des Landes nach Polen hinein begann sich schon wieder zu beleben. Aber der günstige Zustand währte kaum zwei Jahre, da erfolgte ein verhäng- nißvoller Umschwung in der russischen Handelspolitik. Nachdem Czar Alexander während der letzten Zeit zwischen den Ueberlieferungen des Pro- hibitivsystems und den liberaleren Doctrinen des Petersburger Prinzen- erziehers Storch unsicher geschwankt hatte, gewann jetzt der Hesse Cancrin sein Ohr -- wieder einer aus der stolzen Reihe jener gewaltigen Deutschen, die mit ihrer organisatorischen Kraft den Bau der czarischen Selbstherr- schaft gefestigt haben, kühn, durchgreifend, zum Herrschen geboren, ganz erfüllt von dem einen Gedanken, daß "ein werdendes Land eines unab- hängigen Handelssystems bedürfe."
Mancherlei Mißhelligkeiten mit den russischen Grenzämtern zeigten den preußischen Behörden längst, daß der Wind in Petersburg umgeschlagen war. Darauf, im März 1822 erhielt König Friedrich Wilhelm ein Send- schreiben seines kaiserlichen Freundes (v. 27. Febr.), worin der Czar unter den gewohnten Zärtlichkeitsbetheuerungen erklärte, er vermöge die Ver- letzung der Interessen seiner Unterthanen nicht länger zu ertragen, eine gebieterische Nothwendigkeit zwinge ihn wesentliche Aenderungen an dem bestehenden Vertrage zu verlangen -- denn allerdings waren die Vortheile der Uebereinkunft bisher überwiegend den preußischen Fabrikanten zuge- fallen, da Rußland in diesen Jahren des deutschen Getreideüberflusses nur wenig nach Preußen ausführte. Alexander berief sich auf einen ge- heimen Artikel der Uebereinkunft, welcher vorschrieb: die beiden Regie- rungen sollten einander alljährlich ihre Beobachtungen mittheilen, um alle der Ausführung entgegentretenden Schwierigkeiten zu beseitigen und sich über etwa nöthige Aenderungen zu verständigen. Peinlich überrascht er- widerte der König: die Frage sei ebenso ernst als schwierig, einzelne Be- stimmungen ließen sich kaum ändern ohne das Ganze zu gefährden. "Die Richtung, welche der nationale Gewerbfleiß in meinen Staaten seit dem Abschlusse unseres Vertrages genommen hat, kann nicht aufgehalten wer- den ohne eine zahlreiche Klasse meiner Unterthanen ebenso grausamen als unersetzlichen Verlusten auszusetzen."*) Indeß befahl er seinen Mi- nistern, dem geheimen Artikel gemäß, über die russischen Vorschläge zu verhandeln. Er setzte dabei als selbstverständlich voraus, daß Rußland bis zu einer neuen Verständigung den bestehenden Vertrag achten werde, denn ausdrücklich hatten sich beide Kronen verpflichtet, ohne Zustimmung des anderen Theiles keine Zollerhöhung an der polnischen Grenze vor- zunehmen.
Kaum war diese Antwort abgegangen (22. März), so traf schon die erstaunliche Nachricht ein, daß der Czar durch den Ukas vom 24./12. März ein strenges Prohibitivsystem eingeführt habe, das die russischen Grenzen
*) König Friedrich Wilhelm an Kaiser Alexander, 22. März 1822.
Handelsvertrag mit Rußland.
des Landes nach Polen hinein begann ſich ſchon wieder zu beleben. Aber der günſtige Zuſtand währte kaum zwei Jahre, da erfolgte ein verhäng- nißvoller Umſchwung in der ruſſiſchen Handelspolitik. Nachdem Czar Alexander während der letzten Zeit zwiſchen den Ueberlieferungen des Pro- hibitivſyſtems und den liberaleren Doctrinen des Petersburger Prinzen- erziehers Storch unſicher geſchwankt hatte, gewann jetzt der Heſſe Cancrin ſein Ohr — wieder einer aus der ſtolzen Reihe jener gewaltigen Deutſchen, die mit ihrer organiſatoriſchen Kraft den Bau der czariſchen Selbſtherr- ſchaft gefeſtigt haben, kühn, durchgreifend, zum Herrſchen geboren, ganz erfüllt von dem einen Gedanken, daß „ein werdendes Land eines unab- hängigen Handelsſyſtems bedürfe.“
Mancherlei Mißhelligkeiten mit den ruſſiſchen Grenzämtern zeigten den preußiſchen Behörden längſt, daß der Wind in Petersburg umgeſchlagen war. Darauf, im März 1822 erhielt König Friedrich Wilhelm ein Send- ſchreiben ſeines kaiſerlichen Freundes (v. 27. Febr.), worin der Czar unter den gewohnten Zärtlichkeitsbetheuerungen erklärte, er vermöge die Ver- letzung der Intereſſen ſeiner Unterthanen nicht länger zu ertragen, eine gebieteriſche Nothwendigkeit zwinge ihn weſentliche Aenderungen an dem beſtehenden Vertrage zu verlangen — denn allerdings waren die Vortheile der Uebereinkunft bisher überwiegend den preußiſchen Fabrikanten zuge- fallen, da Rußland in dieſen Jahren des deutſchen Getreideüberfluſſes nur wenig nach Preußen ausführte. Alexander berief ſich auf einen ge- heimen Artikel der Uebereinkunft, welcher vorſchrieb: die beiden Regie- rungen ſollten einander alljährlich ihre Beobachtungen mittheilen, um alle der Ausführung entgegentretenden Schwierigkeiten zu beſeitigen und ſich über etwa nöthige Aenderungen zu verſtändigen. Peinlich überraſcht er- widerte der König: die Frage ſei ebenſo ernſt als ſchwierig, einzelne Be- ſtimmungen ließen ſich kaum ändern ohne das Ganze zu gefährden. „Die Richtung, welche der nationale Gewerbfleiß in meinen Staaten ſeit dem Abſchluſſe unſeres Vertrages genommen hat, kann nicht aufgehalten wer- den ohne eine zahlreiche Klaſſe meiner Unterthanen ebenſo grauſamen als unerſetzlichen Verluſten auszuſetzen.“*) Indeß befahl er ſeinen Mi- niſtern, dem geheimen Artikel gemäß, über die ruſſiſchen Vorſchläge zu verhandeln. Er ſetzte dabei als ſelbſtverſtändlich voraus, daß Rußland bis zu einer neuen Verſtändigung den beſtehenden Vertrag achten werde, denn ausdrücklich hatten ſich beide Kronen verpflichtet, ohne Zuſtimmung des anderen Theiles keine Zollerhöhung an der polniſchen Grenze vor- zunehmen.
