken und
Polen bestand. Ihr Rector hatte Fürstenrang; ihre Beamten führten,
vom Staate unbeaufsichtigt, nach altväterischer Weise die kostspielige und
schleppende Verwaltung der großen Universitätsgüter. Ihre Gerichtsbarkeit
erstreckte sich zwar nicht mehr über alle studirten Leute, die in Leipzig
wohnten -- dies hatte ein Machtspruch Napoleon's abgeschafft -- aber
noch immer über alle Angehörigen des Corpus academicum.

Natürlich war auch der geistliche Herr in dieser Welt von Privilegien
und Sonderrechten nicht ohne Weiteres der Gerichtsbarkeit des Staates
unterworfen. Als der Pfarrer Tinius (1814) des Raubmordes bezichtigt
wurde, da mußte erst der Leipziger Schöppenstuhl durch ein vorläufiges Er-
kenntniß beschließen, daß gegen den Inculpaten mit der Inquisition zu ver-
fahren sei; dann wurde der arme Sünder in der Nicolaikirche öffentlich
seines geistlichen Gewandes entkleidet und nunmehr als ein Weltlicher dem
weltlichen Gerichte übergeben. Die alten Vorrechte der Lutheraner hatten

Die Adelsherrſchaft.
der polniſchen Auguſte, berechtigt von ſeiner Verwaltung niemals Rechen-
ſchaft abzulegen, und ein ſchwermüthiges Sprichwort ſagte: wer kann wider
Gott und den Stadtrath von Leipzig? Selbſt in dringender Noth wagte
die Regierung nur ſelten den Trotz dieſer ſelbſtherrlichen Magiſtrate zu
brechen; viele Jahre hindurch mußten die Bewohner der Muldeniederung
auf den Bau der unentbehrlichen Brücke warten, weil der Wurzener Stadt-
rath ſeine einträgliche Fähre nicht aufgeben wollte. In der Oberlauſitz
wurde die Verwaltung, die bisher allein den Landſtänden zugeſtanden,
erſt 1821 unter die Leitung einer königlichen Oberamtsregierung geſtellt.
Nicht ohne ſtarkes Widerſtreben; denn dies kleine Land wollte noch immer
eine ſelbſtändige Markgrafſchaft neben den „Erblanden“ bleiben, obgleich
zwei Drittel ſeines Gebietes an Preußen gefallen waren, und ließ ſich
das Recht nicht nehmen, den König-Markgraf nach der Thronbeſteigung
an der Landesgrenze, vier Stunden von Dresden, mit ſeinen blaugelb-
rothen Bannern zu empfangen. Waren doch vier von den ſtolzen Sechs-
ſtädten der Lauſitz bei Sachſen geblieben, und darunter Bautzen, die Haupt-
ſtadt des ſtreng dynaſtiſch geſinnten Wendenvölkchens.

Dem Adel war ein Theil der Juſtiz- und Verwaltungsſtellen geſetz-
lich vorbehalten, da die Landesregierung und das Appellationsgericht nach
altſtändiſchem Brauche noch in eine adliche und eine gelehrte Bank zer-
fielen. Der Regel nach gingen die hohen Staatswürden reihum in einem
kleinen Kreiſe einflußreicher Adelsfamilien, der ſeit der Landestheilung ſich
noch mehr verengerte und Jedem im Lande wohlbekannt war. Auch in
das Adeliche Cadettencorps durfte der Bürgerliche blos als Volontär ein-
treten, nur der Beſuch der Artillerieſchule ſtand ihm frei. Dem entſprach
es auch, daß die Soldaten-Werbung hier erſt im Jahre 1825 durch ein
Conſcriptionsſyſtem nach franzöſiſch-rheinbündiſchem Muſter erſetzt wurde.
Noch länger, bis 1829, erhielten ſich die alten Bräuche an der Univerſität,
die noch aus den vier Nationen der Meißner, Sachſen, Franken und
Polen beſtand. Ihr Rector hatte Fürſtenrang; ihre Beamten führten,
vom Staate unbeaufſichtigt, nach altväteriſcher Weiſe die koſtſpielige und
ſchleppende Verwaltung der großen Univerſitätsgüter. Ihre Gerichtsbarkeit
erſtreckte ſich zwar nicht mehr über alle ſtudirten Leute, die in Leipzig
wohnten — dies hatte ein Machtſpruch Napoleon’s abgeſchafft — aber
noch immer über alle Angehörigen des Corpus academicum.