Kaum war dieſe Antwort abgegangen (22. März), ſo traf ſchon die erſtaunliche Nachricht ein, daß der Czar durch den Ukas vom 24./12. März ein ſtrenges Prohibitivſyſtem eingeführt habe, das die ruſſiſchen Grenzen
*) König Friedrich Wilhelm an Kaiſer Alexander, 22. März 1822.
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Handelsvertrag mit Rußland.
des Landes nach Polen hinein begann ſich ſchon wieder zu beleben. Aber
der günſtige Zuſtand währte kaum zwei Jahre, da erfolgte ein verhäng-
nißvoller Umſchwung in der ruſſiſchen Handelspolitik. Nachdem Czar
Alexander während der letzten Zeit zwiſchen den Ueberlieferungen des Pro-
hibitivſyſtems und den liberaleren Doctrinen des Petersburger Prinzen-
erziehers Storch unſicher geſchwankt hatte, gewann jetzt der Heſſe Cancrin
ſein Ohr — wieder einer aus der ſtolzen Reihe jener gewaltigen Deutſchen,
die mit ihrer organiſatoriſchen Kraft den Bau der czariſchen Selbſtherr-
ſchaft gefeſtigt haben, kühn, durchgreifend, zum Herrſchen geboren, ganz
erfüllt von dem einen Gedanken, daß „ein werdendes Land eines unab-
hängigen Handelsſyſtems bedürfe.“
Mancherlei Mißhelligkeiten mit den ruſſiſchen Grenzämtern zeigten
den preußiſchen Behörden längſt, daß der Wind in Petersburg umgeſchlagen
war. Darauf, im März 1822 erhielt König Friedrich Wilhelm ein Send-
ſchreiben ſeines kaiſerlichen Freundes (v. 27. Febr.), worin der Czar unter
den gewohnten Zärtlichkeitsbetheuerungen erklärte, er vermöge die Ver-
letzung der Intereſſen ſeiner Unterthanen nicht länger zu ertragen, eine
gebieteriſche Nothwendigkeit zwinge ihn weſentliche Aenderungen an dem
beſtehenden Vertrage zu verlangen — denn allerdings waren die Vortheile
der Uebereinkunft bisher überwiegend den preußiſchen Fabrikanten zuge-
fallen, da Rußland in dieſen Jahren des deutſchen Getreideüberfluſſes
nur wenig nach Preußen ausführte. Alexander berief ſich auf einen ge-
heimen Artikel der Uebereinkunft, welcher vorſchrieb: die beiden Regie-
rungen ſollten einander alljährlich ihre Beobachtungen mittheilen, um alle
der Ausführung entgegentretenden Schwierigkeiten zu beſeitigen und ſich
über etwa nöthige Aenderungen zu verſtändigen. Peinlich überraſcht er-
widerte der König: die Frage ſei ebenſo ernſt als ſchwierig, einzelne Be-
ſtimmungen ließen ſich kaum ändern ohne das Ganze zu gefährden. „Die
Richtung, welche der nationale Gewerbfleiß in meinen Staaten ſeit dem
Abſchluſſe unſeres Vertrages genommen hat, kann nicht aufgehalten wer-
den ohne eine zahlreiche Klaſſe meiner Unterthanen ebenſo grauſamen
als unerſetzlichen Verluſten auszuſetzen.“ *) Indeß befahl er ſeinen Mi-
niſtern, dem geheimen Artikel gemäß, über die ruſſiſchen Vorſchläge zu
verhandeln. Er ſetzte dabei als ſelbſtverſtändlich voraus, daß Rußland
bis zu einer neuen Verſtändigung den beſtehenden Vertrag achten werde,
denn ausdrücklich hatten ſich beide Kronen verpflichtet, ohne Zuſtimmung
des anderen Theiles keine Zollerhöhung an der polniſchen Grenze vor-
zunehmen.
Kaum war dieſe Antwort abgegangen (22. März), ſo traf ſchon die
erſtaunliche Nachricht ein, daß der Czar durch den Ukas vom 24./12. März
ein ſtrenges Prohibitivſyſtem eingeführt habe, das die ruſſiſchen Grenzen
*) König Friedrich Wilhelm an Kaiſer Alexander, 22. März 1822.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 475. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/491>, abgerufen am 22.11.2024.
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