Natürlich war auch der geiſtliche Herr in dieſer Welt von Privilegien
und Sonderrechten nicht ohne Weiteres der Gerichtsbarkeit des Staates
unterworfen. Als der Pfarrer Tinius (1814) des Raubmordes bezichtigt
wurde, da mußte erſt der Leipziger Schöppenſtuhl durch ein vorläufiges Er-
kenntniß beſchließen, daß gegen den Inculpaten mit der Inquiſition zu ver-
fahren ſei; dann wurde der arme Sünder in der Nicolaikirche öffentlich
ſeines geiſtlichen Gewandes entkleidet und nunmehr als ein Weltlicher dem
weltlichen Gerichte übergeben. Die alten Vorrechte der Lutheraner hatten

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[509/0525] Die Adelsherrſchaft. der polniſchen Auguſte, berechtigt von ſeiner Verwaltung niemals Rechen- ſchaft abzulegen, und ein ſchwermüthiges Sprichwort ſagte: wer kann wider Gott und den Stadtrath von Leipzig? Selbſt in dringender Noth wagte die Regierung nur ſelten den Trotz dieſer ſelbſtherrlichen Magiſtrate zu brechen; viele Jahre hindurch mußten die Bewohner der Muldeniederung auf den Bau der unentbehrlichen Brücke warten, weil der Wurzener Stadt- rath ſeine einträgliche Fähre nicht aufgeben wollte. In der Oberlauſitz wurde die Verwaltung, die bisher allein den Landſtänden zugeſtanden, erſt 1821 unter die Leitung einer königlichen Oberamtsregierung geſtellt. Nicht ohne ſtarkes Widerſtreben; denn dies kleine Land wollte noch immer eine ſelbſtändige Markgrafſchaft neben den „Erblanden“ bleiben, obgleich zwei Drittel ſeines Gebietes an Preußen gefallen waren, und ließ ſich das Recht nicht nehmen, den König-Markgraf nach der Thronbeſteigung an der Landesgrenze, vier Stunden von Dresden, mit ſeinen blaugelb- rothen Bannern zu empfangen. Waren doch vier von den ſtolzen Sechs- ſtädten der Lauſitz bei Sachſen geblieben, und darunter Bautzen, die Haupt- ſtadt des ſtreng dynaſtiſch geſinnten Wendenvölkchens. Dem Adel war ein Theil der Juſtiz- und Verwaltungsſtellen geſetz- lich vorbehalten, da die Landesregierung und das Appellationsgericht nach altſtändiſchem Brauche noch in eine adliche und eine gelehrte Bank zer- fielen. Der Regel nach gingen die hohen Staatswürden reihum in einem kleinen Kreiſe einflußreicher Adelsfamilien, der ſeit der Landestheilung ſich noch mehr verengerte und Jedem im Lande wohlbekannt war. Auch in das Adeliche Cadettencorps durfte der Bürgerliche blos als Volontär ein- treten, nur der Beſuch der Artillerieſchule ſtand ihm frei. Dem entſprach es auch, daß die Soldaten-Werbung hier erſt im Jahre 1825 durch ein Conſcriptionsſyſtem nach franzöſiſch-rheinbündiſchem Muſter erſetzt wurde. Noch länger, bis 1829, erhielten ſich die alten Bräuche an der Univerſität, die noch aus den vier Nationen der Meißner, Sachſen, Franken und Polen beſtand. Ihr Rector hatte Fürſtenrang; ihre Beamten führten, vom Staate unbeaufſichtigt, nach altväteriſcher Weiſe die koſtſpielige und ſchleppende Verwaltung der großen Univerſitätsgüter. Ihre Gerichtsbarkeit erſtreckte ſich zwar nicht mehr über alle ſtudirten Leute, die in Leipzig wohnten — dies hatte ein Machtſpruch Napoleon’s abgeſchafft — aber noch immer über alle Angehörigen des Corpus academicum. Natürlich war auch der geiſtliche Herr in dieſer Welt von Privilegien und Sonderrechten nicht ohne Weiteres der Gerichtsbarkeit des Staates unterworfen. Als der Pfarrer Tinius (1814) des Raubmordes bezichtigt wurde, da mußte erſt der Leipziger Schöppenſtuhl durch ein vorläufiges Er- kenntniß beſchließen, daß gegen den Inculpaten mit der Inquiſition zu ver- fahren ſei; dann wurde der arme Sünder in der Nicolaikirche öffentlich ſeines geiſtlichen Gewandes entkleidet und nunmehr als ein Weltlicher dem weltlichen Gerichte übergeben. Die alten Vorrechte der Lutheraner hatten

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 509. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/525>, abgerufen am 22.11.2024.